Wer ist Wladimir Putin?

Wladimir Putin 2007, Bild: Kremlin.ru / CC-BY-4.0 / Grafik: TP

Person, Motive, Ziele – Versuch einer mehrperspektivischen Annäherung (Teil 1)

Putins Geschichten

Im Aufgang hausten Ratten. Meine Freunde und ich jagten sie immer mit Stöcken. Einmal entdeckte ich eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte. Nun konnte sie nicht mehr entkommen. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich!

Diese Geschichte aus seiner Kindheit erzählt Wladimir Putin in Interviews1, in denen russische Journalisten ihn zu Beginn seines Aufstiegs über sein Leben befragten.

Schlussfolgerung für Putin aus diesem Erlebnis war:

Man sollte nie jemanden in die Enge treiben.

Putin hat die Geschichte mehrfach erzählt. Wir können annehmen, dass sie für ihn prägend war und dass er damit etwas über sich mitteilen wollte.

Möglicherweise ist das eine Warnung an persönliche und politische Gegner. In der Tat betrachtet Putin den geschehenen oder beabsichtigten Eintritt der benachbarten ehemaligen Staaten der Sowjetunion als bedrohliche Einkreisung der verbliebenen Russischen Föderation. Sein Angriff auf die Ukraine bezeichnet er als "Selbstverteidigung".

Für unser Land geht es hierbei um Leben oder Tod.

Rede 24.02.22

Entsprechend der Lehre der Ratten-Fabel hätte er damit rechnen müssen, dass er die ukrainische Regierung und die Ukrainer in die Enge und zur Gegenwehr treibt. Er hat sich wohl darin getäuscht, dass die "von außen kontrollierte", von "Nazis" regierte, "misshandelte" und vom "Genozid" bedrohte ukrainische Bevölkerung nur auf Befreiung warte:

Denn diese Menschen können leider nur auf uns hoffen.

Rede 24.02.22

Die Ratten-Geschichte muss durch andere Erzählungen Putins ergänzt werden. Putin ist in Leningrad/Sankt Petersburg unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater war in einer Fabrik, seine Mutter als Hausmeisterin beschäftigt. Die Eltern hatten wenig Zeit für das Kind. So trieb sich der Junge tagsüber mit Kameraden auf den Hinterhöfen herum. "Ich war wirklich ein Rowdy, ein Gassenjunge." Es galt, sich zu behaupten.

Wladimir Putin 1960. Bild: Kremlin.ru / CC-BY-4.0

Putin schaffte es offenbar, durch seine "Charaktereigenschaften" eine Anführerstellung zu erreichen. Als er älter wurde, mit 13, 14, schwand die körperliche Gleichheit. Putin ist schmächtig. "Charakterliche Eigenschaften reichten nicht mehr aus, um natürlicher Anführer zu bleiben. Und da brauchte ich [andere] Instrumente, um meine Stellung im Rudel aufrechtzuerhalten."2

Der Junge lernt Judo. Nun ist Judo ein sanfter und flexibler Weg, um einen Gegner zu überwinden: "Siegen durch Nachgeben" ist das Prinzip, es gilt, die Schwächen des Gegners aufmerksam zu erkennen und überraschend auszunutzen. Die Achtung des Gegners ist konstitutiv. Er darf nicht absichtlich verletzt werden, der Wettkampf soll auch der Entwicklung und dem Wohlergehen des Gegners dienen.

Putin muss das missverstanden haben, oder darauf wurde von seinen Lehrern kein Wert gelegt. (Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass er – auch? – eine Abart des Judo lernte, das härtere Sambo, das von der russischen Armee als Nahkampftechnik entwickelt wurde.)

Was Putin nach eigener Aussage am Judo wichtig erscheint, ist, "sich völlig auf ein bestimmtes Ziel zu konzentrieren", auf den "Sieg". Doch schon vorher hatte er eine nicht unbedingt mit dem Geist des Judos kompatible "Regel in den Straßen von Leningrad gelernt: Wenn der Kampf unvermeidbar ist, dann schlag als Erster zu." (Äußerung 2015)

Dabei nimmt er auch Gewalt in Kauf. Einmal bricht er in einer Auseinandersetzung einem Mitschüler das Bein. Seine Lehrerin Vera Gurewitsch erzählt später, was Putin dazu sagte: Manche verstünden nur "die Sprache der Gewalt". In dem rauen Milieu, in dem Putin aufgewachsen ist, war es wohl schwierig, andere Mittel der Auseinandersetzung und Behauptung zu lernen als taktische Klugheit und Zuschlagen im geeigneten Moment.

Man wird nicht übersehen können, dass Putin in seiner Regierungsszeit zunehmend auf die Handlungsprinzipien zurückgegriffen hat, die sich in der letzten Erzählung abzeichnen. Er ordnet alles seinen geostrategischen und politischen Zielen unter: die Möglichkeit, sich seinem Regime gegenüber oppositionell zu verhalten, die Achtung vor Menschenleben, in Kriegen die Bewahrung ziviler Infrastrukturen und Lebensgrundlagen, die Einhaltung von Verträgen, die Selbstbestimmung von Staaten…

Massive Drohungen, Gewalt, Krieg, Angriff sind für ihn legitime Mittel, wenn er meint, seine Ziele anderweitig nicht erreichen zu können. Tschetschenien, Syrien und jetzt auch der Krieg in der Ukraine belegen das. Mit seiner Drohung zum Einsatz atomarer Waffen nimmt er die Eskalation zum Weltkrieg und das daraus folgende Inferno in Kauf. Wir wissen nicht, ob ihn das Leid, die Opfer, die Zerstörungen, die die Folge seiner Politik und Kriegführung ist, berühren. Jedenfalls geht er darüber hinweg.

Für ihn sind das wohl, wie der russische Außenminister Lawrow anmerkte, "Kollateralschäden". Dies alles wird dadurch nicht gerechtfertigt, wenn auch von anderer Seite, etwa der USA oder der Nato, Ähnliches betrieben wurde und wird. Es geht hier um Putin.

Die Konzept- oder Zielorientierung, der Putin alles unterordnet, geht mit einer "Regel" einher, die er in den frühen autobiografischen Interviews ausspricht:

Ich halte mich an meine eigenen Regeln. Eine davon ist: Nichts bereuen. Wenn du anfängst zu bereuen, wendest du dich zurück, beginnst zu grübeln. Man muss aber immer an die Zukunft denken, nach vorn schauen.

Diese Einstellung erklärt manches an Putins Handeln – auch in Hinsicht auf die Krim und den jetzigen Ukrainekrieg. Die Äußerung belegt auch, wie wichtig "Regeln" für Putin sind, die er sich schon in der Kindheit und im weiteren Laufe seines Lebens zurechtgelegt hat. Psychologisch deutet das auf eine gewisse Zwanghaftigkeit hin, mit der man bei Putin rechnen muss.