Wer wählen will, braucht Regeln

Wider den Voting-Wahn im Fernsehen

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Dass ein Wahltermin nicht unbedingt ein endgültiges Ergebnis hervorbringt, kannten wir bislang nur aus den USA (too close to call) – am 18. September erleben wir diesen Zustand wohl auch in Deutschland.

Die hektische mediale Begleitung der überraschenden Neuwahl – Wie viele Töchter hat Prof. Kirchoff? Wie viele Ex-Frauen hat Außenminister Fischer? Wie hieß noch mal der Freund vom Leichtmatrosen aus Bonn? – dokumentiert das enge Verhältnis von Politik und Unterhaltung.

Besonders augenscheinlich wird diese Fusion in der aktuellen Wahlaktion von Stefan Raab, der die Bundestagswahl um einen Tag ins Pro7-Programm vorverlegt. Im Pressetext heißt es dazu:

TV total-Zuschauer wählen diesmal schon früher! Einen Tag vor der Bundestagswahl am 18. September ermittelt bereits König Lustig die politischen Tendenzen im Land. ProSieben zeigt am Samstag, den 17.09., von 20:15 Uhr bis 22:15 Uhr Stefans exklusives Wahlstudio. Per Televoting wird eine Wahl-Umfrage gestartet, bei der jeder mitmachen kann - auch Minderjährige, ausländische Mitbürger und sogar Elton! Klar, die Ergebnisse werden somit nicht repräsentativ sein, doch eurem Moderator geht's vor allem um eines: unterhalten und Lust auf die Wahl am nächsten Tag machen! Ausgewertet werden die Abstimmungen nach Bundesländern. Dafür wird selbstverständlich ein Wahlexperte vor Ort sein. Außerdem erwarten wir hochkarätige Gäste aus Politik und Journalismus. Lasst euch das nicht entgehen - nutzt eure Stimme!

Instrumentalisierung und Banalisierung der Richtungswahl als aufmerksamkeitsökonomisch erfolgsversprechendes TV-Spektakel? Oder Politik mit den legitimen Mittel der medialen Unterhaltungskultur, die, wie im Fall von der in „TV total“ geführten Kompetenzteam-Diskussionen, über den reinen Unterhaltungswert hinaus, durchaus Wahlthemen und TV-Diskussionsstile pointiert persiflieren können?

Dass Verfahren und Prinzipien der Politik Einzug in die Fernsehunterhaltung halten, lässt sich augenblicklich auch an der Zunahme von Voting-Sendungen ablesen, die auf die Stimme des Publikums aus sind, damit dieses vermeintlich durch sich selbst, also seine Wahl, unterhalten werden kann. Solche Wahlen im Fernsehen bilden aber kaum den Willen der Zuschauer ab. Was auf den ersten Blick als konsequente Verwirklichung der Mediendemokratie daherkommt, d.h. das Publikum wählt sich sein Programm selbst, birgt beim genaueren Hinsehen Gefahren. Die Regeln für das Voting sind unklar, doch was schwerer wiegt, ist, dass das Angebot, aus dem gewählt wird, nicht von den Redakteuren oder den Zuschauern kommt, sondern von den Vermarktern.

Im Radio begann der Trend: (Musik)Redakteure fütterten nur noch den Rotations-Computer und verlasen die Pressemitteilungen der Musikindustriemanager. Kritische Kommentare, eigene Geschmacksurteile und Hintergründe – alles Fehlanzeige. Kein Wunder, wenn das Formatradio Hörer verliert und die Musikindustrie seit Jahren sinkende Umsätze verkündet. Mediennutzungswahlen hinterlassen Spuren, wenn Wahlprogramme jedes Mal vorprogrammiert sind.

Inzwischen ist es anscheinend immer demokratischer geworden. So lässt sich etwa das Rolling Stone-Magazin, nachdem sich einige Leser des Musikfachblattes über die Liste der besten Rolling Stone-Songs aller Zeiten beschwert hatten – die Liste stammte immerhin von den Musikredakteuren selbst –, von den Lesern umgehend eine neue Liste wählen. Als Wahlanreiz diente die Gewinnaussicht auf die CD-Box mit den Stones-Singles. Eigentlich sollten Fans und Wähler diese schon vor der Abstimmung haben bzw. kennen. Die Wahl dokumentiert eine Selbstentmachtung der Musikredakteure, denn Abstimmungen über Fanlisten gehören ins Internet und nicht in Fachzeitschriften.

Arbeitsfeld für Fernseh-Promis

Von den Stones aber wieder zum Fernsehen: Im großen Stil begann der neue deutsche Voting-Wahn gerade bei den Langzeithütern von Fernsehqualität, nämlich im ZDF. Der öffentlich-rechtliche Sender ließ Unsere Besten wählen und die zur Wahl stehenden Kandidaten von Wissenschaftlern, Journalisten und Experten vorstellen und bewerben. Vom Voting-Wahn wurden bald auch die Privaten befallen. Zum einen, weil ihnen seit längerem nichts besseres einfällt und ihnen die Quoten sowie die Ankündigungen und Berichterstattung im eigenen Programm, aber auch in der Bild-Zeitung attraktiv erschienen, die das ZDF aufweisen konnte. Nicht vergessen darf man dabei, dass die Privaten über eine ganze Armada von selbstgezüchteten C- bis Doppel-D-Prominenten verfügen, die auf Sendung gehalten werden müssen.

