Wer braucht eigentlich noch Attac?

An diesem Wochenende berät das globalisierungskritische Netzwerk über ein neues Selbstverständnis. Tendenz zu allgemeiner Kapitalismuskritik statt Kritik der neoliberalen Globalisierung. Welche Gefahren diese Debatte birgt.

Es ist sicher nicht verkehrt, gelegentlich die eigenen Ziele und Orientierungen nachzudenken. Sind diese noch aktuell? Müssen sie angepasst werden?

Auch das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat sich – gut zwanzig Jahre nach seiner Gründung – auf diesen Weg gemacht, auf dem es sich nun aber leider zu verirren droht: Statt einer ernsthaften Überprüfung dessen, was man sich seinerzeit auf die Fahnen geschrieben hat und wofür man nach wie vor steht – nämlich die "Kritik der neoliberalen Globalisierung" – schwebt vielen die Auflösung dieses analytischen und konzeptionellen Kerns in einer schwammigen, vagen, substanzlosen, allgemeinen Wir-sind ja-so-hip-und-jung-und-radikal-Kaptalismuskritik vor.

Kritik neoliberaler Globalisierung als zeitkonforme Kapitalismuskritik

Nichts gegen Kapitalismuskritik. Ungeachtet des weltanschaulichen Pluralismus, zu dem sich Attac in der ersten von acht Thesen zum Selbstverständnis bekannt hat, steht es doch nicht zuletzt auch in der Tradition von "1968".

Doch dagegen ist umso weniger zu sagen, als sich diese kapitalismuskritische Bewegung ihrerseits bereits in den 1970er-Jahren weiterentwickelt und die eigenen Vereinfachungen überwunden hat. Die Frauenbewegung oder die Umweltbewegung, die ebenfalls daraus hervorgegangen sind, haben gerade nicht alles nur allgemein auf "den Kapitalismus" zurückgeführt (Stichworte: "Haupt-" und "Nebenwiderspruch"), sondern gerade auch auf die ältere Problematik der patriarchalen Strukturen bzw. die allgemeinere Problematik der Naturausbeutung in der Industriegesellschaft (also auch im damaligen, sogenannten real existierenden Sozialismus) hingewiesen.

Zudem – und das ist in Bezug auf Attac noch wichtiger: Auch der Kapitalismus hat sich weiterentwickelt; denn er hat sich neoliberal radikalisiert, außerdem globalisiert und auf dieser globalen sowie teilweise auch auf der europäischen Ebene etabliert.

Tatsächlich nämlich war der Kapitalismus nach 1945 zunächst durchaus stark eingehegt, durch progressive Besteuerung bis zu 90 Prozent des Einkommens, Sozialstaat, öffentliche Daseinsvorsorge, aber auch Kapitalkontrollen, feste Wechselkurse usw. (vgl. Piketty 2022).

Erst der Neoliberalismus hat all das wieder einkassiert, und zwar nicht nur im jeweiligen nationalen Rahmen, sondern international koordiniert und mittels internationaler Freihandels- und Investitionsschutzverträge (konkret der WTO-Verträge, heute von Ceta und Co.), die nun wie eine übergeordnete Verfassungsordnung den demokratischen Handlungsspielraum einschränken.

Dies gelingt auch, weil sie – nicht zuletzt im Vergleich zu den Menschenrechtspakten oder dem Pariser Klimaabkommen – starke Durchsetzungsmechanismen enthalten, die es deutlich erschweren, sich national einfach über sie hinwegzusetzen.

Voilà, das ist sie, die "neoliberale Globalisierung". Hat sich Kritik an ihr aber erledigt?

Sicher nicht, denn auch wenn die Götterdämmerung tatsächlich längst eingesetzt hat und der Neoliberalismus ideologisch heute vielfach angezählt ist: Vierzig Jahre neoliberaler Konstitutionalisierung haben der Welt doch ihren Stempel aufgedrückt.

Zudem ist man speziell in Europa noch immer wild entschlossen, mit den zahlreichen EU-Handelsverträgen à la Ceta erst noch mal so richtig loszulegen, damit die neoliberale Konstitutionalisierung auch wirklich von niemand mehr rückgängig gemacht werden kann.

Geändert hat sich bislang insofern vor allem, als die verheerenden Folgen des wildgewordenen neoliberalen und globalisierten Kapitalismus immer offensichtlicher werden:

Die "planetaren Grenzen" (Meadows et al. 1972; Raworth 2020) sind längst in Sichtweite, extreme Wetterlagen machen es auf der ganzen Welt, selbst in Deutschland, zunehmend ungemütlich.

Und es kann hierzulande auch niemand mehr darüber hinwegsehen, dass der eigene wirtschaftliche Erfolg bis dato bislang wesentlich auch auf allzu billigem Öl und generell allzu billigen Rohstoffen sowie Vorprodukten beruht hat, deren Produktion systematisch mit Menschenrechtsverletzungen und ökologischen Verheerungen verbunden ist.

Kein Fortschritt ohne Abwicklung der neoliberalen Globalisierung

Warum aber sollte es dann sinnvoll sein, die grundlegende "Kritik der neoliberalen Globalisierung" nun zu einer generellen "Kapitalismuskritik" erweitern zu wollen?

