Whistleblower-Preis 2015: "Stich ins Wespennest"

Jury-Mitglied Gerhard Baisch begründet die Vergabe an Gilles-Eric Séralini, der über das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat forschte und massiv kritisiert wurde

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"Man bewirft Séralini persönlich mit Dreck und wärmt unbestätigte uralte Vorwürfe gegen seine wissenschaftliche Integrität wieder auf." So formuliert es Gerhard Baisch, Rechtsanwalt und Mitglied der Jury, die am Freitag um 19:30 Uhr im Bürgersaal des Karlsruher Rathauses den Whistleblower-Preis 2015 vergeben wird, im Interview mit Telepolis. Preisträger 2013 war Edward Snowden.

Kaum hat die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und die deutsche Sektion der Juristenorganisation IALANA bekanntgegeben, wer die Preisträger sind, meldeten sich große deutsche Zeitungen zu Wort, die einen der Preisträger als des Preises nicht würdig betrachten. Neben dem ehemaligen US-Drohnenpilot Brandon Bryant und dem posthum mit einem Ehrenpreis ausgezeichneten deutsch-französischen Physiker Léon Gruenbaum und NS-Verfolgten zeichnet die Jury auch den französischen Wissenschaftler Gilles-Eric Séralini aus. Sein Forschungsgebiet: das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat (Sind Nahrungsmittel mit genetisch modifizierten Bestandteilen giftig?, "Die Beweislast liegt jetzt bei der Industrie").

Im Telepolis-Interview verdeutlicht Baisch, warum die Jury Séralini ausgewählt hat und was er von der Kritik an dem Wissenschaftler hält.

