Wer zählt als Corona-Toter?
Seite 2: Wie sieht die Meldepraxis für Corona-Sterbefälle aus?
- Wer zählt als Corona-Toter?
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- Unabhängig von der Todesursache erhalten die Gesundheitsämter i. d. R. zu jedem Todesfall den ärztlichen Totenschein.
- Wenn Covid-19 (oder eine andere im Infektionsschutzgesetz gelistete Erkrankung) die Todesursache ist, oder der Verstorbene an Covid-19 gelitten hat bzw. entsprechender Verdacht besteht, muss der Arzt ein zusätzliches Meldeformular ans Gesundheitsamt schicken.
- Das Gesundheitsamt entscheidet (auf Basis der RKI-Sterbefalldefinition) nach Sichtung dieses Meldeformulars, des Totenscheins und ggf. nach persönlicher Rücksprache mit dem Arzt, ob und wie es den Fall in die Meldesoftware des RKI eingibt.
- Das RKI nimmt keine zusätzliche eigene Bewertung vor, sondern veröffentlicht die Corona-Sterbefälle exakt so, wie sie von den Gesundheitsämtern übermittelt wurden (Quelle: eigene Nachfrage beim RKI).
Die ärztlichen Dokumente liefern die Faktenbasis, das RKI liefert die Entscheidungskriterien; aber die letztgültige Entscheidung, ob ein Todesfall in die Corona-Statistik kommt, liegt tatsächlich bei den örtlichen Gesundheitsämtern. Diese geben jeden Einzelfall in die RKI-Meldesoftware ein, wobei vier Meldeoptionen zur Verfügung stehen:
- Verstorben aufgrund der gemeldeten Krankheit
- Verstorben aufgrund anderer Ursache
- Todesursache nicht ermittelbar
- Todesursache nicht erhoben (Todesursachen-Ermittlung noch nicht abgeschlossen)
Alle vier Optionen beziehen sich ausschließlich auf Personen, bei denen ein positiver Sars-CoV-2-Test vorliegt, und egal, welche Option das Gesundheitsamt auswählt: Grundsätzlich landet jeder Todesfall, der gemeldet wird, in der Corona-Sterbefallstatistik. Wenn das Gesundheitsamt zu dem Schluss kommt, dass ein Todesfall trotz Positivtest nicht in die Statistik gehört, bleibt als fünfte Option, diesen Fall eben gar nicht zu melden.
Was bedeutet "verstorben aufgrund anderer Ursache"?
Leider hat das RKI nirgends erläutert, wie die vier Meldeoptionen genau zu verstehen sind. Nachfragen führten zu keinen konkreteren Aussagen und konnten auch nicht auf entsprechende Handreichungen an die Gesundheitsämter verweisen. Interne Manuals, die hier Klarheit schaffen könnten, gibt es offensichtlich nicht.
Ein Fallstrick für Missverständnisse liegt in der zweideutigen Formulierung "verstorben aufgrund anderer Ursache". Nach spontanem Sprachgefühl neigt man zu der Annahme, hier sollten Todesfälle mit Covid-19-unabhängiger Todesursache erfasst werden (z. B. Unfallopfer oder Covid-19-Genesene).
Die meisten Behörden teilten jedoch mit, dass sie diese Meldeoption auf die Todesursache II. des Totenscheins beziehen: Covid-19 als "anderer wesentlicher Krankheitszustand, der zum Tod beigetragen hat".
Die Stadt Krefeld hatte offensichtlich ein anderes Textverständnis und trat mit folgender Pressemitteilung an die Öffentlichkeit:
Obwohl es laut Feststellung des städtischen Fachbereichs Gesundheit keinen neuen Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 zu verzeichnen gibt, muss die Zahl der Verstorbenen systemrelevant (...) heraufgesetzt werden, um die Statistik an die des Robert-Koch-Institutes anzupassen.
