Westliche Lesarten des China-Taiwan-Konflikts und ein Perspektivenwechsel

Seite 2: Entsprechung: chinesisches Kriegsschiff vor Helgoland

Diesen Standpunkt untermauern die USA seit Langem durch Militärschiffe, die sie dort - gegen chinesische Proteste - durchschicken. Gerade hat Großbritannien dasselbe exerziert. Die Fregatte Bayern hat zwar nicht die Taiwanstraße durchfahren, ansonsten aber mit allerhand kleinen Provokationen (durch Anlaufen völkerrechtlich umstrittener Stützpunkte der Briten und Amerikaner) auf die deutschen Ansprüche in dieser Weltgegend aufmerksam gemacht.

"Wir reden nicht nur über die Freiheit von Seewegen, die von China gefährdet wird, sondern wir sind auch bereit, etwas dafür zu tun", hatte die deutsche Noch-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im Frühjahr in einem Interview erklärt. "Ich möchte, dass wir nicht nur schöne Worte machen, sondern wirklich etwas tun", hatte Kramp-Karrenbauer betont.

Frage an dieser Stelle: Wie würde es wohl das deutsche Publikum und seine Medien finden, wenn ein chinesisches Kriegsschiff vor Helgoland aufkreuzt?

Die Bedeutung der Taiwanstraße sieht die Regierung in Beijing genauso wie ihre westlichen Kollegen - und zwar aus sehr gleichgearteten Gründen. Als Welt-Exportnation verlangt sie freie Fahrt für ihren Schiffsverkehr - und sie kennt die US-amerikanischen Embargo-Maßnahmen gegen missliebige Staaten. Um sich in dieser Hinsicht zu schützen, hat sie in den vergangenen Jahren nicht nur die Neue Seidenstraße mit ihren kontinentalen Ausweich-Routen ins Leben gerufen, sondern vor allem ihre Marine gewaltig aufgerüstet.

Im Unterschied zu den anderen Beteiligten liegt der Ort der Auseinandersetzung allerdings direkt vor dem chinesischen Festland - weshalb die chinesischen Strategen eine Art Sicherungslinie einziehen wollen und deshalb zunehmend über die erste Inselkette hinaus drängen. "US-Strategen sprechen vom chinesischen Versuch, aus ihr 'auszubrechen' und Einfluss im Westpazifik zu gewinnen. Das wiederum will Washington mit allen Mitteln verhindern", hieß es Mitte Oktober in einer Analyse der Tageszeitung junge Welt.

Für die Volksrepublik ist die Zeit der Angebote vorbei

Um das Veto der USA gegen das Recht auf die Heimholung ihrer "Provinz" aufzuweichen, hatte die chinesische Außenpolitik zu Beginn der 2000er-Jahre eine Zeit lang diplomatische Angebote mit dem Inhalt lanciert, Festlandchina werde auf eine förmliche staatsrechtliche Wiedervereinigung eventuell verzichten, wenn Taiwan seine Feindseligkeit aufgebe, sich als Tochternation des "einen großen China" bekenne und das durch strikte Neutralität und Abrüstung untermauere. Auch heute wird diese Option noch im Spiel gehalten.

Gleichzeitig - und in Folge der ablehnenden Haltung Taiwans wie der aktuellen Konfrontations- und Aufrüstungspolitik der USA - pocht Beijing allerdings ziemlich kompromisslos auf sein "gutes Recht", sich alle Mittel, militärische Gewalt eingeschlossen, vorzubehalten.

Bereits 2005 hatte der Nationale Volkskongress dieses Recht als "Anti-Abspaltungs-Gesetz" offiziell in Rechtsform gegossen. Chinas Armee hat heute mehr als 1000 Mittelstreckenraketen auf Taiwan gerichtet und die VR präpariert einen relevanten Teil ihrer Truppen für die Eroberung der Insel. Der chinesische Ministerpräsident Xi Jinping hat anlässlich des taiwanesischen Nationalfeiertags zu einer "friedlichen Wiedervereinigung" aufgerufen, die am besten "den Interessen der gesamten chinesischen Nation diene".

Er hat aber auch diejenigen gewarnt, die "das Land spalten" wollen - sie würden "kein gutes Ende nehmen". Und Außenminister Wang Yi erklärte im März dieses Jahres:

Die beiden Seiten der Taiwanstraße müssen sich vereinen und sie werden sich vereinen. Dies ist der kollektive Wille des chinesischen Volkes. Die chinesische Regierung ist unerschütterlich entschlossen, die nationale Souveränität und territoriale Integrität zu wahren. Wir sind in der Lage, jede Form von separatistischen Aktionen zur "Unabhängigkeit Taiwans" zu vereiteln.

Wang Yi, Außenminister der Volksrepublik Chinas

Die Volksrepublik zeigt damit deutlich, dass sie an ihrem Ziel festhalten will. Auch für sie ist das ein geostrategisches "Muss", wenn sie sich nicht von den westlichen, speziell US-Streitkräften, vor ihrer Küste einschnüren lassen will. Das untermauert sie - insbesondere dann, wenn sie sich durch US-Waffendeals oder Aktionen der taiwanesischen Regierung düpiert sieht - auch demonstrativ mit Flügen, die die von Taiwan beanspruchte "Luftverteidigungszone" verletzen und die taiwanesischen "Selbstverteidigungskräfte" beschäftigen (wie bereits mehrmals in diesem Jahr und zuletzt vor einigen Tagen).

Resümee

Ideologiekritisch ist es - nicht nur in diesem Fall - eine interessante Sache, wann Journalisten mit ihrer Berichterstattung beginnen, was sie in ihre Darstellung mit einbeziehen, was sie weglassen und wie sie parteinehmend mit den Kategorien von "Angriff" und "Verteidigung" operieren. Eine einfache "Probe aufs Exempel" in solchen Fragen liefert übrigens die Überlegung, wie wohl ein Journalist der Gegenseite sein Publikum über dieselbe Sache informieren würde.

Realpolitisch ist Taiwan einer der vielen notwendigen Streitfälle in der Konkurrenz der Weltmächte. Die USA halten den Aufstieg Chinas, den sie ein gutes Stück weit selbst aus politischen und ökonomischen Interessen heraus ermöglicht haben, nicht (mehr) aus. Sie haben China deshalb zum Feind Nr. 1 ihrer Weltordnung erklärt und bereiten sich auf allen erdenklichen Ebenen auf eine große Auseinandersetzung vor.

Taiwan hat angesichts seiner Lage und Bedeutung durchaus das Zeug dazu, zum "Hotspot" dieser Auseinandersetzung zu avancieren. Die USA instrumentalisieren die Insel seit Gründung der Volksrepublik für ihre Interessen; umgekehrt basiert die "taiwanesische Staatsräson" weitgehend auf der Rolle, die die Insel für die Geostrategie der Vereinigten Staaten spielt. China will den weiteren Ausbau eines US-Stützpunktes in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht hinnehmen - auch seiner Führung ist die "Kuba-Krise" bekannt! Und es beansprucht freie Durchfahrt für seine Schiffe in der Taiwanstraße.

Eine Frage von gut und böse, von demokratisch und autoritär, von wertebasierter Regelordnung und so weiter ist das alles nicht - sondern eine der internationalen Staatenkonkurrenz und deren Verlaufsformen bis hin in die mediale Feindbildpflege.

Wie stets bereiten die USA die anstehenden Auseinandersetzungen sorgfältig vor; die eingangs zitierte Darstellung der Konstellation als die des "kleinen", "demokratischen" Taiwan, das vom autoritär-aggressiven China grundlos "angegriffen" wird, ist Bestandteil des "Framing", das die als nötig erachtete Zustimmung für die westlichen Strategien in der internationalen Öffentlichkeit erzeugen soll. Wie stets können sich die Politiker dabei auf ihre freie Presse verlassen, die die regierungsamtlichen Verlautbarungen unisono ans Volk weitergibt, ganz ohne jede Zensur.

Die Bertelsmann-Stiftung hat das Handeln der "Akteure" übrigens gerade so zusammengefasst: "Obwohl die Großmächte (...) sich der Gefahren einer Eskalation durchaus bewusst sind, scheint ein kooperatives Arrangement im Sinne eines Multilateralismus- oder G2-Szenarios derzeit nicht der inneren Logik der Systeme zu entsprechen."

Da hat die Welt wohl ein weiteres Mal Pech gehabt - jedenfalls wenn diejenigen, die in Europa, Amerika wie China das Kanonenfutter ihrer Regierungen sind, nicht einmal daran gehen, diese globale Staatenkonkurrenz und ihre mörderischen "Eskalationen" auszuhebeln. Gründe dafür hätten sie reichlich, nicht nur in den Fragen von Krieg und Frieden, sondern schon in den Konsequenzen, die die Konkurrenz ihrer Unternehmen wie Staaten für sie an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen hat.