Wer hat die Deutungshoheit?
Neues Telepolis-eBook über den Konflikt zwischen großen Medien und Rezipienten über den Ukraine-Konflikt
Die Berichterstattung zur Krise in der Ukraine und über Russland haben zu einem offenen Schlagabtausch zwischen den etablierten Medien und einem nicht unerheblichen Teil ihrer Rezipienten geführt.
In den Foren der großen Online-Medien hagelt es Tag für Tag Kritik an den gebotenen Deutungsnarrativen der Leitartikler und Meinungsmacher. Nachrichten sollen manipuliert worden sein, von Zensur ist die Rede, ja, ein Teil der Mediennutzer ist davon überzeugt, dass die "vierte Gewalt" bewusst einseitig berichtet.
Gerade haben 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien einen eindringlichen Appell an die Bundesregierung, die Abgeordneten des Bundestages und an die Medien gerichtet. Die Unterzeichner gehen davon aus, dass Nordamerika, die Europäische Union und Russland auf einen Krieg zutreiben, wenn "sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten". Die Medien werden Medien zur vorurteilsfreien Berichterstattung aufgerufen (Große Gefahr für den Kontinent: Prominentenappell gegen Krieg).
Zuvor hatte bereits Außenminister Steinmeier von einer "Glaubwürdigkeitskrise" der Medien gesprochen. "Vielleicht waren sich die Journalisten einfach ihres Deutungsmonopols zu sicher", überlegt Steinmeier. "Vielleicht haben sie ihr Herrschaftswissen zu lange vor sich hergetragen und nicht gemerkt, welche neue Form von Öffentlichkeit das Internet entstehen ließ." Und er sieht auch einen Konformitätsdruck der Journalisten, den er aber nicht weiter erklärt:
Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.
Der Leipziger Journalismusforscher Uwe Krüger hat in der Studie "Meinungsmacht" den Konformitätsdruck zum Thema gemacht. Er ist den Verflechtungen zwischen Journalisten, Politik und Wirtschaft nachgegangen und versuchte Antworten auf die Frage zu finden, ob diese Verbindungen nicht auch zu einem Verlust von Distanz und Unabhängigkeit auf Seiten der Medienvertreter führen. Die Macher der ZDF Satire-Sendung Die Anstalt haben das Thema der Studie aufgegriffen und damit Millionen Zuschauern vor Auge geführt, wie gut vernetzt deutsche Top-Journalisten auch im elitären Kosmos von Think Tanks sind. Kurz um: Eine Medienkritik ist entstanden, die eine ganz eigene Dynamik hat und von der noch nicht abzusehen ist, wie sie sich weiterentwickeln wird.
Diese Medienskepsis, wie sie sich vor allem im Internet äußert, kennzeichnet sich durch eine Mischung an berechtigten Vorwürfen, durchdachten Analysen, meinungsstarken Äußerungen, aber auch durch pauschale Verurteilungen von Journalisten und Medien.
Die Legitimationsstrategien, mit denen die Medien der Kritik entgegentreten, sind leicht auszumachen: Den Rezipienten, die Kritik üben, wird oft pauschal unterstellt, nicht in der Lage zu sein, die komplexe Realität der gegenwärtigen politischen Krisenherde zu durchschauen. Vertreter der traditionellen Medien brandmarken die Kritiker als "Putinversteher" und stempeln sie allzu oft allgemein als Verschwörungstheoretiker ab. In aller Deutlichkeit geben meinungsführende Journalisten zu verstehen, dass sie das Monopol auf die legitime Deutung der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit innehaben, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal sinngemäß in seinen Analysen des journalistischen Felds ausgedrückt hat.
Letztlich, und das ist für jeden, der die gegenwärtige Medienkritik verfolgt, sichtbar, geht es bei dem Konflikt zwischen den traditionellen Medien und ihren Rezipienten um eine grundsätzliche Frage: Wer sind die legitimen Deuter "der Wirklichkeit"? Wer hat das Recht, in der Gesellschaft, Informationen von gesellschaftlicher und politischer Tragweite herauszufiltern, aufzubereiten, zu analysieren, zu kommentieren und schließlich: zu bewerten? Sind es noch immer die Vertreter der großen Medien im Verbund mit den legitimen Sprechern aus dem universitären und politischen Feld, die darüber bestimmen, welcher Blick auf "die Verhältnisse" veranschlagt werden darf? Oder haben auch all jene Bürger, die das Internet als Instrument der Recherche und als Publikationsmedium mit seinen "alternativen Formaten" nutzen, ein Anrecht darauf, ihre Sicht, ihre Meinung und ihre Analysen zu verbreiten und sich so am meinungspolitischen Diskurs zu beteiligen? Der Konflikt zwischen den traditionellen Medien und ihren Rezipienten, das ist festzustellen, ist vor allem ein Kampf um die Deutungshoheit.
Dass die "Mainstreammedien", wie die großen Medien von ihren Kritikern oft bezeichnet werden, diesen Konflikt mit heraufbeschworen haben, lässt sich gut an den Beiträgen, die in diesem Buch zusammengestellt sind, ablesen. In den Interviews, Artikeln und Analysen von Telepolis-Autoren wird deutlich, dass es Problemzonen aufseiten der Medien gibt, die schon lange ersichtlich sind. Telepolis hat sich zur Veröffentlichung dieses Buches entschlossen, weil die Redaktion davon überzeugt ist, dass die zusammengestellten Beiträge in ihrer Gesamtheit ein eigenes Bild abliefern, das aufzeigt, was die Gründe für die massive Kritik an den Medien sind.
Der gesamten Debatte um die Medien ist zu wünschen, dass sie weniger aufgeregt geführt wird. Kritische und zugleich nüchterne Analysen sind gefragt, die sich mit der aufgeworfenen Kritik auseinandersetzen. Die traditionellen Medien, aber auch das Internet, sind für eine demokratische Gesellschaft von zu großer Bedeutung, als das sie gegeneinander ausgespielt werden sollten. Die alternativen Publikationsformate im Internet verfügen nicht über die Strukturen und Ressourcen, über die große Medienhäuser verfügen. Diese sind aber für eine umfassende journalistische Berichterstattung dringend notwendig. Dafür bietet das Internet durch seine Offenheit eine enorm breit gefächerte Auswahl an Meinungen und Analysen zu den gesellschaftspolitischen Verwerfungen unserer Zeit, die in der Vielfalt nicht in den großen Medien gefunden werden. Die destruktive Spaltung zwischen den "Mainstreammedien" und einem Teil ihrer Rezipienten, die bei ihrer Kritik auch immer wieder auf die Vorzüge, die das Internet bietet, verweisen, muss dringend überwunden werden.
Das Schließen von Leserforen, so wie es gerade die Süddeutsche Zeitung getan hat, ist ein Weg in die falsche Richtung. Die Rezipienten - und das ist doch im Grunde genommen eine gute Nachricht - suchen den Dialog mit den traditionellen Medien. Die Vielzahl an Kommentaren, die unter den online veröffentlichten Artikel dieser Medien zu finden sind, zeigen unmissverständlich auf: Mediennutzer lesen Artikel, Kommentare und Analysen aufmerksam. Sie beteiligen sich an einer Diskussion, sie üben Kritik, sie tadeln, aber sie loben auch, wo es aus ihrer Sicht angebracht ist. Der Graben, der derzeit Medien und ihre Nutzer trennt, kann nur überwunden werden, wenn man die Rezipienten nicht verstößt und ihre Kritik ernst nimmt.
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