Die Idee derjenigen, die dies vertreten, dürfte sein, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften und vom Neoliberalismus (der neoliberalen Globalisierung) wieder einkassierten Relativierungen des Kapitalismus viel zu wenig antikapitalistisch gewesen seien.

"Es geht nicht um ein Zurück in die Vergangenheit", höre ich immer wieder, sondern "um etwas Neues". Und: "Indem wir nicht nur die neoliberale Globalisierung, sondern den Kapitalismus allgemein kritisieren, wenden wir uns dem eigentlichen, tiefer liegenden Problem zu."

Mag sein. Aber erstens kann niemand behaupten, sie oder er kenne das Ziel. Sofern man selbst die am weitesten reichenden sozialdemokratischen Erfahrungen wie Schweden in den 1970er- und 1980er-Jahren (vgl. Meidner/Hedborg 1984) nicht gelten lässt, gibt es praktisch keine historischen Vorbilder für nicht-kapitalistische und zugleich menschenwürdige und demokratische, geschweige denn ökologische Gesellschaften.

Auch deshalb wäre durchaus erst einmal zu klären, was genau man, jenseits der "neoliberalen Globalisierung", eigentlich unter "kapitalistisch" verstehen will: dass es privates Eigentum an Produktionsmitteln gibt? Oder überhaupt Privateigentum? Und: Welche Rolle spielten dann Demokratie und persönliche Autonomie?

Zweitens: Niemand kann behaupten, es gebe einen Weg zum wie auch immer genau ausbuchstabierten Ziel, der nicht wieder über die Kritik der neoliberalen Globalisierung führte – über deren Rückabwicklung und insofern über die Wiederherstellung des nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten vorherigen globalen Systems der sozialdemokratischen Epoche.

Zum einen nämlich muss das vom Neoliberalismus geschaffene enge kapitalistische Korsett ja überhaupt erst einmal wieder gelockert und beseitigt werden. Und zum anderen sähe selbst ein perfekter, demokratischer Weltstaat am Ende nicht viel anders aus als die "internationale Zusammenarbeit" im Rahmen der UNO.

Schließlich regelte ein solcher demokratischer Weltstaat per definitionem genau das, was im Interesse der Lösung der die ganze Menschheit betreffenden Probleme global geregelt werden müsste; und das ist umgekehrt exakt, worauf sich die heutigen Staaten auch ohne Global Governance meist doch einigen können, sofern die neoliberale Ordnung dem nicht entgegensteht.

Zudem wäre es im Moment ohnehin noch völlig unmöglich, freie, gleiche, geheime, allgemeine und unmittelbare Wahlen zu einem Weltparlament zu organisieren und zu garantieren, so dass – zusätzlich zu den Aktivitäten der globalen Zivilgesellschaft – auch Verhandlungen zwischen den wenigstens teilweise demokratisch gewählten Regierungen absehbar noch eine wichtige Rolle zu spielen würden.

Doch bei Attac will man es in diesen Tagen so genau offenbar gar nicht wissen. Man will jetzt einfach den Kapitalismus überhaupt kritisieren, und auf keinen Fall einfach zurück zu irgendeinem alten System. Ja, manche scheinen die Frage der Überwindung des Kapitalismus – oder auch der sozial-ökologischen Transformation usw. – völlig losgelöst von der globalen Dimension zu diskutieren, als gäbe es das globale, neoliberale Korsett überhaupt nicht.

Das hat nicht nur rein gar nichts mit zeitgemäßer Kapitalismuskritik mehr zu tun. Es wird hier offenbar auch jene vom Neoliberalismus abgelöste sozialdemokratische Epoche ganz selbstverständlich vorausgesetzt, zu der man andererseits auf keinen Fall zurückkehren möchte.

Und tatsächlich ist sie natürlich auch der notwendige Ausgangspunkt: der Rahmen, in dem man versuchen kann, demokratische Mehrheiten für weitergehende Überwindungen der kapitalistischen Logik zu gewinnen, sofern diese denn sinnvoll erscheinen.

Und was ist mit der ökologischen Krise? Ich kenne das Argument: Umweltzerstörung habe es doch auch vor der neoliberalen Epoche, in der eher sozialdemokratisch orientierten Nachkriegszeit gegeben. Sie sei dem Kapitalismus als solchem eingeschrieben, seinem Wachstumszwang, also müsse man den Kapitalismus ganz allgemein kritisieren.

Ja, alles richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass einerseits auch die nichtkapitalistischen Industriegesellschaften des früheren Ostblocks gigantische Umweltzerstörungen angerichtet haben. Und vor allem: dass die sozialdemokratische Epoche prinzipiell lernfähig war.

Sie war eben anders als der Neoliberalismus nicht auf die bedingungslose Akzeptanz der kapitalistischen Logik festgelegt, sondern bereit, diese nötigenfalls zu korrigieren oder in bestimmten Bereichen ganz auszusetzen. Insofern ist sie als Form genauso alternativlos wie die Einsicht, dass man inhaltlich (umweltpolitisch) weiter als damals gehen müsse. Aber nur in jener Form kann man das eben auch.

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