Bei den Voting-Sendungen, als neuem Arbeitsfeld für diese Fernseh-Promis, besteht nun das Problem, dass sie im Vergleich etwa zu Telefonquizsendungen, einer ihrer beliebten neuen Grundversorgungsplattformen, oder Interviews mehr sagen müssen, als zum Anrufen aufzufordern oder über sich und ihre Arbeit zu sprechen. Von den Produzenten dieser Voting-Shows haben sie den Auftrag bekommen, etwas Lustiges, Schlüpfriges und vor allem Privates zu sagen.

So äußern sie sich zu Popsongs, anderen Prominenten und Medienereignissen. Meist kennen sie die Gegenstände kaum und zeigen auch wenig Interesse daran. Jedenfalls haben sie, wenn überhaupt, nur ein geringes Rüstzeug, um Popkultur sachgerecht zu beurteilen. Die wertende Kommentierung, früher hieß das noch Kritik, wird in diesen Formaten als Fernsehunterhaltung verkauft. Mit fatalen Folgen: Dekontextualisierung und Dehistorisierung. Was vorkommt und kommentiert wird, ereignet sich aufgrund seines aktuellen Vermarktungswertes, der (nostalgische) Wert und die (historische) Bedeutung sind meist nur behauptet. Was zählt ist die Show, nicht der Inhalt der Show.

Nicht-Achtung der Zuschauer

Dass der vermeintliche Unterhaltungswert der Promibewertungen die Vermarktungsinteressen der Fernsehsender stützt, da mit den Anrufen, den Klingeltönen, den (Werbe)Einnahmen bei Wiederholungen und CD- bzw. DVD-Kollektionen im hauseigenen Shop eine Menge Geld verdient wird, ist nur ein Moment. Bedenklich ist vielmehr, dass das Publikum kaum erfährt, was zur Wahl steht und wie abgestimmt werden kann. In Sendereihen, wie „Die 10 größten …“ auf RTL und „Top Ten TV“ auf Kabel 1, heißt es immer: Die Zuschauer haben gewählt. Es wäre sicherlich das geringste Übel, wenn Zuschauer das Programm eigensinnig gestalten würden. Wunschprogramme haben ihre Berechtigung; doch dann bitte mit Auswahlkriterien und –regeln und vor allem mit Respekt vor der Wahl der Zuschauer.

Bei „Top Ten TV“ dagegen wird die, wie auch immer zustande gekommene Liste der Zuschauer zur Grundlage der Belustigung genommen – und nicht als eigene Auswahl, wie etwa bei Kalkhofe oder Raab präsentiert. Während die Fans ihr Vergnügen an den Geschichten über ihre Helden, den Hintergründen über die Entstehung wie auch den Unzulänglichkeiten, dem Austausch mit Gleichgesinnten sowie den (differenzierten und emotionalen) Bekenntnissen zur Serien, den Figuren und den Darstellern gegenüber Nicht-Fans haben, werden in „Top Ten TV“ die Spezialeffekte bei Raumpatrouille Orion verhöhnt, bei der Betrachtung der Familienserie Die Waltons wird vor allem auf die Nachtfotos einer Aktrice im Playboy abgehoben, die Besucher von Star Trek-Conventions werden als „Verkleidete wie beim Karneval“ beleidigt und Derrik-Darsteller Tappert auf sein Toupet reduziert.

Diese Nichtachtung der Zuschauer scheint symptomatisch für die Voting-Sendungen im (Privat)Fernsehen zu sein. Unsere Empfehlung lautet: Nicht einschalten und nicht mitwählen! Dafür Ausschau halten nach den Angeboten, in denen Journalisten und Kritiker eine begründete Auswahl getroffen haben und ein eigenes Urteil abgeben. Und solche Sendungen können auch helfen, die demokratischen Chancen und Pflichten der anstehenden Bundestagswahl zu bewältigen, wenn der Respekt vor dem Wahlgegenstand und der Wahlentscheidung den Ausgangspunkt bildet.

Die Kriterien für die Wahlentscheidung sind in demokratischen Gesellschaften, zum Glück, nicht beliebig. Im Unterschied zum TV-Voting bleiben die Bundestagswahlen nicht folgenlos und besitzen mehr als einen Unterhaltungswert und (Selbst)Vermarktungsinteressen. Dies tröstet uns in der Zeit, auf der wir auf die Bekanntgabe des Endergebnisses warten.

Marcus S. Kleiner und Jörg-Uwe Nieland sind Medienwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen.