Wer kann bei Terrorgefahr die Reaktoren abschalten?

Terroristische Angriffe auf Kernkraftwerke aus rechtlicher Sicht

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Der rheinische Verwaltungsrechtler Fritz Ossenbühl sieht für die Reaktorbetreiber anders als das Bundesumweltministerium keine Pflicht, ihre Anlagen auf eigene Kosten gegen Flugzeuge steuernde Selbstmordattentäter abzusichern. Bei einer Abschaltung von Kernkraftwerken aufgrund falschen Alarms könnte die Wirtschaft zudem Schadensersatz verlangen.

Temelin

Das Undenkbare denken, lautet eine der "Zeitenwenden-Devisen" nach dem 11. September. Was also wäre, wenn Terroristen statt Hochhäuser in New York Atommeiler in Grafenrheinfeld oder Neckarwestheim im Visier haben? Einem gezielten Flugzeugangriff würden die Betonhüllen der Kernkraftanlagen aller Voraussichtlichkeit nicht standhalten - die Folgen eines solchen Anschlags könnten verheerend sein (Atomarer Albtraum).

Die potenziellen Horrorsbilder übersteigen das menschliche Erfahrungs- und Vorstellungsvermögen bislang, sodass Tabus und Verdrängungsprozessen ständige Begleiter der vor drei Monaten neu losgetretenen Diskussion um die Sicherheit von Atomreaktoren sind.

"Manche Bedrohungsszenarien mag man sich erst gar nicht vorstellen, weil keine oder allenfalls völlig unzureichende oder höchst zweischneidige Abwehrmaßnahmen zur Verfügung stehen", sagt der Verwaltungsrechtler Fritz Ossenbühl.

Völlig aus der Luft gegriffen ist der Horror nicht: Schließlich wurde mehrfach berichtet, dass auf der Zielliste der (selbst-)mörderischen Terrorpiloten auch das Kernkraft Harrisburg in Pennsylvania gestanden haben soll.

Allem Gruseln zum Trotz ist der Professor, der bis zu seiner Emeritierung 1999 an der Universität Bonn lehrte und nun in der Essener Rechtsanwaltkanzlei Kümmerlein, Simon & Partner arbeitet, der schwierigen Frage nachgegangen, wer im Falle eines Falles agieren oder gar haften müsste und was zur Abwendung möglicher Katastrophen zu tun ist. Versüßt wurde Ossenbühl das kalte Grübeln durch einen "Ruf" des Informationskreises Kernenergie. Der hatte den Experten für öffentliches Recht zu einem Vortrag über terroristische Angriffe auf Kernkraftwerke aus juristischer Sicht Ende der Woche nach Berlin geladen.

Die von Ossenbühl vorgetragenen Thesen standen bezeichnenderweise den Einschätzungen der Bundesregierung diametral gegenüber. Das von Jürgen Trittin (Grüne) geführte Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) hatte auf eine Anfrage der SPD-Bundestagsabgeordneten Christine Lambrecht im Oktober verlauten lassen, dass in einer Gefahrenlage eine vorübergehende Betriebseinstellung bedrohter Atomkraftwerke durchaus in Frage käme. Eine solche Maßnahme könne durch die Atomaufsichtsbehörde der Länder nach § 19 Atomgesetz angeordnet werden (Bundestagsdrucksache 14/7121, Punkt 120). Unausgesprochen schwingt in dieser Formulierung nach Ossenbühl die Annahme mit, dass ein solcher Erlass "ohne jegliche entschädigungsrechtliche Konsequenz zulässig sei."

Atomgesetz enthält keine Rechtsgrundlage fürs Abschalten von AKWs

Dieser Auffassung mag sich der Verwaltungsrechtler keineswegs anschließen. Wie er in Berlin ausführte, enthält das vom Bundesumweltministerium herangezogene Atomgesetz keine Grundlage für Abschaltungen bei Flugzeugangriffen. Thematisiert seien darin nämlich weder kriegerische Einwirkungen noch terroristische Angriffe aus der Luft. Das habe zur Folge, dass nicht die eigentlich größere Sachkenntnis aufweisenden Atomaufsichtsgremien, sondern allein die allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehörden im Falle einer "gegenwärtigen Gefahr" eine Abschaltung anordnen könnten.

Die an sich vielleicht wenig spektakuläre Befugnisverlagerung hat nach Ossenbühl aber gravierende Konsequenzen: Sollte die vorübergehende Stilllegung auf einem falschen Alarm beruhen und nichts passieren, stünde den Anlagenbetreibern ein Ersatzanspruch hinsichtlich der durch die Abschaltung entstanden Schäden zu. Die Polizei würde es sich daher vermutlich gut überlegen, ob sie bei einer vermutlich von Geheimdiensten gemeldeten Gefahr den "letzten" Schritt tun würde.

