Wer zählt als Corona-Toter?

Annäherung an eine ungeklärte Frage

Kennen Sie das Gerücht, nach dem In Deutschland jeder tödlich verunglückte Motorradfahrer, der positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurde, als Corona-Toter gilt – egal, wie lange der Positivtest zurückliegt?

Man möchte meinen, solche Behauptungen kommen aus der Ecke derer, die an Echsenmenschen glauben. Aber in diesem Fall wurde die Gerüchteküche vom König der Corona-Zahlen persönlich angeheizt. Am 23. März gab Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, folgendes Statement:

Wir melden alle Fälle, die Covid-19-positiv sind und gestorben sind, als Covid-19-Sterbefälle.

Der Satz fiel bei einer virtuellen Pressekonferenz. Es waren keine Journalisten anwesend, um das Naheliegende zu fragen:

  • Was ist mit den Krebs- oder Herz-/Kreislauf-Toten, die neben ihrer Haupterkrankung kaum Covid-19-Symptome entwickelt haben?
  • Was ist mit den Krebs- oder Herz-/Kreislauf-Toten, die bereits als von Covid-19 genesen galten?
  • Was ist mit den tödlich Verunfallten, bei denen Sars-CoV-2 nachgewiesen wurde?

Endlich, vier Wochen später, hakte das Internetportal Correctiv nach und bekam vom RKI eine Antwort, die viele überraschte.

Stimmt es tatsächlich, dass ein Mensch, der unter Fremd- oder Eigeneinwirkung gewaltsam verstirbt und zuvor positiv auf Corona getestet wurde, vom RKI als Coronatoter gelistet wird?

Das stimmt tatsächlich. Die beschriebene Situation ist aber sehr selten, so dass die Zahl der Todesfälle nicht verzerrt wird.

Das Seltenheitsargument gilt es noch zu beleuchten; aber unabhängig davon: Warum ein positiv getestetes Unfallopfer mit einem direkt an Covid-19 Verstorbenen statistisch in einen Topf werfen? Sollte eine offensichtlich lückenhafte Regelung nicht einfach ergänzt oder korrigiert werden?

Während die Thematik von den Leitmedien monatelang ignoriert wurde, hypte man sie andernorts als Beleg für den großen Corona-Fake.

Wer zählt die Toten?

Auf die Frage, wer als Corona-Toter zählt, gibt es mehrere offizielle und unterschiedliche Antworten. Interessant aus deutscher Perspektive sind insbesondere die Antworten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Statistisches Bundesamtes (Destatis) und des Robert Koch-Instituts (RKI).

Alle drei Institutionen orientieren sich an der Totenschein-Systematik – also an der Vorgehensweise eines Arztes, der Angaben zur Todesursache in einen Totenschein einzutragen hat.

Entscheidend ist Teil I. der Todesursachen-Beschreibung: Hier wird die Abfolge mehrerer Krankheitsereignisse als eine zum Tod führende Kausalkette dargestellt:

  • Der erst-ursächliche Ausgangspunkt dieser Kausalkette findet sich unter I. c) "Grundleiden".
  • Dieses Grundleiden hat den tödlichen Verlauf in Gang gesetzt und wird klar von der unmittelbaren Todesursache (I. a) unterschieden.
  • Da ein Grundleiden nicht immer direkt zur unmittelbaren Todesursache führt, kann eine zwischengeschaltete Folgeerkrankung des Grundleidens eingetragen werden (I. b).

Jeder Zustand ist Ursache für den in der darüberstehenden Zeile eingetragenen Zustand.

Im II. Teil sind sonstige Neben-Krankheitszustände genannt, die den Krankheitsverlauf entscheidend beeinflussten und zum tödlichen Ausgang beitrugen.

Wie zählt das Statistische Bundesamt?

In Deutschland werden alle Totenscheine von den Statistischen Landesämtern ausgewertet, die ihre Ergebnisse ans Statistische Bundesamt weiterleiten. Das Bundesamt erstellt dann die jährliche Todesursachenstatistik, die für jeden Todesfall (von wenigen klar definierten Ausnahmen abgesehen) immer nur eine einzige Todesursache ausweist: das bereits erwähnte Grundleiden.

