Wer braucht eigentlich noch Attac?
Seite 2: Rückbesinnung auf die Grundlagen der Vereinten Nationen
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Wie man es also auch dreht und wendet: Die Aufgabe besteht heute mehr denn je darin, die neoliberale Epoche der Globalisierung zu überwinden, sie abzuwickeln und insofern zum Status quo ante zurückzukehren.
Letztlich gilt es, den Neoliberalismus in ähnlicher Weise zu ächten, wie dies im Rahmen der Vereinten Nationen in Bezug auf Nationalsozialismus und Sozialdarwinismus, Rassismus, Kolonialismus und die Apartheid geschehen ist.
Gegen all diese, den Menschen szientistisch und technisch verobjektivierenden Ideologien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschenwürde bzw. deren Ausbuchstabierung in den Menschenrechtspakten juristisch-normativ an die Spitze gesetzt – und zwar durchaus gegen die westlichen Kolonialmächte: Vorkämpferinnen waren damals Lateinamerika und Indien sowie die jüdischen Organisationen und New-Deal-US-Präsident Roosevelt bzw. seiner Witwe (vgl. Nida-Rümelin 2015, S. 254 f.).
Genau dieselbe Installierung der Menschenwürde als oberstes Prinzip brauchen wir heute erneut, nunmehr gegen den Neoliberalismus, zumal es teils immer noch um dieselbe Geschichte geht:
Der offene Kolonialismus war letztlich nicht haltbar und wurde spätestens durch "1968" endgültig delegitimiert (Geulen 2021, S. 108), doch wurde sein Erbe in der Weltwirtschafts- und Handelsordnung bekanntlich auf vielfältige Weise bewahrt – bis hin zum heutigen "Lieferkettenkapitalismus" (Danielsen 2018), in dem Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten nach der relativen Position innerhalb eben der globalen Liefer- bzw. Wertschöpfungsketten verteilt werden.
Aber auch wenn wir heute das Thema Ökologie hinzunehmen, läuft es wieder auf die Menschenwürde als oberstes Prinzip hinaus. Zum einen nämlich gilt es zu verhindern, dass die alten szientistischen Verobjektivierungen im ökologischen Gewand wiederkehren – dass also etwa der Tötung von Menschen zur Entlastung des Planeten das Wort geredet wird.
Und zum anderen dürften auch die Abermillionen zu erwartender Opfer einer unzureichenden Klimapolitik eines der stärksten Argumente sein, damit endlich ernst zu machen.
Im Ergebnis befinden wir uns somit in einer gleichwertigen Situation wie am Ende des Zweiten Weltkriegs – und die globalisierungskritische Bewegung sollte dies breit ins Bewusstsein rufen.
Schafft es die Menschheit nicht, den Neoliberalismus zu überwinden, seine bereits erfolgte Konstitutionalisierung also wieder abzuwickeln und die Menschenwürde wieder zum Leitbild zu machen sowie die internationale Zusammenarbeit nicht an einer fixen Marktutopie, sondern an den tatsächlichen Menschheitsproblemen auszurichten, drohen Katastrophen eines Ausmaßes, das selbst die gut 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, die Anlass zur Gründung der Vereinten Nationen gaben, noch weit übertreffen könnte.
Wie die Abwicklung der neoliberalen Globalisierung gelingen kann
Doch es geht nicht nur um das richtige Narrativ, sondern auch um das Recht.
Kein Kapitalismus ohne Recht(e) – das ist eine alte, kapitalismuskritische Einsicht (vgl. Offe 1975, 9 ff.), die durch Pistor (2020) wieder ins Gedächtnis gerufen und eindrucksvoll untermauert wurde (vgl. Köller 2021).
Aber es gilt auch: Keine Menschenwürde, kein sozialer Fortschritt ohne Recht(e).