Um seine These zu untermauern legte Ossenbühl dar, dass bislang allein terroristische Angriffe vom Boden aus zum Vorstellungskreis des Gesetzgebers gehörten. "Außerhalb der bisherigen Sicherheitsüberlegungen stand jedoch der Flugzeugangriff" als zielgerichtete, von Terroristen inszenierte und gelenkte Aktion, so der Rechtsanwalt. Gedacht habe man höchstens an Flugzeugabstürze, also Unfälle. Und auch das erst, nachdem in den 1970ern Starfighter wie tote Vögel vom Himmel zu fallen begannen.

An Jumbos im Anflug hat niemand gedacht

Die Genehmigungspraxis achtete daher nach 1973 darauf, dass die baulichen Anlagen von Kernkraftwerken auch gegen Flugzeugabstürze ausgerüstet wurden. Für den Schutzstandard wurde von den errechneten Auswirkungen eines postulierten zufallsbedingten Absturzes einer schnellfliegenden Militärmaschine - bis hin zu einer Phantom F 4 mit einer Aufprallgeschwindigkeit von 774 km/h - ausgegangen.

Nach Mitteilung der Reaktorsicherheitskommission (RSK) kann aufgrund von Untersuchungen davon ausgegangen werden, dass damit die mechanischen Belastungen ausgehalten werden, die beim Absturz eines Verkehrsflugzeugs mittlerer Größe auftreten. Dabei wird eine Aufprallgeschwindigkeit im Bereich von 350 bis 400 km/h unterstellt.

Nicht ausgerichtet sind die nach 1973 gebauten Atommeiler allerdings auf Jumbo Jets, die fast mit Höchstgeschwindigkeit bewusst und zielgenau in Reaktoren gesteuert werden. Das macht die Klärung der Fragen, unter welchen Voraussetzungen die Abschaltung von Kernkraftwerken sowie auch ihre bauliche Nachrüstung verlangt werden kann, laut Ossenbühl umso dringlicher.

Abschalten hilft nur bedingt gegen Verstrahlung

Der Verwaltungsrechtler gibt dabei als erstes zu Bedenken, dass eine "angeordnete eingreifende Maßnahme" tatsächlich geeignet sein müsste, das angestrebte Schutzziel zu erreichen oder ihm zumindest näher zu kommen. Davon geht Ossenbühl aus, auch wenn das Herunterfahren einer Anlage in den "kalten, unterkritischen Zustand" dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) zufolge keinen wirklichen Gewinn an Sicherheit bringe. Dazu müsste das radioaktive Material nämlich mindestens ein Jahr geschützt auskühlen. Die RSK sieht den Vorteil einer Abschaltung allerdings zumindest darin, dass dank der verminderten "Nachzerfallsleistung" mehr Zeit für Notfallmaßnahmen bleibe.

Eine Ermächtigungsgrundlage für eine Abschaltung gemäß Atomgesetz sieht Ossenbühl allerdings eben trotzdem nicht. Dazu müsste die Gefahr ionisierender Strahlen von der Anlage ausgehen, was bei einem Terroristenangriff aus der Luft einfach nicht der Fall sei. Hier würden "Dritte von außen gefahrenverursachend auf die Anlage einwirken." Der Anlagenbetreiber sei als nicht "Störer", sondern "Gestörter" mit den verwaltungsrechtlichen Konsequenzen für die Entschädigung. Als Rechtsgrundlage komme nämlich nur die "gute alte polizeiliche Generalklausel" in Frage.

Da Flugzeugangriffe bislang nicht zum gesetzlichen Sicherheitsprogramm für Atomkraftwerke gehören, kann dem streitbaren Professor zufolge, der früher auch schon mal die Tabakindustrie vertrat, eine entsprechende Nachrüstung von den Betreibern nicht verlangt werden. Zumindest nicht auf deren Kosten. Allein dem Staat obliege es, entsprechenden Schutz zu schaffen und zu gewährleisten.

Der Veranstalter feierte im Anschluss an den Vortrag naturgemäß die klare Analyse des Verwaltungsrechtlers. Nicht überzeugt zeigte sich dagegen ein Vertreter des Bundesumweltministeriums. Die Gefahr gehe ohne Zweifel auch von der Kernkraftanlage mit aus, versuchte der Ministerialbeamte dem Emeritus zu erwidern. Doch der empörte sich nur ob der "sophistischen" Ausführung und beharrte darauf, dass der Staat in die Pflicht zu nehmen sei. In Deutschland dürfte sich der Streit um die terrorismusgefährdeten AKWs allerdings zumindest mittelfristig erledigen, da der Bundestag am Freitag das Gesetz zum Ausstieg aus der Atomenergie verabschiedet hat.