Wider die Geistphobie in der digitalen Welt

Bild: Brett Jordan / Unsplash

Eine Replik auf Kommentare zum Artikel "Plädoyer für ein shitstormfreies Internet"

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Wie zu erwarten, waren die Kommentare aus dem Telepolis-Forum auf meinen Artikel "Plädoyer für ein shitstormfreies Internet" wieder unterschiedlich: kritisch, anregend, fragend, herausfordernd, aber leider auch niveaulos, überflüssig oder an der Sache vorbei.

Bevor ich auf einige, vornehmlich negative Kommentare eingehe, ein paar persönliche Bemerkungen: In einer ziemlich langen Geschichte von akademischen Prüfungen in unterschiedlichen Disziplinen, Veröffentlichungen, Vorlesungen, Gutachten und Vorträgen (z.B. bei Daimler Benz) wurde ich via Telepolis-Forum mit einer neuen Art von Textrezeption und Kommunikation konfrontiert (jedenfalls bei einem Teil der Foristen). Ein Beispiel für die Methode: Ein einzelner Gedanke wird aus dem Kontext gelöst (z.B. "Anonymität als Problem"), im Schutz der Anonymität begründungsfrei mit einer Keule attackiert (z.B. "Gestapo"), dann wird das Ganze - ohne Gesamtbilanz - am Teil bewertet, und der "Online-Schläger" verschwindet wieder, spur- und wirkungslos, wahrscheinlich mit einem Gefühl der (Selbst-) Befriedigung. Wissenschaftlicher Diskurs, zumal ein kontroverser, sieht anders aus.

Auffällig war diese Art für mich nicht zuletzt deshalb, weil ich zunächst in einer onlinefreien, sogar computerfreien Welt sozialisiert wurde. Gymnasium: ohne Computer. Diplom: ohne Computer. Promotion: ohne Computer. Habilitation: mit Computer (endlich!?). In der Habilitation ging es um einen Vergleich zwischen Computer und Gehirn. Die damals vorherrschenden Programmiersprachen: LISP und Prolog. Einer der Gutachter war Prof. Dr.-Ing. Jörg Siekmann (Chef des DFKI / Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz). Will sagen: Ich bin in beiden Welten "groß" geworden, und das ist gut so.

Bevor ich auf Kommentare aus dem Telepolis-Forum eingehe, zur positiven Einstimmung, also gegen die Hoffnung von Shitstürmern, zunächst eine Stellungnahme von einem Experten aus den Ingenieurwissenschaften, der in Anlehnung an Forum-Usancen und mit Blick auf "unterirdische" Kommentare nicht namentlich genannt werden möchte (er war im Übrigen nicht der Einzige, der positiv kommentiert, aber die Einbeziehung in die Forum-Diskussion abgelehnt hat). Hier ein Auszug aus seiner E-Mail:

Prof. Dr.-Ing. (Name bekannt, aber hier nicht genannt):
"Sehr geehrter Herr Kollege,
kürzlich las ich auf Telepolis Ihre sehr bemerkenswerten Beiträge, die aus meiner Sicht ins Schwarze treffen… Aus diesem Kontext bin ich mit den logisch-mathematischen Grundlagen der Computertechnik wohl vertraut und auch aus dieser Perspektive kann man die "KI"-Adepten unserer Tage nur ent-täuschen..."

Corona, Gestapo und Klerofaschismus

Mit Bezug auf meine Verwunderung über das anonyme Auftreten mancher Kommentatoren schreibt AS73: "Wer z.B. die Coronamaßnahmen oder das Verhalten der Regierung massiv kritisiert (und dazu gibt es allen Grund) möchte trotzdem noch gerne am nächsten Tag zur Arbeit gehen bzw. nicht auf irgendwelchen Listen landen." Im gleichen Kontext eine freundliche Empfehlung von Michael Keller: "Lieber Winfried: such Dir doch eine andere Leserschaft! Z.b. bei den Coronaverstehern…" Und ein Kommentar von Russlandversteher: "Das war sicherlich auch damals der wichtigste Grund für die Schaffung der echten Gestapo. Die Motive sind immer noch die selben!" Auf gleicher Ebene Rundulator, der den "Klerofaschismus" ins Spiel bringt. Und Sebed Dashmir androhend: "Sonst zeig ich euch mal, was ein Shitstorm ist!"

Antwort D’Avis: In meinem Artikel ging es im inhaltlichen Kern bekanntlich um das Thema "Denkende Maschinen". In diesem Kontext ist es völlig jenseits einer realistischen Einschätzung von Folgen, dass AS73 wegen einer sehr scharfen Kritik an meinem Artikel zu Hause abgeholt oder gelistet oder unter polizeiliche Beobachtung gestellt würde. So entstehen ohne Argument, d.h. auf rein assoziative Weise, sachlich völlig unbegründete Verbindungen mit Problembereichen, die mit dem Artikelthema und meiner Person nichts zu tun haben.

Und was die Assoziation zur Gestapo und zum "Klerofaschismus" betrifft: Abgesehen von ihrer begründungsfreien Unverschämtheit wird die Gestapo so nur verharmlost. Wer im Zusammenhang mit meinem Artikel und der Forderung nach Aufhebung der Anonymität auf die Gestapo verweist, richtet sich selbst. Wäre ich so empfindlich, wie manche Kommentatoren fälschlich behaupten, würde ich wegen "übler Nachrede" o.Ä. Anzeige erstatten. Ich habe die Vorhaltung aber nicht als strafrechtlich relevant, sondern eher als albern und infantil empfunden.

Andere Leser der beiden Artikel gehen weiter. Einer vergleicht manche der Kommentatoren mit "polemisch hochgerüsteten, aber intellektuell zahnlosen Hyänen". Und was die "lieb" gemeinte Empfehlung, mir "eine andere Leserschaft zu suchen", betrifft: Ich befolge sie natürlich nicht, wie dieser dritte Artikel zeigt. Noch ein Wort zu demjenigen, der mir zeigen will, "was ein Shitstorm ist": Das muss schon deshalb nicht gezeigt werden, weil das Resultat und das zu erwartende Niveau des Sturms schon die Bedeutung des Wortes "Shitstorm" indiziert: "Scheiße". Dass Telepolis für ganz unterschiedliche Meinungen eine Plattform bietet, finde ich trotzdem gut.