Die Todesursachenstatistik des Jahres 2020 (geplanter Veröffentlichungstermin: August 2021) wird also ausschließlich Corona-Tote auflisten, bei denen Covid-19 als Grundleiden angegeben wurde (gestorben "an" Covid-19).

Verstorbene, bei denen Covid-19 als "wesentlicher Krankheitszustand zum Tode beigetragen" hat (II., gestorben "mit" Covid-19), bleiben unberücksichtigt. Obwohl das RKI entschied, auch "Gestorben-mit"-Fälle in seine Corona-Sterbefallstatistik aufzunehmen, wird, nach aktueller Auskunft, Destatis nicht von seiner bisherigen Praxis abweichen. Die Covid-19-Zahlen in der amtlichen Todesursachenstatistik für 2020 werden deshalb niedriger sein als in der entsprechenden RKI-Statistik.

Wie zählt die WHO?

Am 30.01.2020 erklärte die WHO die Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 zur "Gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite". Es ist die sechste derartige Einstufung seit 2005. Alle Mitgliedsländer sind verpflichtet, der WHO ihre nationalen Corona-Sterbefälle zu melden und, um weltweite Vergleichbarkeit zu gewährleisten, erschien im April 2020 eine WHO-Corona-Sterbefalldefinition. Hier finden sich detaillierte Hinweise, welche Todesfälle als Covid-19-Fälle erfasst werden sollen – und welche nicht.

Wie Destatis zählt auch die WHO nur solche Todesfälle, bei denen Covid-19 als Grundleiden vermerkt ist. Aber: Man aktivierte Sonderregeln.

Verschiedene Erkrankungen, wie etwa eine höhergradige Niereninsuffizienz, begünstigen schwere Covid-19-Verläufe. Verstirbt ein betroffener Patient, ist als Grundleiden dennoch nicht die Niereninsuffizienz, sondern Covid-19 anzugeben. Der Verstorbene gilt dann als Corona-Todesfall. Um die Gefährlichkeit eines sich weltweit ausbreitenden Krankheitserregers umfassend zu überwachen, erscheint eine solche Vorgehensweise durchaus sinnvoll. Auch Influenza soll laut WHO immer nur als Grundleiden erfasst werden.

Die WHO-Richtlinie verlangt außerdem, "andere wesentliche Krankheitszustände, die zum Tod beigetragen haben" (II. Teil der Todesursachenbeschreibung) vom Grundleiden klar abzugrenzen. Ein Todesfall, bei dem Covid-19 unter "andere wesentliche Krankheitszustände" eingetragen ist, gilt nicht als Covid-19-Fall ("NO Covid-19 DEATH!"). In der WHO-Sterbefalldefinition heißt es [eigene Übersetzung]:

Covid-19-Patienten können an anderen Krankheiten oder Unfällen sterben. Solche Fälle sind keine Todesfälle aufgrund von Covid-19 und sollten nicht als solche ausgewiesen werden.

Beispielhaft werden von der WHO drei Fälle genannt, die nicht als Covid-19-Fälle zu werten sind:

  • Der Verstorbene hatte eine Covid-19-Infektion, diese war jedoch zwischenzeitlich vollständig ausgeheilt.
  • Der Positiv-Getestete ist infolge eines Autounfalls verstorben.
  • Der Positiv-Getestete ist infolge eines Myokardinfarktes (Herzinfarkt) verstorben.

Das heißt: Nach den Vorgaben der WHO sollen Personen, die "mit" aber nicht "an" Covid-19 gestorben sind, nicht in die Corona-Sterbestatistik aufgenommen werden.

Das "Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten" schloss sich als zuständige EU-Behörde den WHO-Richtlinien an: "Das Monitoring der Sterbefälle sollte gemäß der WHO-Definition durchgeführt werden."

Wie zählt das Robert Koch-Institut?

Das RKI hat die WHO-Sterbefalldefinition nicht übernommen. Ein "gestorben mit" reicht in Deutschland als Kriterium für einen Covid-19-Todesfall aus, was die Zahl der gelisteten Coronatoten erhöht.

Es mag gute Gründe für diese Entscheidung geben. Aber wenn man es für geboten erachtet, die WHO-Norm nicht zu übernehmen, sollte man diese Entscheidung auch thematisieren – was nie geschah. Und so blieb dieser Sachverhalt in der deutschen Öffentlichkeit bis heute unbemerkt.

RKI muss Covid-19-Sterbefalldefinition erstellen

Aus Infektionsschutzgründen müssen in Deutschland bestimmte Krankheiten, darunter auch Covid-19, dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Um Klarheit zu schaffen, welche Fälle als "an dieser Krankheit verstorben" gelten, ist das RKI verpflichtet, "eine Falldefinition für die Bewertung von [...] Erkrankungs- oder Todesfällen [...]" zu formulieren (§11 Abs. 2 IfSG).

Am 16.02.2020 veröffentlichte das RKI eine detaillierte Falldefinition für Covid-19-Infizierte. In diesem Dokument fehlt jedoch jeglicher Hinweis zur Bewertung von Sterbefällen.

Zwei Monate später, am 16.04.2020, veröffentlichte die WHO ihre Sterbefalldefinition. Dieser 14-seitige, mit vielen Beispielen versehene Text schließt "Gestorben-mit"-Fälle aus und widerspricht damit der bis dahin ungeschriebenen deutschen Meldepraxis.

Nun stand das RKI unter Zugzwang und skizzierte sofort die eigene Sichtweise: Am 18.04. erschien eine deutsche Covid-19-Sterbefall-Definition, die denselben gesetzlichen Stellenwert hat wie die oben genannte RKI-Falldefinition für Covid-19-Infizierte. Im Gegensatz zu jenem ausführlichen Dokument entschied man sich hier jedoch für einen Kurztext, der unauffällig in der FAQ-Liste "Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus Sars-CoV-2" platziert wurde:

In die Statistik des RKI gehen die Covid-19-Todesfälle ein, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind. Das Risiko an Covid-19 zu versterben ist bei Personen, bei denen bestimmte Vorerkrankungen bestehen, höher. Daher ist es in der Praxis häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2 Infektion direkt zum Tode beigetragen hat. Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind ("gestorben an"), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war ("gestorben mit") werden derzeit erfasst.

Das RKI zitiert hier die gesetzliche Formulierung "Tod in Bezug auf Covid-19" (§6 Abs. 2t IfSG). Es fehlt jedoch eine klare Eingrenzung, wie dieses "in Bezug auf" genau zu verstehen ist. Kein Vergleich zur Unmissverständlichkeit der WHO-Kriterien und zur Akribie der eigenen Falldefinition für Covid-19-Infizierte.

Positiv getestete Unfalltote

Dass man eine saubere Trennung zwischen "gestorben an" und "gestorben mit" als schwierig erachtet, ist nachvollziehbar. Aber wie erklärt sich die oben zitierte RKI-Aussage, auch tödlich Verunfallte können in die Corona-Sterbefallstatistik einfließen? Ein tödlich Verunfallter ist weder unmittelbar an Covid-19 gestorben, noch "lässt sich nicht abschließend nachweisen, was die Todesursache war".

Und bei dieser Thematik geht es eben nicht nur um die seltenen positiv getesteten Unfallopfer, sondern auch um Fälle, bei denen ganz unabhängig von einem Krebs- oder Herzinfarkt-Tod ein Sars-CoV-2-Positivtest vorlag.

Anfang Januar 2021 fragte ich beim RKI an:

Wenn es sich abschließend nachweisen lässt, dass die Todesursache nicht Covid-19 ist, dann handelt es sich im Sinne des RKI nicht um einen Corona-Sterbefall. Richtig?

Auch wenn die eigene gesetzliche Definitionszuständigkeit unerwähnt bleibt, klang die Antwort deutlich differenzierter:

Ja, richtig. Aber wenn es das Gesundheitsamt anders sehen sollte, würde es eben anders sein. Wir gehen davon aus, dass das Gesundheitsamt einen verunfallten positiv getesteten Fall nicht melden würde.

Wie sieht die Meldepraxis für Corona-Sterbefälle aus?

  • Unabhängig von der Todesursache erhalten die Gesundheitsämter i. d. R. zu jedem Todesfall den ärztlichen Totenschein.
  • Wenn Covid-19 (oder eine andere im Infektionsschutzgesetz gelistete Erkrankung) die Todesursache ist, oder der Verstorbene an Covid-19 gelitten hat bzw. entsprechender Verdacht besteht, muss der Arzt ein zusätzliches Meldeformular ans Gesundheitsamt schicken.
  • Das Gesundheitsamt entscheidet (auf Basis der RKI-Sterbefalldefinition) nach Sichtung dieses Meldeformulars, des Totenscheins und ggf. nach persönlicher Rücksprache mit dem Arzt, ob und wie es den Fall in die Meldesoftware des RKI eingibt.
  • Das RKI nimmt keine zusätzliche eigene Bewertung vor, sondern veröffentlicht die Corona-Sterbefälle exakt so, wie sie von den Gesundheitsämtern übermittelt wurden (Quelle: eigene Nachfrage beim RKI).

Die ärztlichen Dokumente liefern die Faktenbasis, das RKI liefert die Entscheidungskriterien; aber die letztgültige Entscheidung, ob ein Todesfall in die Corona-Statistik kommt, liegt tatsächlich bei den örtlichen Gesundheitsämtern. Diese geben jeden Einzelfall in die RKI-Meldesoftware ein, wobei vier Meldeoptionen zur Verfügung stehen:

  • Verstorben aufgrund der gemeldeten Krankheit
  • Verstorben aufgrund anderer Ursache
  • Todesursache nicht ermittelbar
  • Todesursache nicht erhoben (Todesursachen-Ermittlung noch nicht abgeschlossen)

Alle vier Optionen beziehen sich ausschließlich auf Personen, bei denen ein positiver Sars-CoV-2-Test vorliegt, und egal, welche Option das Gesundheitsamt auswählt: Grundsätzlich landet jeder Todesfall, der gemeldet wird, in der Corona-Sterbefallstatistik. Wenn das Gesundheitsamt zu dem Schluss kommt, dass ein Todesfall trotz Positivtest nicht in die Statistik gehört, bleibt als fünfte Option, diesen Fall eben gar nicht zu melden.

Was bedeutet "verstorben aufgrund anderer Ursache"?

Leider hat das RKI nirgends erläutert, wie die vier Meldeoptionen genau zu verstehen sind. Nachfragen führten zu keinen konkreteren Aussagen und konnten auch nicht auf entsprechende Handreichungen an die Gesundheitsämter verweisen. Interne Manuals, die hier Klarheit schaffen könnten, gibt es offensichtlich nicht.

Ein Fallstrick für Missverständnisse liegt in der zweideutigen Formulierung "verstorben aufgrund anderer Ursache". Nach spontanem Sprachgefühl neigt man zu der Annahme, hier sollten Todesfälle mit Covid-19-unabhängiger Todesursache erfasst werden (z. B. Unfallopfer oder Covid-19-Genesene).

Die meisten Behörden teilten jedoch mit, dass sie diese Meldeoption auf die Todesursache II. des Totenscheins beziehen: Covid-19 als "anderer wesentlicher Krankheitszustand, der zum Tod beigetragen hat".

Die Stadt Krefeld hatte offensichtlich ein anderes Textverständnis und trat mit folgender Pressemitteilung an die Öffentlichkeit:

Obwohl es laut Feststellung des städtischen Fachbereichs Gesundheit keinen neuen Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 zu verzeichnen gibt, muss die Zahl der Verstorbenen systemrelevant (...) heraufgesetzt werden, um die Statistik an die des Robert-Koch-Institutes anzupassen.

Grund ist, dass Personen, die einmal positiv auf das Coronavirus getestet wurden und später versterben, grundsätzlich in dieser Statistik aufgeführt werden. Im vorliegenden Krefelder Todesfall galt die Person (mittleren Alters und mit multiplen Vorerkrankungen) nachdem es mehrfach negative Testergebnisse gab inzwischen seit längerem als genesen.

Dem Krefelder Gesundheitsamt scheint nicht klar gewesen zu sein, dass Todesfälle, die laut Prüfung des Gesundheitsamtes unabhängig von Covid-19 eingetreten sind, schlicht nicht gemeldet werden sollen. Man ging wohl davon aus, dass solche Fälle als "verstorben aufgrund anderer Ursache" meldepflichtig seien und damit zwingend in die Corona-Sterbefallstatistik eingehen.

Gesundheitsämter entscheiden nicht einheitlich

Für ein umfassendes Bild der Meldepraxis müssten im Rahmen einer Studie alle deutschen Gesundheitsämter angefragt werden. Punktuelle Recherchen liefern Beispiele, dass die Meldekriterien, die man sich lokal zurechtlegt, nicht immer einheitlich sind.

So meldet ein von mir angefragtes Gesundheitsamt Unfall- oder Herzinfarkt-Sterbefälle nur dann nicht, wenn die Sars-CoV-2-Infektion bereits länger zurück liegt: "Ein positiv getesteter Verunfallter ist meldepflichtig 'aufgrund anderer Ursache'. Im Einzelfall geht es immer darum, den zeitlichen Zusammenhang zu berücksichtigen." Das RKI irrt also, wenn es, wie oben zitiert, davon ausgeht, "dass das Gesundheitsamt einen verunfallten positiv getesteten Fall nicht übermitteln würde".

  • Ein weiteres Gesundheitsamt antwortete ähnlich: Sobald der Totenschein-ausstellende Arzt unter "Hinweise für eine Erkrankung im Sinne des Infektionsschutzgesetzes" "Covid-19" angibt, wird der Verstorbene als Corona-Todesfall gezählt; auch bei Unfalltod.
  • Aus Sicht der zuständigen Bayerischen Landesbehörde ist ein aktueller Positivtest hingegen nicht ausreichend. Deren Auskunft: "Sofern kein zeitlicher sowie kein medizinischer Kontext zwischen Tod und Covid-19 besteht [...], wird dieser Todesfall nicht ins Meldesystem eingegeben."
  • Während sich Sachsen an die WHO-Richtlinien hält und laut Aussage des dortigen Sozialministeriums ausschließlich die "Gestorben-an"-Fälle ans RKI meldet, ...
  • … veröffentlichte Hamburg bis Jahresende 2020 eine eigene Landesstatistik (ohne "Gestorben-mit"-Fälle), die von der Hamburger Landesstatistik des RKI abwich.

Es gibt also definitiv Unklarheiten, und diese bleiben bestehen, solange das Robert Koch-Institut seinen gesetzlichen Auftrag, eine aussagekräftige Covid-19-Todesfalldefinition zu liefern, nicht weiterentwickelt. Was ist z. B. von folgender RKI-Aussage zu halten:

Ein Suizid könnte nur gezählt werden, wenn die betreffende Person positiv getestet war, aber wie gesagt, es wäre die Entscheidung des Gesundheitsamtes.

Hier ist doch eine Regelung gefragt, die Gesundheitsämter nicht alleine lässt; eine Regelung, die solchen Unsinn, wenn er denn passieren sollte, abstellt.

Viel Rauch um nichts?

Das RKI wies mehrfach darauf hin, dass man "im Bezug auf […] die Todeszahlen in Deutschland" eine Debatte über "ein paar Prozente mehr oder weniger für nicht relevant" hält. Betrachtet man aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes, erscheint dieser Hinweis nicht ganz unberechtigt.

Destatis veröffentlicht wöchentlich eine vorläufige Sonderauswertung mit den allgemeinen Sterbezahlen. Was sofort auffällt: Insbesondere die zweite Coronawelle korreliert mit einem deutlichen Gesamt-Sterblichkeitsanstieg.

