Werkzeuge der Wahrnehmung: die Konstruktion der Wirklichkeit - 50 Millionen bis 35000 Jahre

Geschichte des globalen Gehirns VII

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Meme, Konformitätsverstärker und Diversitätsgenratoren sind treibende Kräfte der Evolution, die die Ausbildung und Notwendigkeit eines kollektiven Gehirns bestimmen. Aber erst mit der Erfindung der Erfindung der Sprache bei den Menschen wird das kollektive adaptive System extrem leistungsfähig, das weit stärker, als wir ahnen, nicht nur das Verhalten, sondern auch die Wahrnehmung beeinflußt.

Verbreitung von Verhaltensmemen durch Konformitätsverstärker

In der Zeitspanne von 65 Millionen Jahre bis zur Gegenwart versuchte die kollektive Intelligenz noch einmal, sich zur Globalität zu erweitern. Die anzüglich Meisen (engl. tits, auch Titten) genannte Vogelart trat vor etwa 10 Millionen Jahren auf der Bühne auf. Als Lebewesen der Luft waren sie ultraschnelle Verbreiter von Verhaltensmemen. Es ist schwierig zu sagen, welche Tricks sie einander in der Zeit der Vorgeschichte weiterreichten. Vorstellbar wird das durch einen Vorfall , der unter Verhaltensforschern Aufsehen erregt hat. Ende der 40er Jahre ersetzten die Londoner Milchhändler die Verschlüsse der Kartonbehälter durch Aluminiumfolien. Einige Blaumeisen fanden heraus, wie sie das dünne Metall durchpicken konnten, um den ganz oben auf der Flüssigkeit befindlichen, nicht homogenisierten Rahm zu trinken. Diese Entdeckung verbreitete sich derart schnell, daß der tägliche Diebstahl fast von heute auf morgen die Bäuche der Meisen überall auf den britischen Inseln anschwellen ließ. Konformitätsverstärker hatten ein mächtiges Mem verbreitet.

Bild: Sara Rogenhofer

Der Diversitätsgenerator der Konkurrenz zwischen gefiederten Schwärmen brachte neue Variationen alter Tricks hervor . Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das vor sich gegangen sein muß, ist es nützlich, ein weiteres Beispiel zu betrachten. Der Austernfischer, dessen Vorfahren vor etwa 50 Millionen Jahren entstanden sind, lebte an Meeresküsten und benutzte seinen flachen, einem Messer gleichenden Schnabel, um aus dem Sand Würmer und Schalentiere zu picken. Hinweise legen nahe, daß während der letzten 500 Jahre einige schottische und englische Schwärme von Austernfischer von der leichten Futtersuche an den Stränden verdrängt wurden und in ungewohnten Gebieten nach Nahrung suchen mußten. Sie wanderten flußaufwärts - ein unerhörter Schritt für Vögel, die an die Meeresküste angepaßt sind. Irgendwann entdeckten die Wanderer ein nicht vom instinktiven Gedächtnis vorbereitetes Paradies: bewässerte Äcker und Flußniederungen, die vollkommen für die in ihren Genen angelegten Ausgrabungstechniken geeignet waren. Wie die "Zufallswanderer" der Bakterien erschlossen sie für ihre Art eine riesige neue Nahrungsquelle. Auf diese Weise hatten Nichtkonformisten ihren Beitrag zum planetaren Softwarepool geleistet.

Die Ansteckungsformen, Dinge zu tun, die "Verhaltensmeme" heißen, verbanden unterschiedliche Arten miteinander. Säugetiere aus dem Pleistozän leben noch immer in den Steppen der Serengeti nebeneinander: das Zebra, das Gnu und die Thompsongazelle. Wenn die Trockenperiode das Leben aus ihren flachen Weiden im Südosten saugt, machen sich diese Tiere zu einer Prozession über hundertfünfzig Kilometer in den Norden zu den hügeligen Waldgebieten Kenias auf, in denen es viele nassen Wiesen gibt. Die Zebras gehen voran und suchen stets einen neuen Weg, aber immer mit demselben Ziel im Kopf. Die Herde der Gnus - ein potentielles Chaos von einer Million Tiere - folgt durch Konformitätsdruck den gestreiften Pferden. Dann werden die Gazellen, die ihre memetischen Signale von den Zebras und Gnus erhalten, vom Nachahmungstrieb fortgetrieben, um die Nachhut zu bilden. Wenn die gewaltige Auswanderung ihr Ziel erreicht, läßt der Diversitätsgenerator der Artenbildung diese unterschiedlichen Tiere zu einer Megapartnerschaft zusammenwachsen. Die ersten Ankömmlinge, die Zebras, fressen die härtesten und höchsten Gräser, die für Gnus nicht geeignet sind. Durch das Abgrasen werden weichere, mittelhohe Triebe freigelegt, die den Gnus zur Nahrung dienen. Wenn schließlich die Gazellen eintreffen, ist der Rasen kurz genug, um deren bevorzugte Nahrung, am Boden wachsende Vegetation, anzubieten. Obwohl die Gräser keine Meme besitzen, schließen sie sich dem Kreistanz der vielen Arten an, indem sie ihr Gestutztwerden durch das Nachwachsen frischer Triebe und Stengel entgelten.

Schimpansen, die vor sechs Millionen zu einer eigenständigen Art wurden, entwickelten blühende Kulturen, indem sie Meme erfanden und diese über die Generationenkette nach unten weiterreichten. Die Schimpansen von Gombe und den heutigen thailänischen Wäldern entdeckten ein ganzes Arsenal von Werkzeugen, um Palmölnüsse zu knacken. Die Erfindungen der Schimpansen aus Thailand, Mahele und Gombe unterscheiden sich geringfügig und werden auch anders benutzt. Alle drei Gruppen hatten die Nützlichkeit von Stöcken gelernt, doch nur die Thais haben herausgefunden, daß man Zweige und Äste benutzen konnte, um das Mark aus den Höhlungen eines Knochens herauszukratzen. Die Schimpansen aus Thailand und Mahale nehmen ihre Finger zum Schlecken der Proteinleckereien, die wir Termiten und Ameisen nennen - und ertragen stoisch die Bisse ihrer Feinde. Die in Gombe ansässigen Affen haben sich hingegen den Kniff angeeignet, Stöcke in die Festungseingänge eines Baus zu stecken und so Insekten in riesigen Massen zu ernten. Die Schimpansen aus Gombe verwenden Stöcke auch dazu, sich zu kratzen und zu säubern. Ihre Artgenossen aus Thailand und Mahale haben diese Hygienetechnik noch nicht einmal ausprobiert. Selbst der Gebrauch von Hämmern und Ambossen aus Stein zum Knacken von Nüssen, der auf so komplizierten Techniken beruht, daß ein junger Schimpanse manchmal sieben Jahre zu ihrer Beherrschung benötigt, sind in jeder Gruppe radikal verschieden. Aber es gibt eine große Gemeinsamkeit: jede Gruppe besitzt die "Vorstellung" des Werkzeuggebrauchs .

Die seltsamsten Netzwerker kletterten vor etwa vier Millionen auf ihre Füße hinunter. Ihre Hände waren geschickter als die der Schimpansen, die Steine und Stöcke auf Tiger und andere Eindringlinge mit möglicherweise böswilligen Absichten schleuderten. Aber ihre Zielgenauigkeit war mitleiderregend, und sie konnten nur drei Meter weit werfen. Protomenschen besaßen einen Arm zum Schleudern, und sie konnten gut genug zielen, um einen Vogel aus mittlerer Höhe abzuschießen. Auch ihre Finger waren gelenkiger. Schimpansen benutzen in erster Linie von der Natur bereitgestellte Werkzeuge, während die Menschen bei dieser Technologie ein weit aktivere Rolle übernahmen. Schimpansen haben bereits das Weben erfunden, auch wenn die Vögel sie darin überboten hatten. Jede Nacht flochten die kleinen Affen für ihr Schlafnest Zweige mit Blättern zusammen. Menschen waren in der Lage, weit mehr als dieses eine Kunstwerk zu stricken.

Vor ungefähr 2,7 Millionen Jahren begann Homo habilis aus Steinen und Knochen Werkzeuge zu formen. Am Anfang handelte es sich meist darum, einen Stein, der bereits scharf war, oder eine gebrochene Rippe, die zufällig eine Spitze besaß, zu finden. Das sind Techniken, die mit denen der Schimpansen vergleichbar sind. Unsere Vorfahren mit ihren flachen Schädeln (ihr Denkapparat war halb so groß wie der, den wir heute in unseren Köpfen besitzen) hatten herausgefunden, wie man unbearbeitete Werkzeuge zum Graben und Schaben benutzte. Die Technologie verbreitete sich von Gruppe zu Gruppe, aber sie wurde von Äthiopien nur bis zum benachbarten Kenia weitergegeben, eine Entfernung, die Tiere wie Vögel als schmählich kurz betrachtet hätten. Es dauerte eine Million Jahre bis sich die gemeinsame Intelligenz der Protomenschen erweiterte. Dann trat Homo erectus mit einem Gehirn auf, das um 56 Prozent größer war, und brachte zwei neue Durchbrüche zustande: mit einem Stein so geschickt auf einen anderen zu schlagen, daß die Spannungsrisse des bearbeiteten Steins auseinanderbrachen und kleine und große flache Splitter ergaben. Später erreichten die neuen Hominiden eine zweite Stufe: sie stellten die Klingen von Steinäxten her, indem sie auf jede Seite der Steinplatte klopften. Jetzt erfolgte die Verbreitung sprunghaft. Die frühe Splittertechnik ging von Nordafrika aus und erreichte den äußersten Süden des Kontinents. In der Zeit zwischen 1,8 Millionen und 500000 Jahren überwand sie Tausende von Kilometern bis in den Nordwesten Europas und in das fast unvorstellbar weit entfernte China. Der kollektive Geist der Hominiden begann, durch "Zeitreisende" , wie sie der Archäologe Clive Gamble nennt, global zu werden, also durch die Vorfahren von uns, die von der Reiselust ergriffen wurden. Afrikanische Formen der Werkzeugherstellung gab es von England, Ungarn, Deutschland und Israel bis Peking. Weder die räumliche Trennung noch die Zeit waren Ursachen großer Änderungen. Die Steinaxt im Stil der Acheuléenkultur wurde in der Zeit vor 1,5 Millionen bis vor nur 4000 Jahren benutzt.

Mit den Menschen breiteten sich weitere Zeichen ihres sich entfaltenden globalen Geistes aus. Feuer gab es überall in Afrika und China vor 400000 Jahren. Das Axon der Reise hat die prometheische Flamme über eine durch Gehen überwundene Entfernung von 15000 Kilometern verbreitet. Die Geschicklichkeit des Umgangs mit Steinwerkzeugen glich sich in Afrika, Europa oder Asien weitgehend. Wieder hat das Gliagewebe des Lernens ein gemeinsames Muster über eine weit reichende Neuronenwelle hin- und herpendeln lassen. Wo immer Männer und Frauen auch hingingen, brachten sie ihre emulativen Meme mit. Der Konformitätsverstärker arbeitete so stark, daß er eine gemeinsame Form für 1,5 Millionen Jahre aufrecht erhielt.

Die Umwelten, in die die Menschen ausschwärmten, trieben aber auch die Diversitätsgeneratoren an. Viele Anthropologen in Südostasien sind davon überzeugt, daß die Menschen die Gestaltung ihrer Jagdwerkzeuge nicht durch Steine und Holz lernten, sondern durch eine Pflanze, die eine harte und scharfe Spitze haben konnte - vom Bambus. Vor 100000 Jahren entstanden regionalere Variationen, was zu einer weiteren Vergrößerung des Gehirns um 20 Prozent führte, die mit dem Homo sapiens sapiens , unserem unmittelbaren Vorläufer, der uns am meisten gleicht, entstand. Im Norden fanden Menschen Möglichkeiten, mit der Kälte zurechtzukommen. Das Wetter veränderte sich katastrophenartig. Riesige Seen bildeten sich und verschwanden wieder. Neue Landstriche kamen an die Oberfläche, als die Meere zurückwichen, und tauchten unter den zurückkehrenden Wellen wieder unter. Selbst das Mittelmeer verwandelte sich immer wieder vollständig. All das ließ neue Formen der Flexibilität entstehen. Die Protomenschen wiederholten die alten Verhaltensmuster der Bakterien, die durch die Ausbildung ganz neuer Lebensweisen über Katastrophen triumphierten.

Vor langer Zeit lernten Schimpansen und Paviane in Gruppen zu jagen. Das Fleisch der Colobusaffen ist bei Schimpansen begehrt. Sie formen sich listig in Schwadronen, um ihr auserwähltes Opfer zu umzingeln. Paviane erfinden gelegentlich Gruppentaktiken , um eine kleine Gazelle oder ein Wildschwein zu erlegen. Doch nach einigen Jahren ziehen die Männchen, die Fleisch nach Hause bringen, weiter und vergessen diese soziale Fertigkeit, um sie dann später wieder zu entdecken.

Vor 35000 Jahren eröffneten Gehirne wie die unseren der Menschheit eine Ausbeute, die weit über das tierische Können hinausgeht. Schimpansen vergessen ebenso wie wir nicht die Tricks der Gruppenjagd. Mit unseren viel geschickter als vor zwei Millionen Jahren behauenen Steinwerkzeugen konnten wir der Beute das Fell abziehen (während der Eiszeit gab es viele wollene Mammuts), ihre Rippen aushöhlen, die Streben aus Kalzium als Gerüste für große Hütten verwenden und die sichelförmigen Knochen mit Fell überziehen. Ein Fell war nicht ausreichend, um ein Heim mit einer gewissen Größe zu bedecken. Unsere Fähigkeit, ein Werkzeug zur Herstellung eines anderen zu benutzen, wozu anscheinend kein Vogel und kein Schimpanse in der Lage ist, ermöglichte es uns, das Weben weit über die Grenzen der Vögel und Schimpansen hinauszutreiben, indem wir Fäden aus Sehnen und Nadeln aus Knochen herstellten. Damit konnten unsere Vorfahren in der Eiszeit genügend Felle zusammennähen, um das Dach und die Wände des aus Skeletten bestehenden Gerüsts zu bedecken. Sie konnten auch Pelze zu Bekleidung verarbeiten und dann ihre Haute couture mit Ketten aus geschnitzten, gedrillten und polierten Knochenstücken schmücken. Unsere neuen Fähigkeiten haben uns zum kunstvollen Schmuck der frühen Vögel zurückkehren lassen.

Warum kehren dieselben Kräfte, viele sogar mit demselben modus operandi, bei Menschen, Mikroorganismen, Vögeln und anderen Tieren wieder? Man sagt oft, daß Menschen sich nur durch 1,6 bis 3,6 Prozent unserer Chromosomen von Schimpansen unterscheiden. Doch wir vergessen, daß wir die meisten unserer Gene mit den primitivsten bis zu den höchsten Lebensformen gemeinsam haben. Wir sind alle durch ein gemeinsames Erbe programmiert. In späteren Kapiteln werde ich eine Theorie vorstellen, die erklärt, warum alte Motive in den seltsamsten Formen wiederkehren, also warum etwa die Menschen so sehr wie Quarks und Leptonen handeln müssen, die nach Gesellschaft lechzen. Diese Theorie durchdringt das kosmische Gewebe bis hinunter zu einer Ebene, der Moleküle, Gene und Herrscher gehorchen müssen. Aber wir müssen die Enthüllung dieses Skalpells auf später verschieben und zuerst sehen, wie das Pentagramm der komplexen Adaptivität seine tiefsten Geheimnisse bewirkt.

Sprachnetze

Knoten aus Menschen wie Synapsen zu vernetzen, war eine Tätigkeit über große Entfernungen hinweg, die zuerst vor zwei Millionen Jahren mit der Spezialisierung des Handels auf seltene und bearbeitbare Steine auftrat. Eine entscheidende Hilfe beim Geben und Nehmen von handwerklichem Können und Rohmaterial war ein Vermittler, der ganze neue Feinheiten von einem Geist auf den anderen übertragen konnte. Das waren Töne, mehr als die wrrs und das Geschnatter der Affen, die Bedeutungsbüschel zu Geweben verbanden. Spezialisten nennen das die syntaktische Sprache: Geräusche, die in strukturierten Ketten aus Substantiven, Verben und Adjektiven zusammengefügt werden. Manche Theoretiker meinen, daß der Ursprung von Sätzen vor zwei Millionen Jahren stattgefunden hat. Eine Hypothese geht davon aus, daß die Bildung der Sprache mit dem Beginn der Werkzeugherstellung zusammenfiel. Eine andere behauptet, daß sie als Ersatz des Lausens aufkam, das eine Gruppe von Affen zusammenhält. Selbst die vorsichtigsten Experten scheinen darin übereinzustimmen, daß es vor 30000 Jahren bereits eine voll entwickelte Sprache gab. Unter den vielen Spekulationen sticht ein Hinweis heraus. Die Untersuchung eines zwei Millionen Jahre alten Schädels von Koobi Fora zeigt, daß Homo habilis eine bei unseren anderen Urahnen unbekannte Gehirngröße besaß. Das neue Gehirnwunder war das Broca-Areal : eine Maschine , die für einen flüssigen und nuancierten Selbstausdruck notwendig war.

Seit vielen Kapiteln habe ich die Form eines sozial vermittelten Wissens nachgezeichnet, die in älteren memetischen Theorien nicht zur Geltung kam: das Verhaltensmem. Menschliche und tierische Körper nehmen Informationen durch Druckmesser an den Fußsohlen, von Nerven, die sich an der Basis der Pelz- und Körperhaare befinden, von den Spitzen der Neuronenbahnen, die Moleküle aus der Luft in den Nasenhöhlen abtasten, und von den Lichtdetektoren in den Augen auf. Das Nervensystem leitet diese Ernte zu einem Apparat, dessen seltsame Arbeitsweisen wir bald kennenlernen werden. Und all das wird durch das limbische System, das emotionale Zentrum des Gehirns, geschleust - ein Erbe aus der Zeit der Reptilien und frühen Säugetiere. Das instinktive und emotionale Gedächtnis löst dort signalisierende Erregungen wie Aufregung oder Ekel aus. Wenn eine Reihe hereinkommender Informationen eine bedeutungsvolle Zündung bewirkt, leitet das limbische System das Eingetroffene zu den Speichern des Geistes weiter. Aber nicht alle Speicher gleichen sich, sondern es gibt zwei radikal verschiedene Formen.

Wenn die eintretende Empfindung Furcht, Begeisterung oder eine Körperbewegung ist - Springen vom Zweig eines Baumes zu einem anderen, Fahrradfahren, eine Widerstand leistende Nuß solange Aufhämmern, bis sie ihr Inneres preisgibt -, wird sie zur Amygdala transportiert und tief unter das Gewölbe des Kortex in ein bogenförmiges Netz von Axonen eingebettet, das man Striatum nennt. Bei Erfolg wird sie zu den motorischen und sensorischen Bahnen, zum Cerebellum, und zu einem weitläufigen Nervensystem weitergeschickt, das so wenig gesteuert werden kann, daß man es "autonom" nennt. Wir haben die erstaunliche Vielfalt von Tieren kennengelernt, die durch Nachahmung lernen können, indem sie den weitergereichten Fußball emotionaler und muskulärer Gedächtnisinhalte auffangen. Bei den Menschen dringen die impliziten Meme nicht in das Bewußtsein. Wir wissen, wie wir Fahrradfahren können, aber der beste Rennfahrer kann die Symphonie der neuronalen Hinweise nicht erklären, die er zu so etwas Einfachem wie die Wahrung des Gleichgewichts benutzt. Wenn wir uns bewußt auf den Winkel konzentrieren würden, den jeder Wirbel einnehmen muß, während wir uns mit Höchstgeschwindigkeit durch den Verkehr schlängeln, würden wir vermutlich das Gleichgewicht verlieren und mit unserem Kopf auf den Asphalt knallen.

Das Broca-Areal, eine Erweiterung des Gehirns, die der als KNM-ER 1470 bezeichnete Homo habilis vor zwei Millionen Jahren erwarb, half bei der Schaffung ganz neuer Formen von Datenbehältern, die explizite Meme beherbergen konnten. Explizite Gedächtnisinhalte, die wir sprachlich wiedergeben und kommunizieren können, die unser Geschichten erzählendes Bewußtsein in detaillierte Anweisungen umsetzen oder durch ein hochbezahltes Stillschweigen mit anderen gemeinsam haben kann, nehmen einen ganz anderen Weg zum Langzeitgedächtnis. Sie wandern hinauf zum Hippocampus, wo sie auf die Großhirnrinden der Temporallappen verteilt werden, die vom Broca-Areal und zwei anderen, beim frühen Homo habilis entstandenen Instanzen beeinflußt werden können: dem Gyrus praecentralis und dem Gyrus angular . Sie gehören zu den Prozessoren , die Daten für unser geschwätziges Bewußtsein und unsere redselige Zunge aufbereiten.

Die Sprache transportiert völlig neue Eigenschaften in das Gruppengehirn. Unter anderem verwebt sie individuelle Gehirne zu einem Patchwork der Massenhalluzination: zu einer komplizierten gemeinsamen Ansicht, die einen Stamm über alle sichtbaren Horizonte hinaustreiben oder einen Clan dramatisch aus der Bahn werfen kann. Diese gemeinschaftliche Illusion, die man menschliche Kultur nennt, wurde zur kompliziertesten Netzwerkverbindung. Aber es gibt in ihr ein Paradox, da Sprache und Kultur gleichzeitig zwei Gegensätze hervorbringen: Konformität und Diversität. Der Kampf dieser tiefen Gegensätze verleiht dem Gruppengehirn eine Beweglichkeit, die es seit dem schöpferischen, vor 3,5 Milliarden mit den Cyanobakterien entstandenen globalen Netz nicht mehr gab.

Um das Gewebe und den Kampf der kulturellen Phantasmen aufzudecken, müssen wir zunächst eine der seltsamsten Weisen darstellen, durch die Konformitätsverstärker Generationen zusammenbanden und Menschen in ein gemeinsames Geflecht tief verstrickten: die Illusion der Wirklichkeit.

Was ist 'Wirklichkeit'?

Kehren wir für einen Augenblick zum Grundsätzlichen zurück. Was ist eigentlich "Wirklichkeit"? Ist sie so fest, daß man sie mit seinen Händen berühren und mit seinen Augen anschauen kann, oder ist sie, wie die Postmodernen behaupten, die Projektion des sozialen Gehirns? Der Postmodernismus ist oft eine modische Verwirrung, aber in diesem Fall können die Augen und Hände nicht zur Wirklichkeit durchdringen, während die "radikalen Konstruktivisten" einen Zugang gefunden haben. Die Wirklichkeit ist jedoch viel konstruierter, als dies die modischsten Postmodernen glauben.

In den späten 30er und frühen 40er Jahren sagten die logischen Positivisten, daß Wissen aus zwei Bestandteilen besteht: "Sinnesdaten und die Begriffe, die wir zur Verknüpfung der Sinnesdaten benutzen." J.S.L. Gilmour , der die entstehende Philosophie mit formuliert hatte, behauptete, daß Sinnesdaten "objektiv und unveränderlich" seien. Das ist eine schöne, aber irrige Überzeugung. Oft werden die Untersuchungen des kanadischen Neurologen Wilder Penfield von denjenigen zitiert, die der Meinung sind, daß die Wirklichkeit etwas Konkretes ist, das wir ohne Verzerrung wahrnehmen. Als Penfield 1933 das geöffnete Gehirn von neurochirurgischen Patienten mit Elektroden stimulierte, berichteten sie von lebhaften und detaillierten Erinnerungen. Viele zogen daraus die heute noch akzeptierte Schlußfolgerung, daß das Gehirn hoch aufgelöste Aufzeichnungen der früheren Erfahrungen in sich abspeichert. Spätere Untersuchungen zeigten, daß diese Schlußfolgerung falsch war, denn viele der "Erinnerungen" waren fiktiv. Ein Patient erinnerte sich beispielsweise minutiös, wie er einmal beraubt wurde. Das Problem war nur, daß das in seinem Leben niemals geschehen ist.