Da das Recht zugleich Ergebnis politischer Prozesse ist, kann es nicht verwundern, dass es heute vielfach dem Kapitalismus dient. Schließlich bezweckt die neoliberale Konstitutionalisierung ja gerade, das Recht (und die hinter diesem stehende Staatsgewalt) möglichst weitgehend in den Dienst der Durchsetzung privater Profitinteressen zu stellen (eben über die Installierung völkerrechtlicher Verträge, die faktisch wie eine übergeordnete Verfassung wirken).
Doch angesichts des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust und der daraus nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Konsequenzen ist auch die Gegenseite nicht wehrlos: Nicht nur stellt das deutsche Grundgesetz die gesamte Rechtsordnung vorbehaltlos unter das Primat der Menschenwürde. Auch für das Völkerrecht gilt spätestens seit Gründung der Vereinten Nationen Ähnliches – nur muss es endlich gegen den neoliberalen Konstitutionalismus eingeklagt und wirksam gemacht werden.
Doch, klar: Zwei Jurist:innen, drei Meinungen. Deshalb kommt es darauf an, nicht nur positivistisch zu argumentieren – also gestützt auf die geltenden Normen, die dann aber ohnehin ausgelegt werden können und gegen andere Normen abzuwägen sind –, sondern auch schlicht auf der Bindung des Rechts an die Menschenrechte bzw. letztlich die Menschenwürde zu bestehen:
Jenseits aller juristischen Detailfragen ist einfach zu verlangen, dass das Recht einschließlich des Völkerrechts gefälligst den Menschenrechten und in diesem Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zur Lösung der Menschheitsprobleme zu dienen habe.
Freilich: Ein vielversprechender Ansatzpunkt für die Abwicklung des Neoliberalismus dürfte sich erst ergeben, wenn man beide Perspektiven verbindet, was aber unter Berufung auf das zwingende Völkerrecht, das sogenannte ius cogens, möglich erscheint (vgl. Köller 2022).
Zu diesem ius cogens gehören die grundlegendsten Normen des Völkerrechts – so etwas wie das Verbot des Angriffskriegs, aber eben auch die grundlegenden Menschenrechte –; und dass seine Normen zwingend sind, bedeutet, dass zwischen einzelnen Staaten geschlossene völkerrechtliche Verträge ihm gehorchen müssen.
Das ius cogens ist also eine Art globalen Verfassungsrechts, und tatsächlich kann der Internationale Gerichtshof dagegen verstoßende völkerrechtliche Verträge für nichtig erklären (vgl. Art. 53, 64 ff. der Wiener Völkerrechtskonvention).
Man ahnt es: Ebendieses Schicksal sollte allen neoliberalen Abkommen blühen, sofern sie mit dem Primat der Menschenwürde und grundlegenden Umweltabkommen wie dem Pariser Klimaabkommen nicht vereinbar sind.
Juristisch gesehen ist dieser Ansatz zur Abwicklung der neoliberalen Konstitutionalisierung allemal tragfähig. Doch tatsächlich wirksam wird er nur im Rahmen eines großen Aufbruchs werden können – eines Aufbruchs, im Zuge dessen sich die Menschheit bewusst wird, dass sie wie nach dem Zweiten Weltkrieg, und im Angesicht drohender Katastrophen ähnlichen Ausmaßes wie damals, wiederum zusammenfinden und auf der Grundlage der gleichen Rechte aller Menschen ihre gemeinsamen Probleme lösen muss.
Wozu also noch Attac?
Attac verdankt seine Gründung der elektrisierenden Wirkung eines Aufsatzes, der die Einführung einer internationalen Transaktionssteuer zu einer Zeit forderte, als die neoliberalen Heilsversprechen noch sakrosankt waren (vgl. Ramonet 1997).
Heute muss sich das Netzwerk entscheiden: Will es den nächsten Stein ins Wasser werfen oder sieht es seine Zukunft im antikapitalistischen Sandkasten?
Transparenzhinweis
Der Autor war bis Anfang dieses Jahres selbst bei Attac aktiv und hat in diesem Zusammenhang auch an der hier geschilderten Debatte teilgenommen.
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