Nicht zuletzt auf diesem Hintergrund von teilweise sach- und argumentfreien Kommentaren bleibe ich mit Blick auf die Informationsgesellschaft beim Postulat der guten Begründung und dem berühmten "Caute!", paraphrasiert in Einsteins Worten, aus der Erinnerung zitiert: Wenn die Menschen nur über das reden würden, was sie wirklich verstanden haben, dann wäre es viel stiller in der Welt. "Shitstorm ist jedenfalls die andere, kulturfreie Seite des Kommunikationsspektrums - ein sehr spezielles Symptom der zunehmenden Geistphobie der digitalen Welt.

Hinsichtlich der allgemeinen juristischen Einschätzung des Anonymitätsproblems, also ohne direkten Bezug zum Thema "Denkende Maschinen", noch einmal die Worte des sächsischen Ex-Datenschutzbeauftragten Dr. jur. Thomas Giesen: "Offene Beleidigungen, Bedrohungen und Lügen, Schmähkritik und Shitstorms unter dem Schutzmantel angeblicher Meinungsfreiheit verunsichern die digitale Welt und machen das Netz zu einer oft unschönen Subkultur..." Es geht dem Datenschützer also in erster Linie um strafrechtlich relevante Sachverhalte. Dann stellt sich die Frage: Warum sollten traditionelle Print-Medien und neue Online-Medien darin juristisch nicht gleichgestellt werden? M.a.W.: Wenn in einem Buch über einen Dritten Lügen, Hass, Todesdrohungen oder andere strafrechtsrelevante Aussagen verbreitet werden, dann sind diese Ausfälle auf der Grundlage des Namens (Autor und/oder Verlag) justiziabel - und gegen den mutmaßlichen Rechtsverletzer kann persönlich und nicht nur "gegen unbekannt" ermittelt werden. Warum sollte das für ein Online-Medium nicht gelten?!

"Twistie 2015" aus dem Forum stellt allerdings zu Recht die Frage, wie die "Abkehr von der Anonymität" ohne Folgeprobleme vollzogen werden kann (z.B. das Problem, dass sich keiner mehr traut, offen scharfe Kritik ins Internet zu stellen). Es ist ganz einfach: Es geht nicht darum, grundsätzlich Klarnamen zu verlangen - wer die selbstverpassten Namen lustig findet, soll sie auch weiterhin lustig finden können - sondern darum, ein technisches Mittel der Identifizierung einzusetzen, dann und nur dann, wenn der dringende Verdacht auf strafrechtsrelevante Sachverhalte vorliegt. Die Entscheidung darüber hätte ein Richter zu treffen. Nur dann sollte die wahre Identität des Beschuldigten via "Kennung (personenbezogene IP mit einer Identifikation der postenden Person)" ermittelbar sein.

Dass beim Vollzug eines solchen Verfahrens - wie immer außerhalb des Paradieses - Fehler vorkommen können, ist klar, aber die Heiligsprechung und Immunisierung des Internets gegen jegliche Kontrolle folgt aus der Fehlermöglichkeit nicht. Zumal täglich im strafrechtlich relevanten Bereich Abertausende unter anonymen Angriffen und ohne Möglichkeit einer Gegenwehr zu leiden haben. Der zu erwartende Einwand der Nicht-Praktikabilität, d.h. der Überforderung des Rechtssystems, greift schon deshalb nicht, weil die meisten der anonymen Rechtsverletzer als Folge der Möglichkeit ihrer Identifizierung keine Beleidigungen, Lügen, Hassbotschaften oder Todesdrohungen mehr ins Internet stellen würden. Und das wäre in zweierlei Hinsicht gut: Erstens für die Internetkultur insgesamt und zweitens für Diejenigen, deren Rechtsgüter verletzt werden oder deren Verletzung durch die Strafandrohung und Möglichkeit der Ahndung der Tat präventiv unterbleibt. Und jetzt zu inhaltlichen Fragen zu meinem Artikel.

Tierische Intelligenz und das Ausräumen eines Missverständnisses

"Drahtlooser" stellt zu Recht die Frage: "Was, Herr D’Avis, ist denn eigentlich mit nicht-menschlichen Gehirnen? Dass Menschenaffen und andere Säugetiere, sogar Vögel, nicht nur die Bedeutung von Zeichen verstehen, sondern auch rudimentär denken können, ist erwiesen."

Antwort D’Avis: Völlige Übereinstimmung! Ich würde sogar weiter gehen und das einschränkende "rudimentär" ersatzlos streichen. Auch deshalb, weil Menschenaffen, Rabenvögel, Delfine und Elefanten den sog. "Spiegeltest" bestehen, was zu Recht als Indiz für ein Selbstbewusstsein gilt.

In aller Kürze: Der Test wurde zum ersten Mal mit einem Schimpansen gemacht. Dabei hat man ihm unter Betäubung einen roten Farbklecks auf die Stirn gemalt und ihm dann nach dem Aufwachen einen Spiegel hingestellt. Die Reaktion des Affen: Er hat zunächst "nachdenklich" in den Spiegel geschaut und sich dann - während er weiter in den Spiegel blickte - mit dem Zeigefinger an seine eigene Stirn gefasst, genau an die Stelle, wo der Farbklecks tatsächlich war. Danach experimentierte er noch selbstständig weiter: Er zog - wieder sein Spiegelabbild fest im Blick - seine Lippen hoch und fasste sich beim Blick auf die Zähne im Spiegel an seine eigenen realen Zähne. Hunde zum Beispiel bestehen den Test nicht (beim Anblick ihres Abbildes fletschen sie die Zähne oder flüchten. Ein Indiz dafür, dass sie sich nicht selbst erkennen und einen Artgenossen vermuten). Auch Kinder bestehen den Spiegeltest bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr nicht.

Aber auch "unterhalb" dieser kognitiven Leistung, sich im Spiegel selbst zu erkennen, ist im Tierreich Intelligenz anzunehmen. Nur ein Beispiel: Ein Gibbon, der mit 30 km/h durch die Baumwipfel jagt und weite Sprünge, auch von Baum zu Baum, macht, ist kognitiv unterwegs: Er hat ein dreidimensionales oder gar vierdimensionales Modell des vor ihm liegenden Raumes im Kopf, bestimmt in Bruchteilen von Sekunden die Entfernung zu dem Ast, zu dem er springen will, gibt Impulse vom motorischen Kortex an seine Sprungmuskeln und "berechnet" die Kraft, die er für die Erreichung seines Zieles qua Sprung benötigt. Der eingesetzte und in Sprungkraft umgesetzte Energiebetrag muss sehr genau stimmen, weil der Gibbon sonst entweder zu weit oder zu kurz springt, abstürzt und bei entsprechender Höhe zu Tode kommt. Und all das geschieht in Sekunden bzw. Bruchteilen davon. Ohne Frage eine intelligente Leistung, die letztendlich darauf gründet, dass auch Tiere über ein internes Modell von Phänomenen der Außenwelt verfügen (was mehr ist als elektrische Aktivität von Neuronen) - womit wir wieder bei der Grundthese meiner vorausgegangenen Artikel sind.

Dabei habe ich an einer Stelle wohl einem Missverständnis selbst Vorschub geleistet, worauf mich "Evil Morty" aufmerksam macht. Zur Erinnerung: In meinem kleinen Gedankenexperiment hatte Homo sapiens den Roboter mit der Frage nach der vierten Gleichung der Lorentztransformationen und ihrer Bedeutung auf die kognitive Probe gestellt. Wäre die Lösung dieser oder ähnlicher Aufgaben die Voraussetzung für die Annahme von Intelligenz, dann wären nicht nur die o.g. Tiere nicht intelligent, sondern es gäbe nach "Evil Morty" "auf der Erde momentan genau eine intelligente Person (und keine Maschine wäre intelligent)". Ich übersehe hier einmal die ironische Anspielung und stelle sachlich klar: Ich verwende den Begriff "intelligent" nicht im Sinne von "besonders intelligent", was wir im Alltag immer tun, wenn wir einen Menschen "intelligent" nennen. Dieses mögliche Missverständnis glaubte ich durch die Ersetzung von "Intelligenz" durch "kognitives Vermögen" ausgeschlossen zu haben.

Also: Es geht mir um die grundsätzliche Frage, ab wann bzw. unter welcher Voraussetzung ein System "denkfähig" genannt werden kann - völlig unabhängig vom Schwierigkeitsgrad gestellter Aufgaben. Somit ist auch eine falsche Lösung einer Gleichung eine kognitive Leistung, dann jedenfalls, wenn das System die Bedeutung der Worte "Mathematik", "Gleichung", "Wurzel" etc. verstanden hat. Im Symbolbereich geht es also um semantische Kompetenz und im gegenständlichen Bereich um Phänomenkompetenz. Dabei treten Beweisprobleme auf, die ebenfalls zu Recht von Evil Morty angesprochen wurden. Ich kann das hier nicht ausführen, nur so viel: Dass mathematische (auch logische) Beweise präziser sind als empirische Beweise, liegt nicht zuletzt daran: Empirische Beweise müssen nicht nur die formalen Kriterien für ihre Gültigkeit erfüllen, sondern sind zusätzlich immer mit dem schwierigen Problem der inhaltlichen Wahrheit der Prämissen belastet.

Ein "anmaßender Buchtitel" - so "Weltendenker_2"

Die in meinen Telepolis-Artikeln nur kurz angerissenen Inhalte habe ich in einem schon erwähnten Buch argumentativ ausgeführt. In einer Art Maßregelung seines Foristen-Kollegen "Kurt Wonne", der sich einen positiven Kommentar erlaubt hat ("danke d’Avis"), bemerkt "Weltendenker_2":

"Für Techniker anmaßend klingt jedenfalls der Buchtitel des Autors D'Avis "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften". Was mich glatt an den Marxismus erinnert, der auch von sich glaubte, er hätte die wahren Grundlagen der Arbeiterklasse geschaffen…. Aber bei der Arbeit helfen kann (oder will) er uns nicht."

Antwort D’Avis: Zunächst das Einfache: Die wilde "Weltendenker_2" - Assoziation von meinem Buchtitel zum Marxismus hat bei einem Kollegen zunächst fast einen Lachkrampf und dann Kopfschütteln ausgelöst. Mehr ist dazu auch nicht zu "sagen". Und zu der Unterstellung "Aber bei der Arbeit helfen kann (oder will) er uns nicht" ebenfalls nur eine kurze korrigierende Bemerkung: Ich bin mit einem Erfinder und Ingenieur mit profunden Kenntnissen in Physik (auch in Quantenmechanik und Quantenelektrodynamik) über den Bau eines neuen Chips schon im Gespräch.

Und nun etwas ausführlicher zum Vorhalt von "Weltendenker_2", mein Buchtitel klinge aus der Sicht eines Technikers "anmaßend". Zunächst einmal: Moderne Technik basiert zu einem wesentlichen Teil auf Mathematik und Physik. Und genau hier liegt der Grund für den Titel "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften". Das will ich unter Bezug auf herausragende Physiker und ausgewählte physikalische Probleme kurz begründen. Zuvor eine grundsätzliche Bemerkung: Ingenieure und Techniker sind in der Regel empiristisch/ behavioristisch orientiert. À la Locke: "Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu" (Nichts ist im Geist, was nicht zuvor in den Sinnen war). Die in meinem Buch vertretene logische Autonomie des Geistes wird so rigoros ausgeschlossen. Dass dieser Ausschluss mit Blick auf Mathematik und Physik jedoch falsch ist, zeigen diese Beispiele:

Elektron: Als Punktteilchen hat es keine Ausdehnung und kann deshalb kein Teil der empirischen Welt sein. Eine rein theoretische und damit rein geistige Entität also. In den verallgemeinernden Worten von Einstein: "Ihre (i.e. Theorien, D‘A) Begriffe und Grundgesetze …sind…freie Erfindungen des menschlichen Geistes". (Einstein in: Zur Methodik der theoretischen Physik). Von "Weltendenker’s_2" Geistphobie bei Einstein also keine Spur.

Dann dürfte sich für "Weltendenker_2" als Techniker die kritisch gemeinte Frage stellen: Wie kommt man von "freien Erfindungen des menschlichen Geistes" (Einstein) zur empirischen Realität von Elektronen? Diesen nichttrivialen Übergang vom Geist zur Empirie leisten die sog. "Renormierungen". Ein Beispiel: Das mit der Punktförmigkeit entstehende Unendlichkeitsproblem löst die Physik auf elegante Weise so: Man verschiebt den Nullpunkt der Energieskala so, dass für die "beobachtbare" Masse ein endlicher Wert entsteht etc. Wichtig ist: Dieser endliche Wert ist kein Teil der physikalischen Theorie! M.a.W.: Das Elektron in seiner mathematischen Bestimmung als "Punktteilchen" ist und bleibt als Teil der Theorie reine Bedeutung und damit eine rein geistige Größe - eben wegen seiner nichtempirischen Eigenschaft "Radius Null".

Genau aus diesem Grund wird die Mathematik im System der akademischen Disziplinen den Geisteswissenschaften zugeordnet, von denen "Weltendenker_2" ja nicht viel hält ("Techniker schaffen komplexe Systeme, Geisteswissenschaften machen Worte" - allgemeiner: Symbole). Diese Zurechnung der Mathematik zu den Geisteswissenschaften wird im mathematischen Doktortitel augenfällig dokumentiert: Dr. phil. nat. (und nicht Dr. rer. nat.). "Weltendenker_2" hat offensichtlich ein Urteil gefällt, ohne den Inhalt des Buches und den logischen Status der Mathematik zu kennen.

Symmetrien: Für Naturgesetze gilt die Annahme, dass sie invariant gegenüber Zeitumkehr sind. Logisch gesehen eine Symmetrierelation. Und schon wieder sind wir bei einem rein geistigen Moment in der Naturwissenschaft. Die Begründung: Symmetrie ist keine Eigenschaft der empirischen Welt, sondern eine Eigenschaft der mathematischen Formeln. Die empirische Welt kommt in der Physik erst via Anfangs- und Randbedingungen ins Spiel, die aber kein Teil der physikalischen Theorie sind - um die es hier alleine geht. Auch dafür gibt es wieder einen prominenten Zeugen.

In seiner "Einführung in die einheitliche Feldtheorie der Elementarteilchen" bringt Heisenberg das so zum Ausdruck, dass "es keinen Grund für eine Invarianz des Grundzustandes 'Welt' gegenüber den Symmetrieoperationen der Grundgleichung (gibt) […] Im Gegenteil, die Welt ist wahrscheinlich ganz unsymmetrisch". Aus diesen und anderen Besonderheiten, insbesondere im Zusammenhang mit dem quantenmechanischen Messprozess, zieht Heisenberg eine Schlussfolgerung, die Empiristen im Allgemeinen und Techniker im Besonderen erschaudern lassen dürfte: "Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein."

Heisenbergs physikalisch konsistente Begründung kann ich hier nicht ausführen. Stattdessen drei weitere prominente Beispiele, welche die Angemessenheit meines Buchtitels "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften" und die Unbegründetheit der digital grassierenden Geistphobie belegen.

Beispiel 1: Newtons Trägheitsgesetz: >Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung, wenn er nicht durch eine einwirkende Kraft daraus entfernt wird.< Das Problem: Körper, auf die keine Kraft einwirkt, gibt es physikalisch nicht. Deshalb haben schon Einstein und Infeld Newtons Gesetz kritisch so kommentiert, dass es "nur durch einen spekulativen Denkvorgang abgeleitet werden konnte" und ein empirisches Experiment "niemals wirklich ausgeführt werden (kann)." Eben weil der Gehalt des Trägheitsgesetzes empiriefrei und damit rein geistig ist. Logisch gesprochen: In der physikalischen Theorie ist die Extension von "Körper" (empirisch) leer.

Beispiel 2: Das Photon: Es wird bekanntlich mit einer Ruhemasse Null in die physikalische Theorie eingeführt (auf die etwas komplizierten Gründe kann ich hier nicht eingehen). Das Problem: Eine Ruhemasse Null gibt es beim (empirischen) Photon schon deshalb nicht, weil ein Photon sich niemals in einem Ruhezustand befindet. "Ruhemasse Null" ist also eine rein gedankliche, i.e. rein geistige Konstruktion.

Beispiel 3: Das Inertialsystem der Speziellen Relativitätstheorie. Wiederum handelt es sich um ein rein geistiges Konstrukt ohne empirisches Korrelat. Die Begründung: Einstein führt das "Inertialsystem" gravitationsfeldfrei ein, eine Eigenschaft, die es nach der Allgemeinen Relativitätstheorie physikalisch nicht geben kann - und zwar an keinem Weltpunkt.

Aus den o.g. (und vielen anderen) Gründen ist mein Buchtitel "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften" also nicht "arrogant", wie "Weltendenker_2" meint, sondern steht im Einklang mit maßgeblichen Theorien der Physik. Auch Planck, Bohr, Dirac und Wheeler haben diese Sicht - gegen den Empirismus und gegen eine technizistische Vereinnahmung der Physik - im Grundsätzlichen und mit vielen konkreten Beispielen belegt, sogar auf die physikalische Theorie als Ganze angewendet. Anders gesagt: Die grassierende Geistphobie in der digitalen Welt im Allgemeinen und bei Technikern im Besonderen ist einmal mehr nicht gut begründet.

Software… ein durchsichtiges Ausweichmanöver

Im Zusammenhang mit meinen Erörterungen zur morphologischen Veränderbarkeit des Gehirns als Hardware bemerkt Stefan Massow: "Das Problem an der Sache ist, dass Computer alles in Software machen bzw. machen können, was im Gehirn physikalisch, chemisch oder sonstwie abläuft." Schärfer in der Kritik "Mi Fhein": Nachdem ich den Unterschied zwischen Gehirn und Computer dadurch charakterisiert habe, dass das Gehirn als Hardware sowohl die Struktur wie auch die Anzahl seiner Neuronen bzw. Synapsen im Vollzug der Informationsverarbeitung verändert, die Entgegnung von "Mi Fhein":

Das ist so nicht richtig. Der Vergleich von Leiterbahnen und Synapsen ist schlicht falsch, weil Neuronale Netze … nicht in der Hardware modelliert werden, sondern i.d.R. in der Software. Genau genommen ist ein Neuronales Netz ein gerichteter Graph. Die Kanten entsprechen den Synapsen und die Knoten den Neuronen. Und selbstverständlich kann man hier Verbindungen auflösen und neu erzeugen, man kann sogar Neuronen hinzufügen.

Mi Fhein

Antwort D’Avis: Dass künstliche neuronale Netze als Soft- und nicht als Hardware modelliert werden, ist doch die Basis für meinen Einwand! Die Begründung: Durch die morphologische Zeitfreiheit der Computerhardware wird das kognitionstheoretische Postulat der Entsprechung von (kognitiver) Funktion und (materieller) Struktur verletzt! M.a.W.: Der Zeitlichkeit der Bedeutung von Symbolen muss die Zeitlichkeit der Hardware entsprechen. Die Ausführungen von "Mi Fhein", dass die Kanten eines Graphen (= Software) den Synapsen eines Gehirns (= Hardware) entsprechen, sind richtig, und richtig ist auch, dass auf der Softwareebene Verbindungen aufgelöst oder neu hergestellt werden können. Das ist aber doch gleichermaßen bekannt wie kognitionstheoretisch unerheblich, also als Einwand ungeeignet. Deshalb bleibe ich bei meiner Aussage: Die morphologische Zeitlichkeit der Neuronen bzw. der Synapsen des Gehirns muss mit den materiellen Eigenschaften des Chips verglichen werden. Und auf dieser Vergleichsebene gibt es keine Entsprechung (z.B. gibt es keine durch Informationsverarbeitung verursachte Veränderung der Leiterbahnen etc., im Unterschied zum neuronalen Netzwerk des Gehirns) - und auch der Hinweis von Massow auf FPGAs löst das Problem aus dem gleichen Grund nicht.

Abweichend von meiner Position stimmt "K3" "Mi Fhein" in der Behauptung zu, dass Computer das Plastizitätserfordernis erfüllen, wenn auch nur via Software. Warum das nicht überzeugt, habe ich oben schon kurz begründet. Dann führt "K3" folgenreich aus:

Hardware und Software sind austauschbar. Für den Theoretiker reicht eine Turing-Maschine, und er kann alle berechenbaren Funktionen berechnen. Rekurrente Neuronale Netze sind Turing-vollständig, und CPU’s (oder genauer von Neumann-Computer) sind Turing-vollständig und damit ist beides isomorph. Was das eine kann, kann auch das andere. Beide können dieselben Funktionen berechnen. Es handelt sich nur um unterschiedliche Darstellungen.

K3

Antwort D’Avis: Vorausgeschickt: Es geht nicht darum, was ein Computer "kann", sondern darum, ob das, was er tut, "denken" genannt werden kann (was ja der Anspruch der KI ist). Auch ein Spiegel "kann" ein Gesicht abbilden, nur kann die Abbildung nicht "denken" genannt werden.

Doch jetzt zum informationstheoretischen Argument: Dass rekurrente neuronale Netze genauso wie CPUs (= von Neumann-Rechner) "Turing-vollständig" und beide deshalb "isomorph" sind, bestätigt meine von Foristen kritisierte Entscheidung, die Frage nach dem kognitiven Vermögen von Computern - vereinfacht, aber folgengleich - an traditionellen CPUs und nicht an künstlichen neuronalen Netzen zu beantworten. "K3"s Position ist klar formuliert: "Was das eine kann, kann auch das andere. Beide können dieselben Funktionen berechnen". Folglich war die Ausblendung der künstlichen neuronalen Netze in meinem ersten Artikel auch aus seiner Sicht gut begründet.

Die trügerische Hoffnung auf Berechenbarkeit

Ein weiterer Kritikpunkt von "K3": "Was der Autor m.E. nicht begründet ist, weshalb die Tätigkeit des Gehirns keine berechenbare Funktion sein kann". "K3" moniert das zu Recht. Deshalb will ich das Versäumnis hier kurz nachholen.

Antwort D’Avis: Zunächst einmal bin ich mir (ziemlich) sicher, dass die "Tätigkeit des Gehirns…(eine) berechenbare Funktion ist". Das dürfte auch Überzeugung von "K3" sein. Aber "zunächst und ziemlich" sind zu betonen bzw. gehen vielleicht schon zu weit. Jedenfalls hat Heisenberg hier ein Problem gesehen. In seiner "Einführung in die einheitliche Feldtheorie der Elementarteilchen" heißt es:

Wir wissen zum Beispiel aus der Erfahrung, dass die komplizierten Vorgänge, die mit der Existenz des Lebens, der lebendigen Organismen, verknüpft sind, für ihre Beschreibung neue Begriffe brauchen, die über die der üblichen Physik und Chemie hinausgehen….dass neue mathematische Formen dabei gebraucht werden, die sogar grundsätzlich von denen der Quantentheorie verschieden sind.

Heisenberg

Der Einfachheit halber nehme ich einmal an, es gäbe diese "neuen Begriffe (und) neuen mathematischen Formen" inzwischen (was aber nicht der Fall ist), dann bliebe dieses Problem: Die Anwendbarkeit dieser "neuen mathematischen Formen" auf das Gehirn impliziert nicht ihre Anwendbarkeit auf den Geist (dass Gehirn und Geist nicht identisch, noch nicht einmal isomorph sind, habe ich an anderer Stelle - z.B. am mathematischen Punkt - schon begründet). Deshalb stellt sich die auf das Gehirn bezogene Frage von "K3" nun mit Bezug auf den Geist: Ist der Geist also eine berechenbare Funktion?

Eine einfache Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Meine Position: Geist (= informationsverarbeitendes Agens) ist aus unterschiedlichen Gründen nicht berechenbar, nicht zuletzt wegen der Bedeutung als konstitutivem Geistmerkmal. Statt das jetzt weiter auszuführen, mache ich es mir an dieser Stelle leicht und reihe zur Bestätigung meiner Position nur ein paar Zitate aneinander, aus dem Buch "Das Große, das Kleine und der menschliche Geist" von Penrose. Nebenbei bemerkt: Auch Penrose (Physiknobelpreisträger 2020) leidet offensichtlich nicht an Geistphobie. Die Zitate:

"Menschen entwickeln die Fähigkeit zu generellem Verstehen, und dies kann keine berechenbare Fähigkeit sein, weil mathematisches Verständnis nicht berechenbar ist." Dann sagt er, "dass Geistigkeit etwas Nichtableitbares ist…" Und im Vorwort und mit Bezug auf Penrose führt Malcolm Longair aus, "…dass die weitaus logischste aller Wissenschaften, die abstrakte Mathematik, nicht auf einem digitalen Computer programmiert werden kann, gleich wie genau dieser Computer rechnet…Roger interpretiert das Gödel-Theorem so, dass den Prozessen des mathematischen Denkens - und in Erweiterung allem Denken und Verhalten - "nichtrechnerische" Methoden zugrunde liegen." Dann weiter Penrose: "dass die Nichtberechenbarkeit ein Merkmal aller Bewusstseinsformen ist."