Die Wirklichkeit der äußeren Welt wird nur schwach im menschlichen Geist abgebildet. Ein Zeuge des Anschlags auf Abraham Lincoln schwor, daß der Mörder auf seinen Händen und Knien gekrabbelt sei. Ein anderer sagte, er sei fünf Meter weit gesprungen, ein dritter erklärte, er sei stehengeblieben und hätte einen lateinischen Satz gesagt, und ein vierter behauptete voller Inbrunst, er sei eine Fahnenstange herunter geklettert. Doch es gab hier überhaupt keine Fahnenstange. Selbst die am besten geschulten Beobachter vermischten Fiktives mit "Tatsachen" . Bevor die Chromosomen entdeckt wurden, schauten Wissenschaftler aufmerksam die Zellen an und zeichneten dann, was sie "gesehen" hatten, wobei die Chromosomen fehlten. Nachdem man diese nachgewiesen hatte, statteten die Wissenschaftler ihre "Porträts" plötzlich mit ihnen aus. Als man die Chromosomen noch nicht kannte, hätten die Beobachter geschworen, daß es dort so etwas nicht gab.

Andere seltsame Phänomene zerfasern, falten und verändern die angebliche Stabilität der "wirklichen Welt". Wenn man die Beleuchtung heller und dunkler macht, dann scheint ein Summen in der Nähe ebenfalls stärker und schwächer zu werden. Wenn man ein Licht anmacht und immer wieder einen leisen Ton abspielt, und dann das Licht bei völliger Stille anschaltet, wird man einen Ton hören, den es nicht gibt.

Was wir sehen, ist das Endprodukt, das durch Vernachlässigen, Kodieren, Senden über lange Entfernungen, neuronales Raten sowie montierendes Schneiden und Einfügen entsteht. Das Schneiden und Würfeln beginnt bereits im Auge, das keine Schnappschüsse macht, sondern den Input zerteilt und neu zusammenfügt. Einige Photozellen sind auf die Erkennung eines dünnen Randes spezialisiert. Wenn sie das registrieren, wonach sie suchen, haben sie große Freiheiten. Sie "fordern", daß die Zellen um sie herum keine Berichte mehr über das von ihnen "Gesehene" machen, so daß die Randexperten sich auf die Kontur konzentrieren können, an deren Herausarbeitung sie arbeiten. Ja, das Jonglieren mit den Daten setzt bereits an der Grenze ein, wo unsere Sinne der äußeren Welt begegnen.

Danach gibt es radikale Verwandlungsprozesse. Photozellen setzen einfallendes Licht in chemische und elektrische Impulse um. Die 125 Millionen Neuronen des Auges komprimieren, um alles noch weiter zu verdrehen, ihre vielen Interpretationen in einem Kode, der durch ein Kabel mit nur noch einer Million Neuronen gepresst wird. Der komprimimierte Strom kommt, sobald er im Gehirn eintrifft, zu einem kurzen Halt im Thalamus, wo er mit Datenströmen von den Ohren, Muskeln, Fingerspitzen und sogar von Sensoren der Körperhaltung vermischt, verbunden und verändert wird.

Das drei Mal neu angeordnete Durcheinander von Puzzlesteinen wird dann zum visuellen Kortex gesendet, wo es wieder aufgetrennt wird. Jeder Teil wird in einem anderen Speichergürtel untergebracht, der für das Herausfinden unterschiedlichen Bedeutungen zuständig ist. Wenn man sich auf einen Drehstuhl herumwirbelt, wird ein Gürtel die verschwommenen Flecken, die auf die Augen einströmen, zu einem klaren Bild mit künstlicher Schärfe gestalten. Inzwischen prüfen Neuronen überall im Gehirn vereinzelte Fragmente und versuchen, diesen ihre Bedeutung zuzuschreiben. Zellen, die beispielsweise signalisieren, ob es sich bei einem Tier oder einem Mensch um einen Freund oder einen Feind handelt, fügen ihre beste Schätzung der zirkulierenden Sendung "sensorischer" Bestandteile hinzu.

