Wenn die zweite Welle kommt ...
Seite 3: Stockholm: Anti-Körper und T-Zellen
Es gibt sehr ernstzunehmende Hinweise darauf, dass in der Region Stockholm mittlerweile 40% der Bevölkerung eine Covid-19 Infektion durchgemacht haben könnten - und außer hier in der Telepolis habe ich nirgends davon gelesen (Danke an Sebastian Rushworth und den Übersetzer Uli Martin).
Am Karolingska Institut wollten Forscher wissen, wie sich das denn nun verhält mit dem Verlauf der Krankheit und den Antikörpern (sehr erwartbares Ergebnis: Je schwerer desto mehr). Sie haben aber etwas sehr Trickreiches getan: Sie haben nicht nur auf C-Antikörper, sondern auch auf C-19-spezifische T-Zellen getestet (das sind die Immunpolizisten mit den "Erinnerungsfotos" am Revers). Und dann kam der allerschlaueste Trick: Sie haben sich Blutproben aus der Blutspendezentrale gezogen, und zwar Mitte Mai 2020. Auch 2019er Proben wurden getestet: Null C-19-spezifische Antikörper, null C-19-spezifische T-Zellen. Mai 2020: von 31 Proben hatten 9 (=27%) C-19-T-Zellen, aber nur 4 (13%) auch C-19-Antikörper. Mehr als die Hälfte derer, die ganz sicher eine Infektion hinter sich gebracht hatten, hatten keine Antikörper gebildet.
Dazu muss man ein paar Dinge klarstellen: Wer Blut spendet, unterschreibt, dass ihm keinerlei ansteckende Krankheiten bekannt sind, war also wohl symptomlos. Und, Zitat RK: "Blut spenden können Personen zwischen dem 18. und 70. Geburtstag, die gewisse gesundheitliche und gesetzlich festgelegte Kriterien erfüllen." Das ist also keine repräsentative ausgewählte Personengruppe. Unklar ist dabei, ob und in welche Richtung das Ergebnis beeinflusst wird.
Ein zweites: Es geht hier um die Stadt oder die Region Stockholm, und was die Besiedelungsdichte mit der Ausbreitung der Infektion zu tun hat, wissen wir aus New York und Madrid. Das Ergebnis lässt sich also nicht einfach auf ein ganzes, eher dünn besiedeltes Land übertragen. Klar ist auch, dass aus den 27% im Mai deutlich mehr geworden sein müssen, ich habe das über den Daumen mal auf 40% hochgerechnet.
Drittens: Als Einzelergebnis wäre die Chance auf Allgemeingültigkeit erstmal nur fifty-fity (vielleicht auch sechzig/sechzig, wie Calli mal gesagt hat ;-). Allerdings lässt sich auch eine Wahrscheinlichkeit von 95% errechnen dafür, dass mindestens ein Viertel der C-19-T-Zellenträger, also positiv, aber symptomfrei Infizierten keine Antikörper bildet. Die 95% sind die übliche Vertrauensgrenze in medizinischen Studien.
Es gesellt sich aber eine andere Studie dazu, die auf anderem Wege dasselbe Ergebnis erzielt hat:
Jenaer Corona-Studie: Hälfte der Infizierten hat keine Antikörper entwickelt
"Wir waren überrascht, dass die Hälfte der Infizierten, bei denen das Virus sechs Wochen vorher nachgewiesen worden war, keine Antikörpertiter aufwiesen, obwohl wir mit sechs verschiedenen Tests danach gesucht haben", erklärte der Leiter der Studie, Professor Matthias Pletz […]
MDR
Hat man zwei so unterschiedliche Studien an so unterschiedlichen Orten mit praktisch identischem Ergebnis, dann erhöht das die Vertrauenswürdigkeit des Resultats ganz ungemein. Die Jenaer werden jetzt auch auf C-19-T-Zellen testen, wie mir Prof. Pletz schrieb: "Die spezifischen T-Zellen werden gerade im Labor von prof. Kamradt (cc) gemessen. Funding dafür haben wir erst einmal."