Wöchentliche Sterbefallzahlen. Quellen: Statisisches Bundesamt, RKI. Grafik: TP

Wie Destatis ausführlich erläutert, sind die vorläufigen Angaben nicht hoch-valide. Aber wenn einerseits z. B. für die Woche 52 vom RKI etwa 5.000 Corona-Todesfälle gemeldet werden, und andererseits zwischen dem bisherigen Woche-52-Höchstwert der Jahre 2016 bis 2019 (ohne Covid-19) und dem Woche-52-Wert des Jahres 2020 eine Steigerung von etwa 5.000 liegt, drängt sich ein Zusammenhang auf.

Alte Sterbefalldefinition neu überdenken

Um die Unschärfe der RKI-Sterbefallzahlen abzuschätzen, lohnt ein Blick nach Hamburg, denn hier wurde monatelang jeder positiv getestete Sterbefall obduziert. Bis Mitte Oktober identifizierte man dabei 241 Fälle, die hauptursächlich an Covid-19 verstarben. Das RKI hatte hingegen 285 Coronatote gezählt. In 15 Prozent der offiziell gemeldeten Todesfälle spielte demnach Covid-19 keine wichtige Rolle.

Wohlgemerkt: Solche exakten Zahlen lassen sich nur über Obduktion und nicht über einfache Leichenschau ermitteln. Dennoch steht das RKI in der Verantwortung, die Regeln für das Sterbefall-Meldewesen im Sinne einer besseren Überwachung des Infektionsgeschehens bestmöglich zu gestalten. Eine Sterbefalldefinition, die in der Hektik der ersten Pandemiewochen mit heißer Nadel gestrickt wurde, ist nicht in Stein gemeißelt.

Konkret geht es um die verbreitete Praxis, Sterbefälle recht pauschal zu melden, sobald ein zeitnaher Sars-CoV-2-Positivtest vorliegt. Warum definiert man nicht, dass akute, schwere Covid-19-Symptome erforderlich sind, um einen Todesfall als Corona-Todesfall zu zählen? Die frühere Aussage von RKI-Chef Wieler, "das Entscheidende ist das Ergebnis des Tests. Da wird dann nicht unterschieden, ob sie Grundkrankheiten hatten oder nicht", erscheint nach heutigem Wissensstand nicht mehr sinnvoll.

Und warum stellt man nicht ausdrücklich klar, dass Sterbefälle, die bereits als Covid-19-genesen galten, nicht als Coronasterbefälle zu melden sind?

Die Überarbeitung beider Punkte brächte eine Annäherung an die WHO-Sterbefalldefinition, was wiederum der internationalen Einheitlichkeit zuträglich wäre.

Auch wenn die bisherige Meldepraxis sicher nicht realitätsfern ist: Gerade jetzt, wo das Durchschnittsalter der Coronatoten, und damit auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Vorerkrankungen, immer weiter ansteigt (von 81 während der ersten Welle auf 84 heute), häufen sich zwangsläufig die Fälle, bei denen konkret entschieden werden muss: Soll die Pflegeheimbewohnerin, die etwa einen tödlichen Schlaganfall erlitten hat und zuvor positiv auf Sars-CoV-2 getestet war, als Coronatote gemeldet werden? Auch bei sehr alten, multimorbiden Menschen gibt es keinen Automatismus, dass jede Sars-CoV-2-Infektion zu lebensverkürzenden Symptomen führen muss.

Schon das tägliche Aufzählen der Covid-19-Opfer als Blickfang in allen großen Medien ist historisch beispiellos. Sollten im Zuge überarbeiteter Melderegeln die Sterbefallzahlen um vielleicht 15 Prozent sinken, würde das allgemeine Risikobewusstsein dadurch wohl kaum entscheidend geschwächt werden.

Im Gegenteil: Entscheidungen, die sich um eine verbesserte Erfassung der Corona-Toten bemühen, schaffen Glaubwürdigkeit und unterstützen faktenbasiertes politisches Handeln.

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