Und weiter: "Mir scheint, die Idee, dass unser Denken aus etwas Physikalischem hervorgeht, bringt ein grundlegendes Problem […] Die Gegenstände, über die wir in der Physik reden, sind Materie, physikalische Dinge, massive Objekte, Teilchen, Raum, Zeit, Energie und so fort. Wie könnten unsere Gefühle, die Wahrnehmung der Farbe Rot (z.B. Lobos Haare, Anm. D’A) oder das Empfinden von Glück etwas mit Physik zu tun haben? Ich betrachte das als ein Geheimnis." Manche aus der KI-Gemeinde scheinen zu glauben, dieses Geheimnis gelüftet zu haben oder bald lüften zu können (z.B. auch mit Computern, die Emotionen haben, ein Unsinn, auf den ich hier nicht eingehen möchte).

In meinen Worten: Es ist die Bedeutung als genuin Geistiges, das sich der Berechenbarkeit entzieht und der Grund dafür, dass Computer (neuronale Netze eingeschlossen) (fast) alles können, nur denken können sie nicht. Hier rächt sich der von Anfang an großspurige Begriff "Künstliche Intelligenz". Im Aufgreifen von Penroses Beispiel "Farbe" als nichtphysikalisches Phänomen im Besonderen und am Entscheidungskriterium "Phänomen" im Allgemeinen gehe ich noch kurz auf zwei Klassen von Einwänden ein, die gegen meine Argumentation vorgetragen wurden.

Das einfach schwierige Farbproblem

Meine im ersten Artikel aufgestellte Behauptung, dass es in der Neurobiologie/-physiologie noch immer unbekannt ist, wie aus Wellenlängen und Frequenzen von Photonen der Farbeindruck (= das Phänomen) "rot" entsteht, pariert der Forist "OckhamOS" als Erwiderung auf meine Behauptung, aber merkwürdigerweise ohne Bezug zur Farbe, so:

DAS nun kann ich nicht akzeptieren. Neuere Forschungsergebnisse der Neurobiologie hat mittels fMRTF gefunden, dass im Hirn sehr wohl Orte und Neuronenstrukturen auszumachen sind, an denen die begriffliche Repräsentanz z.B. von "Buch" gespeichert ist. Dieser Ort ist durchaus getrennt von jenen Stellen, an denen die optische (Bild), die akustische… Repräsentanz des Gegenstandes…identifiziert wird.

OkhamOS

Antwort D’Avis: Ich stimme "OkhamOS" darin zu, dass bei der Beobachtung der Gehirnaktivität solche Korrelationen nachweisbar sind. Wenn der Proband z.B. das Wort "Buch" ausspricht, wird Aktivität eines oder mehrerer Neuronen messbar. Der Vorgang lässt sich auch wiederholen. Noch deutlicher und beeindruckender haben Calvin und Oijeman diese Korrelationen mit Experimenten am freiliegenden Gehirn gezeigt.

Ein Beispiel: Man hat das Gehirn von Probanden an unterschiedlichen Stellen mit einem elektrischen Stimulator berührt und erstaunliche Ergebnisse festgestellt. In einem Fall sagte der Proband genau in dem Moment, als der Stimulator mit dem Gehirn in Kontakt kam, er höre Musik von Led Zeppelin (obwohl keine Schallwellen außerhalb von seinem Gehirn unterwegs waren). An einer anderen Stelle elektrisch stimuliert, sagte er, jemand habe seine Hand bewegt (obwohl seine Hand ruhig auf der Bettdecke lag).

Diese und andere empirische Ergebnisse widerlegen aber nicht meine Annahme. In aller Kürze: Die elektrische Stimulierung war ohne Zweifel ein auslösendes Moment. Aber das Phänomen, z.B. die Musik von Led Zeppelin als Schallerlebnis, lässt sich nicht aus der elektrischen Aktivität des Neurons ableiten. Wäre es ableitbar, dann müssten Calvin und Oijeman diese Musik als Schallereignis alleine aus der neuronalen Aktivität erschließen können, ohne dass bzw. bevor der Proband sein Musikerlebnis mitteilt, was aber nicht möglich ist. Damit nicht schon wieder ein Missverständnis entsteht: Es geht nicht um die Lokalisierbarkeit von codierter Musik in speziellen Teilen des neuronalen Netzwerkes, sondern es geht um die Musik selbst bzw. um ein bestimmtes und akustisch vernommenes Lied von Led Zeppelin - und nicht nur um feuernde unmusikalische Neuronen.

Beim Beispiel "Buch" von "OkhamOS" verhält es sich analog. Wenn ein Proband das Wort "Buch" ausspricht, dann ist elektrische Aktivität an ganz bestimmten Neuronen messbar. Klar! Und wird das Wort "Buch" nicht ausgesprochen, sondern nur gedacht, ist ebenfalls elektrische Aktivität an ganz bestimmten Stellen im Gehirn messbar. Aber der untersuchende Neurowissenschaftler ist nicht in der Lage, alleine aus dieser elektrischen Aktivität von Neuronen das Wort "Buch" und den Inhalt des Wortes abzuleiten. Diese "Ableitung" bzw. diese Schlussfolgerung gelingt nur dann, wenn der Neurowissenschaftler durch ein vorausgegangenes Experiment die Korrelation schon festgestellt hat, was aber trivial ist und nicht beweist, was "OckhamOS" mit seinem Beispiel beweisen müsste, nämlich die Identifizierbarkeit des Phänomens (= das Schallerlebnis oder der Gedanke "Buch") auf neuronaler Ebene. Um so mehr gilt die Logik meiner Argumentation für die Farbe:

Ich greife nur die Anmerkungen von Kommentatoren heraus, die meine Position in Frage stellen und nicht die, welche mit mir übereinstimmen oder sie weitgehend teilen (z.B. die interessanten konstruktivistischen Bemerkungen von Bonnie). Fragend, aber doch im Sinne einer grundsätzlichen Möglichkeit der Farberkennung von Computern, bemerkt "Be8ung":

Wenn ein Computer nur Wellenlängen wahrnimmt mittels ihm zur Verfügung stehenden Sensoren, so könnte dieser doch auch eine Funktion erhalten, diese Wellenlängen zu sinnvollen Farbabstraktionen zu gruppieren… Die menschliche Eigenschaft zu abstrahieren, ermöglicht es uns ja auch erst von Farben zu sprechen. Ohne diese Abstraktion bleiben die Farbeindrücke des Auges auch nur eine Sammlung von Buntheit.

Be8ung

Antwort D’Avis: Das, was unser Auge kann, kann grundsätzlich auch ein mit entsprechenden Sensoren ausgestatteter Computer. Aber im Auge finden noch keine "Farbeindrücke" statt, wie "BE8ung" behauptet. Auch die in Lehrbüchern im Zusammenhang mit dem Auge verwendete Vokabel "Farbrezeptoren" ist unangemessen, weil sie sinnvoll nur unter der nicht gegebenen Voraussetzung wäre, dass Farben physikalisch in der Außenwelt existieren. Zur Erinnerung: Die Photonen der Außenwelt mit unterschiedlichen Wellenlängen werden auf der Netzhaut von Sinneszellen in elektrische Impulse umgewandelt, die von den Nervenzellen der Netzhaut aufgenommen und zum visuellen Cortex transportiert werden - und erst dort entsteht die Farbe. Von "Farbeindrücken des Auges" zu sprechen, ist somit nicht angemessen. Wie die Farbe im visuellen Cortex entsteht, ist neurophysiologisch noch völlig ungeklärt. Aber dass Farbe entsteht, wissen wir aus eigener Erfahrung. Wir sehen ja eine rote Rose als rote Rose, d.h. als Phänomen, und nicht als eine Ansammlung von Neuronen bzw, Elektronen oder Ionen. Penrose nennt das zu Recht ein "Geheimnis".

In dieser Lage des noch sehr unzureichenden Wissens erscheint es mir sinnvoll, den Produzenten dieses Geheimnisses - trotz der digitalen Geistphobie - "Geist" zu nennen (der gelegentlich gemachte Vorschlag, "Geist" durch thermodynamisch explizierte "Information" zu ersetzen, ist aus mehreren Gründen ungeeignet, schon deshalb, weil Information nicht denken kann, worum es hier aber geht). Zu betonen ist: Alle meine Annahmen haben keinerlei Implikation zur Transzendenz, da sie von der sicheren Überzeugung getragen sind, dass wir Farbe nur auf der Grundlage des neurobiologischen Gehirns sehen, dass sie aber nicht darauf zurückgeführt werden kann. Anders gesagt: Das Gehirn ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Der Grund für diese Beschränkung ist beim Gehirn und beim Computer identisch: Beide sind rein physikalische Systeme (daran ändert auch die Unterscheidung zwischen Soft- und Hardware nichts), und physikalisch gibt es keine Farben.

Wissenschaftstheoretisch reflektiert bemerkt "Drahtlooser" dazu: "Physikalisch gibt es nicht nur Farben nicht - es "gibt" auch keine Wellenlängen und keine Frequenzen. Es "gibt" noch nicht einmal Photonen. Dies alles sind nur Interpretationen von Sinneswahrnehmungen bzw. Messungen, die unserem beschränkten Vorstellungsvermögen (dem Weltmodell im Kopf, mit dem wir spielen = denken) zugänglich sind."

Mal abgesehen von meiner Verwunderung darüber, dass "Drahtlooser" vom "Weltmodell im Kopf" spricht - was sich weder neurophysiologisch noch - nach Planck - im Sinne von "empirisch physikalisch" explizieren läßt, und was nichts Anderes als das Verlassen seiner Argumentationslinie bedeutet -, ich stimme Drahtlooser darin zu, dass es "da draußen" auch keine Photonen "gibt", auch keine Elektronen etc. Das ist Allgemeingut der Wissenschaftstheorie und wird z.B. mit der "Theoriegeladenheit" dieser Terme begründet (Theorien sind ja bekanntlich nicht in der Außenwelt, sondern nur in der geistigen Innenwelt des Physikers). Nur ist das nicht mein Punkt! Ich habe Farbe als Beispiel ausgewählt, weil das Phänomen Farbe prinzipiell nicht in der Außenwelt, sondern nur in unserem Kopf existiert. Im Unterschied zum Elektron, das zwar durch die Besonderheiten von theoretischen Termen bestimmt ist (z.B. nur partiell interpretierbar) und sich einer 1:1- Abbildung entzieht, aber dennoch ein empirisches Korrelat in der Außenwelt hat.

Zur Erläuterung: Wenn ein Elektron mit kurzwelligem Licht (z.B. mit Gamma-Strahlen) beschossen wird, so gibt es eine Wechselwirkung mit der Messapparatur (siehe Comptonrückstoß). Diese hat zur Folge, dass Ort und Impuls dieses Teilchens nicht gleichzeitig genau gemessen werden können. Der Grund liegt letztendlich im Planckschen Wirkungsquantum, das eine wechselwirkungsfreie Messung grundsätzlich ausschließt. Der Wert dieser Konstante nach Gerthsen Physik: h = (6,626 068 8 ± 0, 000 000 5) ∙ 10-34 Js). Die Heisenbergsche Unschärferelation drückt das bekanntlich so aus: Δx Δp ≈ h.

Dennoch gibt es hinsichtlich der beiden kanonisch konjugierten Größen (Ort und Impuls) ein konkretes nichtcodiertes Abbildungsverhältnis zwischen Messobjekt und Messapparatur, wenn auch ein unscharfes. Anders bei der Farbe: Es gibt nicht nur - wie beim Elektron - keine scharfe 1 : 1 - Abbildung, sondern es gibt überhaupt kein Abbildungsverhältnis, aus dem zum x-ten Mal genannten Grund, weil es in der Außenwelt keine FARBE gibt, die "abgebildet" werden könnte. Und dennoch sehen wir die Farbe, z.B. Rot. Das hat nichts damit zu tun, dass ich eine "idealistische (metaphysische) Grundhaltung habe" - eine falsche Diagnose. Auch "schwebt" mein Geist "nicht über den Wassern, d.h. über der physikalischen Welt" und wäre damit "übernatürlich". All das sind reine Unterstellungen, die mit meinem Modell von Geist nichts zu tun haben.

Dass "Drahtlooser" es nicht versteht oder nicht verstehen will, zeigt auch seine gespielte Verwunderung im Zusammenhang mit meiner These, dass Computer "lückenlos physikalische Systeme" sind und aus diesem Grund keine Farbe als Farbe erkennen können. So schreibt er: "Seltsam, dass die "lückenlos physikalischen Systeme" so spielend damit umgehen." Wiederum zum x-ten Mal: Computer "gehen nicht mit Farben um", sondern mit Wellenlängen von Photonen.

M.a.W. und am Beispiel von Lobos roten Haaren: Auf dem Bildschirm des Computers gibt es keine roten Haare, sondern nur Emissionen von Photonen mit der entsprechenden Wellenlänge, aus denen der menschliche Benutzer - und nicht der Computer - die Farbe generiert!!! Ich hoffe, dass ich damit auch Michael Matters Frage nach dem "Unterschied zwischen der Tastatur, die…Signale an die CPU schickt, und dem Auge, das…Signale an das Gehirn sendet" beantwortet habe.

Der Phänomentest als letztes Beweismittel

Zur Erinnerung: Unter "Denken" verstehe ich zeitliche Repräsentation von Bedeutung in der internen Struktur des jeweiligen Systems. In zwei Modalitäten: erstens als Bedeutung von Symbolen, zweitens als Bedeutung von Formen. Da der Beweis auf der Formenebene einfacher zu führen ist (siehe z.B. die schon erörterten visuellen Vorgänge in unseren Nachtträumen), schließe ich meine Bemühungen mit einem Phänomentest und der Behauptung ab, dass Computer diesen Test definitiv nicht bestehen. Zu dieser Rigorosität des Computerausschlusses bei Phänomenen bemerkt "Drahtlooser" kritisch:

Warum können das Computer "definitiv" nicht? - Die Antwort bleibt Behauptung ohne Substanz. Auch im Gehirn gibt es keine "gegenständlichen" Abbildungen von was auch immer, und im Geist schon gar nicht. (Was soll eine "gegenständliche" Abbildung im "Geist" sein??

Drahtlooser

Antwort D’Avis: Festzustellen, dass es "im Gehirn…keine "gegenständlichen" Abbildungen (gibt)", ist überflüssig zu erwähnen deshalb, weil ich das im Spannungsverhältnis von Geist und Gehirn selbst mehrfach gesagt habe!!! Das jetzt noch einmal auszuführen, erspare ich mir und wähle ergänzend einen einfachen, im Sinne von "augenfällig" aber schlagenden Beweis. Mit einem Beispiel, das "Drahtlooser" mit großer Wahrscheinlichkeit kennt, aus dem er aber mit ebenfalls großer Wahrscheinlichkeit nicht die richtigen Konsequenzen gezogen hat. Sonst hätte er seine obige Frage nicht gestellt. Der Beweis:

Bild: M. Mißfeldt/ sehtestbilder.de

Um den üblichen Schüssen aus dem Schnellfeuergewehr à la "olle Kamellen" zuvorzukommen: Es geht nicht darum, das Beispiel zu kennen, auch nicht darum, die bekannte Erklärung für das Zustandekommen der Abbildung zu wissen, sondern es geht ausschließlich darum, aus dem Test eine sowohl weltbildformende wie auch computerrelevante Schlussfolgerung zu ziehen.

Nun die Erklärung der Testaufgabe für die Wenigen, die den Test noch nicht kennen: Konzentrieren Sie Ihren Blick auf die vier kleinen senkrechten Punkte in der Mitte der Abbildung, ca. 35 Sekunden lang (im Geiste von 1 bis 35 langsam zählen), dabei möglichst die Augen immer geöffnet halten. Nach 35 Sekunden wenden Sie den Blick von der Abbildung ab und schauen auf eine leere, möglichst weiße Wand. Sobald Ihr Blick auf die Wand gerichtet ist, klimpern Sie 3 - 4 Mal mit den Augen. Dann müssten Sie etwas sehen. Verschwindet das Gesehene, klimpern Sie erneut 3 - 4 Mal mit den Augen.

Und nun zunächst zu der weltbildformenden und allgemeinen, d.h. für jede Wahrnehmung gültigen Schlussfolgerung aus dem Testergebnis: Wir schauen - entgegen unserer Alltagsüberzeugung - nicht in den Raum hinein. Denn sonst würden wir auf der Wand nichts sehen, aus dem einfachen Grund, weil die Wand ja während des ganzen Tests leer ist. Das heißt: Was wir (scheinbar auf der Wand) sehen, muss Teil unserer Innenwelt sein - und zwar in Form eines Phänomens und nicht in Form von Elektronenfluss o.Ä. Das nenne ich "gegenständliche Abbildung im Geiste".

Wichtig ist: Der Test gilt pars pro toto, d.h. alle Phänomene der Außenwelt sind im Moment der Wahrnehmung in Form einer konkreten Abbildung ein "gegenständlicher" Teil unserer geistigen Innenwelt - und nicht nur in Form einer elektrischen Codierung. Und das Weltbildformende besteht darin: Bei allen Wahrnehmungen von Objekten der Außenwelt (z.B. die Wahrnehmung einer Person) schauen wir nicht in den Raum hinein, nicht zu dem Objekt hin. Schon aus physikalischen, aber auch aus neurophysiologischen Gründen ist das unmöglich. Die steile These von Drahtlooser, meine Behauptung sei "ohne Substanz", war wieder einmal ein Schnellschuss am Ziel vorbei.

Und jetzt zur zweiten Beweisfunktion des Tests: Computer haben prinzipiell keine Phänomenkompetenz in ihrer CPU. Deshalb bestehen sie diesen Phänomentest nicht. Verifizieren läßt sich das leicht so: Man nehme einen mit Kamera und Bildschirm ausgerüsteten Computer und stelle ihm die gleiche Testaufgabe (Ausrichten der Kamera auf die vier senkrechten Punkte etc.). Das Ergebnis: Auf dem digitalen Bildschirm wird nichts als die leere Wand erscheinen - im Unterschied zur Wahrnehmung bei Menschen, die vor ihrem "inneren Auge" einen sich sogar bewegenden Jesus sehen.

Abschließen möchte ich die dritte Runde mit einem schönen Gedankenexperiment von Leibniz: Wir denken unser Gehirn unter Beachtung aller anatomischen Verhältnisse so groß, dass wir "wie in einer Mühle" darin umhergehen können. Selbst dann, wenn wir bei diesem Rundgang alle Gesetze und Mechanismen der Gehirnatome erkennen und messen könnten, so würden wir nach Leibniz doch nur bewegte Atome etc. sehen, aber keinen einzigen Gedanken, der auf der Grundlage der Bewegungen der Atome entsteht.

Prof. em. Dr. Winfried D’Avis forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten (Frankfurt, Klagenfurt, Perugia, Changsha) zu den Themen Logik der Forschung, Cognitive Science und Informationsgesellschaft. 2019 erschien sein Buch "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften".

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