Was können wir denn nun aus diesen Ergebnissen schließen, und mit welchen Zahlen müssen wir überhaupt rechnen? Ich habe dazu eine schwedische Freundin befragt, wo ich Zahlen herbekommen könnte, ihr verdanke ich den Link zu dieser aktuellen Statistik (mit Google übersetzt):
Stockholm
Diese Woche (KW 37, LB)
Krankheitsfälle / 100.000 Einwohner: 11
Krankheitsfälle: 251
Intensivfälle: 4
Verstorben: 3
Insgesamt
Krankheitsfälle / 100.000 Einwohner: 967
Krankheitsfälle: 22.979
Intensivfälle: 926
Verstorben: 2.397
Und sie schrieb dazu: "Links kannst Du die Woche einstellen und die Region. Was zuerst hochkommt ist die Info, dass 3900 Proben zu ungenau positiv ausfielen, obgleich die Viruszahl vermutlich zu gering war. […] Laut Nachrichten hier vermuten sie auch, dass die Zahl derjenigen, die mehr oder weniger immun sind in Stockholm bei 40% liegt bzw. bereits drüber, hab ich irgendwo gehört." Da sind sie ja, meine 40% ;-)
Aus den Krankheitsfällen / 100.000 EW (926) und den gesamten (22.979) ergibt sich eine Zahl von 2.376.318 Einwohnern, das ist die Region Stockholm. Nehmen wir hier 40% Immunisierte an (950.527), dann ergäbe sich eine IFR (Infizierten-Todesfallrate) von 0,25%, und das wäre tatsächlich mal eine sehr gute Nachricht. Denn aus den o.a. "offiziellen" Zahlen (Krankheitsfälle: 22.979, Verstorbene: 2.397) würde sich ja eine CFR (Fall-Todes-Rate) von über 10% ergeben. Aber die Schweden haben schon immer viel zu wenig getestet, und dabei kommen dann solche Horrorzahlen heraus.
Wenn allerdings Stockholm schon Mitte Mai 27% Infizierte gehabt haben soll, und der erste Fall am 25. Februar verortet wurde, dann muss man die Ausbreitungsrate von anfänglich R=3 wohl nach oben korrigieren: Mit (weniger als) 12 Wochen bekommen wir mit R=3: 1/3/9/27/81/243/729/2187/6561/19.683/59.049/177.147 und das wäre nur ein Bruchteil der oben geschätzten Zahl von 950.000 Infizierten - und überdies fehlt die dazugehörige Abschwächung durch schon Immunisierte.
Mit R=4 werden es 4 Millionen ohne die Abschwächung von R durch die schon Immunisierten. Unter Berücksichtigung der Abschwächung kommt man leicht auf die 950.000. Aber aus R=4 zu Beginn ergibt sich dann eben auch eine Herdenimmunitätsgrenze von jetzt 75%, nicht mehr nur 66% (Hi = 1-1/R).
Und wenn wir nicht annehmen, dass die IFR durch verschärfte Ausbreitung in Seniorenkreisen hochgetrieben wurde, sondern die Infektion schon die ganze Zeit auch ganz besonders durch die junge Bevölkerung "gerast" ist (danke dafür, Franziska ;-), aber zumeist eben "still", dann bleibt es dabei, dass bei einer für eine Herdenimmunität nötigen Fast-Verdoppelung nochmals etliche Menschen sterben müssen. Wie viele? Mal sehen.
Schweden hat laut obiger Tabelle eine Übersterblichkeit von 0,0325% pro Halbjahr gezeigt und zählt 5.800 Tote. 41% davon laut obiger Zahl in der Region Stockholm, die aber nur 23% der Einwohner aufweist. Die 5.800 Toten in ganz Schweden stehen also bei einer Immunitätsrate von 40% für eine Bevölkerung von ca. 5,6 Mio Einwohnern. Hochgerechnet auf 10 Mio und knapp verdoppelt (40%=>75%) müssten wir - ohne Impfstoff - mit ca. 19.000 Exzess-Toten in Schweden rechnen. In einem Land, dem schon 273 Verkehrstote pro Jahr so viel zu viel sind, dass ernsthaft über eine Herabsetzung der ohnehin schon geringen Höchstgeschwindigkeit gestritten wird.
Gälte diese Zahl (also die "echte" IFR) auch bei uns, würde es also 150.000 "fatalities" fordern, bis Herdenimmunität erreicht ist. Auch hier: ohne Impfstoff. Zum Vergleich: So viele Menschen sterben bei uns "normalerweise" in zwei Monaten, allerdings hier dann zusätzlich. Auf genau nur ein Jahr gerechnet: 15% mehr. Anstelle von 100 Toten fünfzehn mehr: 115. Das mag jeder einordnen, wie er will. Wenn es dann die eigene geliebte Oma ist, die es erwischt, wird man das anders bewerten, als wenn es den verhassten Erbonkel trifft. Und wenn man wegen Asthma o.ä. selbst zur Risikogruppe gehört, wohl nochmal anders. Nicht berücksichtigt hierbei: verbesserte Behandlungsmethoden, z.B. mit Dexamethason. Auch nicht dabei: Durch Maskentragen viele milde Infektionen mit geringer Virenlast, die aber trotzdem zu einer Immunisierung führen.
An die eigene Nase fassen
Ende März habe ich auf Basis der damals bekannten Zahlen für Bergamo (120.000 EW) eine Statistik erstellt. Zitat:
Selbst bei einer hohen Letalität von 3,7% (wie in Hubei) aufgrund der Überlastung des Gesundheitssystems müssen sich bis heute 30% der Bevölkerung infiziert haben, zur Peak-Zeit am 5. März knapp 1.500 pro Tag, denn anders kann man die gemeldeten Totenzahlen nicht reproduzieren. "Täglich kommen mehr als hundert weitere Covid-19-Patienten in die Notaufnahme" hieß es am 27.3. im SPIEGEL - bei ~10% schweren Verläufen passt das, mit einem Verzögerungseffekt von 10-14 Tagen von der Infektion bis zur Atemnot, ganz gut zu diesem Bericht aus letzter Woche.
Insgesamt wären jetzt schon ca. 36.000 EW infiziert statt der in der vorvergangenen Woche gemeldeten 5.200, eine Dunkelziffer von Faktor 7 (700%). Geht man von nur 2,5% Lethalität aus (Tab Bergamo-2), müssten bei den ähnlich vielen Todesfällen ca. 45% infiziert sein (55.000 EW) mit einem Peak von 2155 am 6. März und einer Dunkelziffer über 12, das ist nicht plausibel.
Den letzten Satz würde ich gerne zurücknehmen ;-) - wenigstens habe ich schon damals 7x mehr Infizierte angenommen, annehmen müssen, als gemeldet waren. Und bis heute ist nicht ganz klar, wie eine IFR von 0,25% da hinein passen soll. Mittlerweile geht man von 35% bis knapp 60% Infizierten in Bergamo aus. Bei einer IFR von 0,25 wären aber dort dann maximal 200 Menschen an Corona gestorben - und es waren weit mehr.
Die Wahrhheit wird vermutlich irgendwo in der Mitte liegen und wir müssen auch annehmen, dass die IFR von Land zu Land und Region zu Region unterschiedlich ausfällt. Das hat Gründe, aber davon später.
Randbemerkung: Unter diesem Problem, dass nämlich eine IFR nicht genau bestimmbar ist, dazu noch unter differierenden Umständen (Wetter, Besiedelungsdichte, Immunstatus der Bevölkerung, Hautfarbe, geografische Breite etc.) höchst volatil, müssen alle mathematische Modellierungen leiden, auch sehr viel anspruchsvollere als meine eher handgestrickte, also auch so komplexe, wie sie im Telepolis-Artikel von Mohr und Püschel aufgeführt sind. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, nur als Hinweis darauf, wo Modellierungen und die Algorithmen, auf denen sie beruhen, ihre natürlichen Grenzen haben.