Grund ist, dass Personen, die einmal positiv auf das Coronavirus getestet wurden und später versterben, grundsätzlich in dieser Statistik aufgeführt werden. Im vorliegenden Krefelder Todesfall galt die Person (mittleren Alters und mit multiplen Vorerkrankungen) nachdem es mehrfach negative Testergebnisse gab inzwischen seit längerem als genesen.
Dem Krefelder Gesundheitsamt scheint nicht klar gewesen zu sein, dass Todesfälle, die laut Prüfung des Gesundheitsamtes unabhängig von Covid-19 eingetreten sind, schlicht nicht gemeldet werden sollen. Man ging wohl davon aus, dass solche Fälle als "verstorben aufgrund anderer Ursache" meldepflichtig seien und damit zwingend in die Corona-Sterbefallstatistik eingehen.
Gesundheitsämter entscheiden nicht einheitlich
Für ein umfassendes Bild der Meldepraxis müssten im Rahmen einer Studie alle deutschen Gesundheitsämter angefragt werden. Punktuelle Recherchen liefern Beispiele, dass die Meldekriterien, die man sich lokal zurechtlegt, nicht immer einheitlich sind.
So meldet ein von mir angefragtes Gesundheitsamt Unfall- oder Herzinfarkt-Sterbefälle nur dann nicht, wenn die Sars-CoV-2-Infektion bereits länger zurück liegt: "Ein positiv getesteter Verunfallter ist meldepflichtig 'aufgrund anderer Ursache'. Im Einzelfall geht es immer darum, den zeitlichen Zusammenhang zu berücksichtigen." Das RKI irrt also, wenn es, wie oben zitiert, davon ausgeht, "dass das Gesundheitsamt einen verunfallten positiv getesteten Fall nicht übermitteln würde".
- Ein weiteres Gesundheitsamt antwortete ähnlich: Sobald der Totenschein-ausstellende Arzt unter "Hinweise für eine Erkrankung im Sinne des Infektionsschutzgesetzes" "Covid-19" angibt, wird der Verstorbene als Corona-Todesfall gezählt; auch bei Unfalltod.
- Aus Sicht der zuständigen Bayerischen Landesbehörde ist ein aktueller Positivtest hingegen nicht ausreichend. Deren Auskunft: "Sofern kein zeitlicher sowie kein medizinischer Kontext zwischen Tod und Covid-19 besteht [...], wird dieser Todesfall nicht ins Meldesystem eingegeben."
- Während sich Sachsen an die WHO-Richtlinien hält und laut Aussage des dortigen Sozialministeriums ausschließlich die "Gestorben-an"-Fälle ans RKI meldet, ...
- … veröffentlichte Hamburg bis Jahresende 2020 eine eigene Landesstatistik (ohne "Gestorben-mit"-Fälle), die von der Hamburger Landesstatistik des RKI abwich.
Es gibt also definitiv Unklarheiten, und diese bleiben bestehen, solange das Robert Koch-Institut seinen gesetzlichen Auftrag, eine aussagekräftige Covid-19-Todesfalldefinition zu liefern, nicht weiterentwickelt. Was ist z. B. von folgender RKI-Aussage zu halten:
Ein Suizid könnte nur gezählt werden, wenn die betreffende Person positiv getestet war, aber wie gesagt, es wäre die Entscheidung des Gesundheitsamtes.
Hier ist doch eine Regelung gefragt, die Gesundheitsämter nicht alleine lässt; eine Regelung, die solchen Unsinn, wenn er denn passieren sollte, abstellt.
Viel Rauch um nichts?
Das RKI wies mehrfach darauf hin, dass man "im Bezug auf […] die Todeszahlen in Deutschland" eine Debatte über "ein paar Prozente mehr oder weniger für nicht relevant" hält. Betrachtet man aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes, erscheint dieser Hinweis nicht ganz unberechtigt.
Destatis veröffentlicht wöchentlich eine vorläufige Sonderauswertung mit den allgemeinen Sterbezahlen. Was sofort auffällt: Insbesondere die zweite Coronawelle korreliert mit einem deutlichen Gesamt-Sterblichkeitsanstieg.