Herr Baisch, kaum waren die Preisträger bekannt gegeben, erschienen Artikel, die die Auswahl von Séralini stark kritisierten. Wie haben Sie die Kritik aufgenommen?
Gerhard Baisch: In der Jury haben wir Kritik durchaus erwartet, nach dem Stich ins Wespennest der Gentechnik-Freunde, allerdings nicht so niveaulos. Als in kürzester Zeit andere Leitmedien nachzogen, ohne auch nur die angekündigte ausführliche Begründung für die Preisvergabe an Professor Séralini abzuwarten, fühlten wir uns in unserer Auswahl bestätigt. Offenbar soll die inhaltliche Debatte, die wir mit dem Preis durchaus befördern wollen, schon im Vorfeld niedergemacht werden.
Was genau stört Sie an der Kritik?
Gerhard Baisch: Man bewirft Séralini persönlich mit Dreck und wärmt unbestätigte uralte Vorwürfe gegen seine wissenschaftliche Integrität wieder auf. Zudem wird er als "wissenschaftliche Pfeife" diskreditiert (und die Jury für die Preisvergabe gleich mit, weil sie ihm auf den Leim gekrochen sei).
Professor Séralini und seine Forschergruppe arbeiten seit über 10 Jahren an Fragen, wie sich die Verwendung genmanipulierter Organismen und darauf abgestimmter Pestizide auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit auswirken. Die Forschergruppe hat in internationalen Fachzeitschriften eine Vielzahl von peer-reviewten Beiträgen veröffentlichen können, also Beiträgen, die jeweils von zwei im Fachgebiet ausgewiesenen Kapazitäten vorher auf ihre Qualität und den Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs geprüft wurden. Das beweist doch eine fundierte und erfolgreiche Forschungstätigkeit.
Das gilt auch für die besonders kritisierte Langzeit-Studie von 2012 zu dem NK603-Genmais von Monsanto und dem dazu passenden Herbizid Roundup. Die Studie wiederholte eine von Monsanto selbst für das Zulassungsverfahren vorgelegte 3-monatige Tierstudie an Ratten gezielt unter vergleichbaren Bedingungen, verlängerte aber den Beobachtungszeitraum auf zwei Jahre. Dabei beobachteten die Forscher, dass bei den Tieren, die den Stoffen aus dem Genmais und dem Pestizid ausgesetzt waren, unerwartet früh und zahlreich Tumore auftraten; ob und inwieweit es sich dabei eventuell um Karzinome handele, müsste in weiteren Untersuchungen auf einer anderen Basis abgeklärt werden, so die Forscher. Für das Zulassungsverfahren müssten jedenfalls Langzeitversuche durchgeführt werden. Bei den üblichen 90-Tage Studien würden die Tiere getötet, ehe die Auswirkungen auf ihren Organismus feststellbar seien.
Dass diese für unsere Gesundheit außerordentlich wichtige Studie seinerzeit durch Druck interessierter Kreise zunächst vom Herausgeber mit unzureichenden Gründen zurückgezogen wurde und erst zwei Jahre später nach Protesten von zahlreichen Wissenschaftlern wieder veröffentlicht werden konnte, ist der eigentliche Skandal.
Mit keinem Wort erwähnen die Kritiker der Preisvergabe, dass inzwischen im März dieses Jahres die "International Agency for Research of Cancer (IARC)", eine Arbeitsgruppe der World Health Organization (WHO) der Vereinten Nationen, den Wirkstoff von Glyphosat (Hauptbestandteil von Roundup) als "wahrscheinlich für den Menschen krebserregend" eingestuft und damit die Wiederzulassung von Roundup für den EU-Raum zunächst gestoppt hat. Dabei hat die IARC für ihre Beurteilung sieben Studien der Séralini-Gruppe berücksichtigt; keine andere Forschergruppe hat mehr Studien beigesteuert.
Gilles-Eric Séralini. Bild: IALANA
Séralini wird unter anderem vorgeworfen, dass seine Untersuchungen nicht sauber durchgeführt wurden. Was halten Sie dem entgegen?
Gerhard Baisch: Von den vielen Veröffentlichungen der Forschergruppe um Séralini wird nur die Studie von 2012 so angegriffen. Professor Séralini hat sich selbst sehr sachlich mit den Kritikern in den Fachzeitschriften auseinandergesetzt. Das lag uns vor. Hauptkritikpunkt war die Auswahl des Rattenstamms, der bekanntermaßen tumoranfällig ist. Es war aber derselbe Stamm, den auch Monsanto verwendet hatte. Und unbestritten blieb, dass sich im Langzeitversuch die tumorfreien Lebenszeiten verkürzten.
Weiter war Teil der Kritik, die Zahl der Versuchstiere sei mit jeweils 10 in der Gruppe zu gering gewesen. Dabei wird aber verschwiegen, dass es sich um eine sogenannte Toxizitäts-Studie handelte, für die mehr Tiere nicht Standard sind. Zwar hatte Monsanto in der 30-Tage-Studie 20 Tiere verwendet, von denen aber dann auch nur 10 - übrigens unter nicht veröffentlichten Kriterien - ausgewählt und untersucht wurden.
Schließlich wird vorgebracht, andere Langzeitstudien zu Glyphosat hätten derartig auffällige Ergebnisse nicht ergeben. Das mag sein, aber die Studie von Professor Séralini war anerkanntermaßen die erste Langzeitstudie, in der die Versuchstiere nicht nur Glyphosat, sondern "Roundup", also ein Handelsprodukt von Glyphosat mit Beistoffen, verabreicht bekommen hatten - übrigens bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass für die weitere Untersuchung zur Tumorbildung vor allem die Beistoffe in den Blick genommen werden müssten. Das hat die Gruppe um Séralini in den letzten Jahren dann auch getan.
Insgesamt geht die Kritik an der Studie von 2012 fehl, weil sie durchgängig von den Forschern die höheren Standards einer Krebsstudie fordert und außer Acht lässt, dass dies erklärtermaßen nicht der Anspruch der Studie war. Aber sollten die Forscher die nebenbei aufgefallenen Tumorbefunde verschweigen? Immerhin boten die doch wahrlich Anlass für weitere Untersuchungen.
Dabei sollte man auch erwähnen, dass schon Séralinis begrenzte Toxizitäts-Studie ca. 3 Mio. € gekostet hat, die nur durch einen großen Kreis von Unterstützern aufgebracht werden konnten. Wäre es nicht Aufgabe von Monsanto und anderen Produzenten, solche kostspieligen Langzeitstudien zum Ausschluss von Krebsgefahren im Zulassungsverfahren vorzulegen?

Zweierlei Maß bei der Bewertung von Studien über essentielle Fragen der Gesundheit von Mensch und Tier

Wie hat die Jury denn für sich die Frage nach der Seriosität von Séralinis Forschung beantwortet? Anders gefragt: Was haben Sie getan, wie haben Sie im Vorfeld Ihrer Entscheidung recherchiert, um Séralinis Forschung zu bewerten?
Gerhard Baisch: Natürlich haben wir die ganze Diskussion unter GMO-Befürwortern und -Kritikern um die Studie von 2012 genau verfolgt. Wir wollen und können aber nicht in Fachfragen der Molekularbiologie entscheiden. Auch die Bewertung der Forschung von Professor Séralinis Gruppe maßen wir uns nicht an. Obwohl wir mehrheitlich in der Jury nicht vom Fach sind, sahen wir aus der weiteren Debatte unter den Forschern, dass die wesentlichen Kritiken an der Studie von 2012 fehlgehen, dass die Studie mitnichten "junk science" (ZEIT v. 24.9.), sondern Anlass für eine weiterführende Forschung zu Fragen der GMO im Zusammenhang mit Pestiziden war. Dass es dabei um essentielle Fragen der Gesundheit von Mensch und Tier geht, liegt auf der Hand.
Immer mehr drängte sich der Jury auch die Frage der doppelten Standards auf: Warum werden die GMO-kritischen Stimmen so vehement kritisiert, die GMO-freundlichen aber nicht nach denselben Kriterien hinterfragt? Von größter Bedeutung scheinen uns schließlich die strukturellen Mängel im Zulassungsverfahren zu sein: Warum werden nicht die an den Markt drängenden Produkte selbst - statt nur einzelne Wirkstoffe - eingehenden Untersuchungen bis zum wissenschaftlich transparenten Beweis ihrer Ungefährlichkeit anhand veröffentlichter Daten unterzogen?
GMO-Mais und Glyphosat unter Verdacht.
In einem Artikel der FAZ heißt es: "Séralini wird als Verfolgter, Entehrter und Enteigneter des etablierten Wissenschaftssystems gewürdigt und als Opfer einer 'Kampagne interessierter Kreise aus der Chemieindustrie'. Dass er Neutralität, Unabhängigkeit und die Spielregeln des wissenschaftlichen Publizierens einhalte, wird in der nun vorliegenden Kurzfassung der Jurybegründung nirgendwo behauptet." Wie erklären Sie sich diese Kritik? Wie kann eine Bewertung so unterschiedlich ausfallen? Ihre Jury sieht in Séralini einen würdigen Preisträger, die FAZ lässt kein gutes Haar an ihm.
Gerhard Baisch: Professor Séralini ist in unseren Augen kein "Entehrter und Enteigneter des etablierten Wissenschaftsbetriebs" , auch nicht "Opfer einer Kampagne interessierter Kreise" - so hätten das nur gern seine Gegner, zu denen offensichtlich auch der Autor in der FAZ gehört. In der politischen Auseinandersetzung um die Zulassung und Nutzung von GMO gibt es scharfe Fronten. Es geht ja auch um Milliarden-Umsätze der GMO-Industrie. Das strahlt aus auf die wissenschaftliche Debatte.
Sicherlich die meisten, wenn nicht alle Forscher in diesem Forschungsbereich sind nicht "neutral"; sie haben - auch auf Grund ihrer wissenschaftlichen Arbeit - ihre Position bezogen. Wer von ihnen ist nun unabhängig? Der für den Monsanto-Konzern bezahlte Studien macht oder der, der in seiner Forschung an der Universität Fragen GMO-kritischer Vereinigungen, die sich am Gemeinwohl orientieren, aufnimmt? Merkwürdiger Weise betonen ihre Unabhängigkeit immer diejenigen, die es eher nicht sind. So fordern auch schließlich diejenigen die Einhaltung der Spielregeln wissenschaftlichen Publizierens, die sie selber nicht achten - wenn man darunter z.B. die vollständige Offenlegung der eigenen Forschungsergebnisse für die Diskussion und Überprüfung im weiteren Forschungsprozess versteht.
In der "causa Séralini" gab es einen schwer wiegenden Versuch, die freie wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Risiken der Anwendung von GMO-Produkten für die menschliche Gesundheit einzuschränken. Letztlich ist dies - insbesondere durch die Beharrlichkeit von Professor Séralini in der Verteidigung seiner Forschungsergebnisse - gescheitert. Geblieben sind die Spuren persönlicher Verletzungen durch unqualifizierte Angriffe bei Professor Séralini. Dass Beleidigungen jetzt wieder die bisherige Debatte um die Preisverleihung kennzeichnen, kann die Jury nur bedauern.
Neben Séralini werden noch zwei weitere Preisträger ausgezeichnet. Warum haben Sie sich für Brandon Bryant und Léon Gruenbaum entschieden?
Gerhard Baisch: Brandon Bryant hat ab 2012 in der laufenden Diskussion um den globalen geheimen Drohnenkrieg der USA durch seine Enthüllungen den Fokus auf den US-Stützpunkt Ramstein gelenkt als die zentrale Drehscheibe, wo alle Stränge zusammenlaufen. Die Zentrale, ohne die gegenwärtig der ganze Drohnenkrieg nicht möglich wäre. Dadurch hat er eine wichtige Diskussion losgetreten, inwieweit sich die deutsche Regierung mit verantwortlich macht für die zumindest großenteils grundgesetz- und völkerrechtswidrige Drohnenkriegsführung, eine Auseinandersetzung, die unverändert heftig andauert.
Und warum für Léon Gruenbaum?
Mit der Verleihung eines Posthum-Whistleblower-Ehrenpreises an Dr. Léon Gruenbaum betritt die Jury Neuland. Das Schicksal dieses jüdischen Atomwissenschaftlers, der - 1934 geboren - mit Hilfe von Freunden aus der Résistance vor der Deportation in die Vernichtungslager bewahrt wurde, um dann im Jahr 1973 erneut Opfer der überlebenden NS-Täter im Kernforschungszentrum Karlsruhe zu werden, berührt uns tief.
Der langjährige Geschäftsführer Dr. Greifeld verleugnete gegenüber Gruenbaum seine judenfeindlichen Aktivitäten im Paris der 40er Jahre ebenso wie antisemitische Äußerungen im KFZ Karlsruhe. Greifeld rächte sich: der befristete Vertrag von Gruenbaum wurde als einziger nicht verlängert. Gruenbaum konnte Greifeld danach aber der Lüge überführen. Zudem deckte er im Rahmen seiner Forschungen zum Thema "Genese der Plutoniumgesellschaft - Politische Konspirationen und Geschäfte" Zusammenhänge zwischen der Atomforschung der NS-Zeit und südamerikanischen Atomzentren der Nachkriegszeit auf und wies auf die große Zahl NS-belasteter Wissenschaftler in führenden Positionen des KFZ Karlsruhe hin.
Weiter enthüllte er zahlreiche Atomprojekte, u.a. in Argentinien und Südafrika, bei denen die Produktion von waffenfähigem Uran oder Plutonium mit Unterstützung des KFZ Karlsruhe geplant oder realisiert wurde, und gab sein Wissen weiter an Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die dann Gegenaktionen in Gang setzen konnten. Das Gedenken an Dr. Gruenbaum und seine Auseinandersetzung mit der damaligen deutschen Atomforschung und ihrer teilweisen Verstrickung in atomare Aufrüstung mahnt uns, ähnlich kritisch die heutige Politik der "nuklearen Teilhabe" Deutschlands zu würdigen.
Wie denken Sie persönlich über das Whistleblowing und die Whistleblower?
Gerhard Baisch: Vor 15 Jahren kannte ich nicht einmal den Begriff des Whistleblowers. Als ich mich der IALANA anschloss, wunderte ich mich noch über diesen Schwerpunkt unserer Tätigkeit. Heute denke ich: unsere Gesellschaft braucht unbedingt Whistleblower. Ohne ihre Informationen aus dem Inneren abgeschotteter Bereiche wie Polizei, Bundeswehr, Behörden und Firmen ist öffentliche Kontrolle und demokratischer Prozess unmöglich. Aus Verantwortung für das Allgemeinwohl riskieren diese Menschen regelmäßig ihre berufliche Existenz und strafrechtliche oder sonstige unangenehme Gegenmaßnahmen. Es bedarf dringend eines Schutzgesetzes für das Whistleblowing - allein schon, um seinen Rang damit öffentlich anzuerkennen.