Wenn der Krieg zur "nicht enden wollenden Netflix-Serie" wird
Düstere Szenarien, die nur der Rüstungsindustrie gefallen können, sind nach dem russischen Angriff auf die Ukraine en vogue. Doch es gibt auch noch Stimmen für Verhandlungen. Zum Beispiel bei den Jusos
Das Szenario, das der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Deutschlandfunk zeichnete, ist apokalyptisch.
Er spricht davon, dass es in absehbarer Zeit in Europa keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden geben wird. Auch wenn der heiße Krieg in der Ukraine vorbei ist, wird der Konflikt mit Russland weitergehen, so Mölling. Er fasst die Situation in der Metapher zusammen: "Das europäische Haus ist angezündet".
Er fordert die Planung einer europäischen Sicherheitsordnung ohne Russland. "Mit Russland zusammen ist in absehbarer Zeit kein Frieden möglich". Er spricht von einen andauernden Konflikt und fortdauernden Angriffen.
"Wir haben es nicht mit einem klassischen Film zu tun, der in 90 Minuten vorbei sind, sondern mit einer "nicht enden wollenden Netflix-Serie". Russland habe ich selber zum Feind gemacht, so Mölling. Auf Nachfrage schließt Mölling Verhandlungen mit Russland aus, zumindest solange Wladimir Putin in Moskau regiert.
Schließlich macht Mölling sich auch Gedanken darüber, ob eine mögliche ukrainische Exilregierung ihren Sitz in Berlin haben könnte. Dabei geht der Sicherheitsexperte davon aus, ein ukrainischer Rumpfstaat mit einer prorussischen Regierung, die dann aber von den Nato-Staaten nicht anerkannt würde, bestehen bleibt. Die ukrainische Exilregierung wäre hingegen dann die legitime Regierung für Nato und EU. Ein solches Szenario würde tatsächlich dafür sorgen, dass der Konflikt in Europa "eine nicht enden wollende Netflix-Serie würde.
Wird die Ukraine das Afghanistan Europas?
Man könnte auch sagen, dass eine Afghanisierung der Ukraine einsetzen würde. Um das Land würde ein geopolitischer Machtkampf entbrennen. Dabei würde der Westen alles daran setzen, Russland dort eine Niederlage zu bereiten, durchaus auch durch die Unterstützung von bewaffneten Aktionen.
Wenn Berlin tatsächlich der Sitz einer solchen Exilregierung würde, wäre es besonders exponiert im Bestreben, den Ukraine-Konflikt zu eskalieren. Nun sind diese Szenarien noch nicht Realität, trotzdem sollten wir uns nicht selber vorlügen, so schlimm wird es schon nicht kommen. Im Konflikt um die Ukraine waren es in den letzten Wochen immer die Wort-Case-Szenarien, die sich durchgesetzt haben.
Zudem laufen im globalen Westen gerade im Eiltempo Vorbereitungen für einen solchen nicht endenden wollenden Konflikt mit Russland. An erster Stelle wäre da die radikale Kappung der recht engen Wirtschaftsbeziehungen zu.
Optimisten der realistischen Schule haben in den letzten Monaten immer die Vorhersage gewagt, es werde nicht zu einer so großen Zuspitzung des Konflikts mit Russland kommen, weil eben die wirtschaftlichen Kontakte so eng sind, dass davon beide Seiten Schaden nähmen. Einen solchen Glauben an die Dämpfung von politischen Konflikten durch Wirtschaftskontakte hatte es schon in den frühen 1930er-Jahren gegeben.
Auch damals wurde auf die schon recht engen Wirtschaftsbeziehungen verwiesen, die es den Nazis angeblich nicht erlauben würden, ihr Programm durchzusetzen. Es bekam bekanntlich anders. Dass nun auch in den letzten Tagen so viele Wirtschaftsbeziehungen mit Russland gekappt wurden, muss als Alarmsignal verstanden werden, weil hier tatsächlich Vorbereitungen für einen lang andauernden Konflikt getroffen werden.
Hier geht es um das geopolitische Ringen um zwischen unterschiedlichen kapitalistischen Zentren. Der Konflikt um die Ukraine ist eine Spielkarte in diesem Konflikt.
Antimilitarismus auf der Anklagebank
Auch der Geist der Wehrhaftigkeit, der jetzt durch die europäischen Länder zieht, muss als ein Alarmsignal betrachtet werden. Es grenzt heute fast schon an Verrat, wenn man dran erinnert, dass nicht nur Putin den Krieg mit einer Lüge begann, dass sie Nato 1999 beim Beschuss von Radiostationen in Belgrad noch robuster als die russische Armee in Kiew beim Angriff auf den Fernsehturm und mit viel mehr sogenannten Kollateralschäden vorgegangen war. Die Publizistin Charlotte Wiedermann ist eine der wenigen, die diese Kriegsstimmung kritisiert. Mit Blick auf Putin schreibt sie in der taz:
Nein, ich relativiere seine Schuld nicht; dies ist ein durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg. Aber ich finde nach wie vor, dass bei der Auflösung des Warschauer Pakts die Chance vertan wurde, gleichfalls die Nato aufzulösen. In Alternativen zu denken, nach vorne ebenso wie rückblickend, passt nicht in den neuen Sound der Wehrhaftigkeit.
Im Großen Sprechen mischen sich altbekannte rechte Schlagworte (zu viel Genderkram, Wokeness, Kirchentag) mit einer neuen unterwürfigen Kultur der Selbstbeschuldigung bei Demokraten, Grünen, Linken. Dazu das Windgebläse des medialen Überbietungswettbewerbs: Wo ist noch eine heilige Kuh aus Vorkriegszeiten, die wir schlachten können? Eine EU-Atommacht läge auf der Hand, lese ich.
Charlotte Wiedemann, taz
Die Publizistin kritisiert den Geist der Wehrhaftigkeit, der jeden kritischen Gedanken fast unter das Verdikt des Verrats stellt. Und sie betont, die Zäsur und vielbeschworene Zeitenwende tritt nicht durch Putins Krieg, sondern durch die Reaktion des globalen Westens darauf ein.
Die Verehrung des Militärischen geht einher mit dem Herbeireden einer neuen bipolaren Weltordnung. Sie ist proamerikanisch, antirussisch, antichinesisch, und alle übrigen Erdbewohner sollen sich irgendwo hinten einreihen.
In einer solchen Zeit des Krieges werden in Deutschland selbst Musiker entlassen, weil sie sich nicht von Putin distanzieren. Ein bloßes Schweigen dazu genügt in Kriegszeiten nicht mehr. In einer solchen Zeit des Krieges lobt sich der Westen als angeblicher Verteidiger der Pressefreiheit. Doch das gilt nicht für regierungsnahe russische Medien, die wurden mittlerweile fast überall in Europa verboten. Das ist dann natürlich kein Angriff auf die Pressefreiheit, sondern die "Verteidigung der Art, wie wir leben".
In einer solchen Situation ist es fast schon couragiert, wenn beispielsweise die Münchner Jusos auch heute noch Verhandlungen als Alternative zum nicht endenden Krieges in Europa fordern. Hier wird als oberstes Ziel benannt, dass die Waffen zeitnah niedergelegt werden und Russland weiter mit allen Beteiligten an den Verhandlungstisch zurückkehrt.
Das wäre das Gegenprogramm zu Möllings Dystopie vom nie enden wollenden Krieg. Wer davon profiliert, zeigt sich in diesen Tagen an den Börsen. Die Aktien der Rüstungskonzerne gehen in die Höhe. Sie wittern das große Geschäft. Es muss sich nun zeigen, ob sich die Kräfte der Vernunft zusammenfinden gegen das Szenario eines Krieges ohne absehbares Ende, hinter dem auch Kapitalkreise stehen. Der Kampf dagegen wäre eine lohnende Aufgabe.