Wie Destatis ausführlich erläutert, sind die vorläufigen Angaben nicht hoch-valide. Aber wenn einerseits z. B. für die Woche 52 vom RKI etwa 5.000 Corona-Todesfälle gemeldet werden, und andererseits zwischen dem bisherigen Woche-52-Höchstwert der Jahre 2016 bis 2019 (ohne Covid-19) und dem Woche-52-Wert des Jahres 2020 eine Steigerung von etwa 5.000 liegt, drängt sich ein Zusammenhang auf.
Alte Sterbefalldefinition neu überdenken
Um die Unschärfe der RKI-Sterbefallzahlen abzuschätzen, lohnt ein Blick nach Hamburg, denn hier wurde monatelang jeder positiv getestete Sterbefall obduziert. Bis Mitte Oktober identifizierte man dabei 241 Fälle, die hauptursächlich an Covid-19 verstarben. Das RKI hatte hingegen 285 Coronatote gezählt. In 15 Prozent der offiziell gemeldeten Todesfälle spielte demnach Covid-19 keine wichtige Rolle.
Wohlgemerkt: Solche exakten Zahlen lassen sich nur über Obduktion und nicht über einfache Leichenschau ermitteln. Dennoch steht das RKI in der Verantwortung, die Regeln für das Sterbefall-Meldewesen im Sinne einer besseren Überwachung des Infektionsgeschehens bestmöglich zu gestalten. Eine Sterbefalldefinition, die in der Hektik der ersten Pandemiewochen mit heißer Nadel gestrickt wurde, ist nicht in Stein gemeißelt.
Konkret geht es um die verbreitete Praxis, Sterbefälle recht pauschal zu melden, sobald ein zeitnaher Sars-CoV-2-Positivtest vorliegt. Warum definiert man nicht, dass akute, schwere Covid-19-Symptome erforderlich sind, um einen Todesfall als Corona-Todesfall zu zählen? Die frühere Aussage von RKI-Chef Wieler, "das Entscheidende ist das Ergebnis des Tests. Da wird dann nicht unterschieden, ob sie Grundkrankheiten hatten oder nicht", erscheint nach heutigem Wissensstand nicht mehr sinnvoll.
Und warum stellt man nicht ausdrücklich klar, dass Sterbefälle, die bereits als Covid-19-genesen galten, nicht als Coronasterbefälle zu melden sind?
Die Überarbeitung beider Punkte brächte eine Annäherung an die WHO-Sterbefalldefinition, was wiederum der internationalen Einheitlichkeit zuträglich wäre.
Auch wenn die bisherige Meldepraxis sicher nicht realitätsfern ist: Gerade jetzt, wo das Durchschnittsalter der Coronatoten, und damit auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Vorerkrankungen, immer weiter ansteigt (von 81 während der ersten Welle auf 84 heute), häufen sich zwangsläufig die Fälle, bei denen konkret entschieden werden muss: Soll die Pflegeheimbewohnerin, die etwa einen tödlichen Schlaganfall erlitten hat und zuvor positiv auf Sars-CoV-2 getestet war, als Coronatote gemeldet werden? Auch bei sehr alten, multimorbiden Menschen gibt es keinen Automatismus, dass jede Sars-CoV-2-Infektion zu lebensverkürzenden Symptomen führen muss.
Schon das tägliche Aufzählen der Covid-19-Opfer als Blickfang in allen großen Medien ist historisch beispiellos. Sollten im Zuge überarbeiteter Melderegeln die Sterbefallzahlen um vielleicht 15 Prozent sinken, würde das allgemeine Risikobewusstsein dadurch wohl kaum entscheidend geschwächt werden.
Im Gegenteil: Entscheidungen, die sich um eine verbesserte Erfassung der Corona-Toten bemühen, schaffen Glaubwürdigkeit und unterstützen faktenbasiertes politisches Handeln.
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