Schließlich bringen Repräsentanten aus dem oberen Colliculus, dem Thalamus, dem Locus coeruleus und dem okzipitalen Cortex ihre widerstreitenden Schlußfolgerungen zusammen und stimmen darüber ab, um was es sich bei den Lichtstrahlen handeln könnte, die auf die Retina treffen. Erst wenn sie eine Übereinkunft gefunden haben, wird das Bild zur linken Großhirnhälfte übermittelt und dem Bewußtsein als ein vollendetes Panorama präsentiert. Wir sehen nicht das Ergebnis einer unmittelbaren Wahrnehmung, sondern eine Rekonstruktion , die fast einem fragilen Kunstwerk gleicht.

Den Montageprozeß , den wir "Sehen" nennen, ist so mächtig, daß die Konstruktionsgruppe für sensorische Wahrnehmung, wenn man eine Brille aufsetzt, deren geschliffene Linsen oben und unten verkehren, bald die umgedrehten Lichtstrahlen benutzen und ihr Bild wieder andersherum ausrichten.

Die Augen sind nicht die einzigen "Sinne", die die Welt vereinfachen. Der ganze Körper des Menschen besteht aus unterschiedlichen Systemen, die Signale hin- und hersenden, die manchmal gegensätzlich sind und manchmal einen verwirrenden synthetischen Kompromiß schließen. Michael Gazzaniga glaubt, daß ein Zentrum in der linken Großhirnhemisphäre alle Nachrichten aus den im Wettstreit liegenden Arealen zusammenfaßt und sie zu einer für den Augenblick bestimmten politischen Behauptung formiert. Nach Gazzanigas Meinung wird hier daraus auch eine Theorie formuliert, die es das Selbst nennt, und eine, die als Welt bezeichnet wird. Doch diese sich fortwährend verändernde Theorie kann eine schreckliche Grundlage sein.

Oft haben wir nicht die entfernteste Vorstellung, was in unserer unmittelbaren Wirklichkeit, in unserem Selbst, vor sich geht. Wissenschaftler schlossen Versuchspersonen an einen Pulsmesser am Finger an und jagten dann ihre menschlichen Meerschweinchen in eine ziemlich haarsträubende Situation. Als die Tortur zu Ende war, wurde jedes Opfer befragt, wie es alles empfunden hatte. Viele sagten "schön", bei denen der Belastungsdetektor zeigte, daß sie in Wirklichkeit sehr aufgeregt waren. "Aufgeregt" sagten andere, die nach ihren physiologischen Signalen in Wirklichkeit ziemlich ruhig waren. Andere Untersuchungen haben gezeigt, daß Jugendliche, die sagen, sie seien aggressiv, dies oft nicht sind, während es jene sind, die sich nicht als aggressiv bezeichnen. Bei einem Experiment wurden Frauen mit einem Gerät verbunden, das den Blutdurchfluß in der Vagina mißt. Dann wurde ihnen eine erotische Geschichte zum Lesen gegeben. Viele, die sagten, sie seien erregt gewesen, waren es nicht, während andere, die das Gegenteil sagten, erregt waren. In einem anderen Experiment wurden Versuchspersonen an ein EEG angeschlossen, um den Schlaf aufzuzeichnen. Man ließ sie einschlafen. Auch wenn viele in einen tiefen Schlaf fielen, waren sie normalerweise davon überzeugt, wach geblieben zu sein.

Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, haben die inneren Montageschritte, die unsere Wirklichkeit zusammenfügen, viele offene Schleifen, die Input von vielen anderen Menschen benötigen. Auf einer weitaus tieferen Ebene, als wir dies wissen, sind auch unsere härtesten Gewißheiten Chimären, die durch die Konformitätsverstärker des gemeinsamen Geistes in einer Position erstarrt sind.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer