Wider die Rede vom "Postfaktischen"
Seite 2: Massenmedien fungieren nicht mehr als "Wächter der Wirklichkeit"
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Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konnten "private Meinungen" regelmäßig nicht einmal Teil der heterodoxen Wissensbestände der Gesellschaft werden - ganz einfach deshalb nicht, weil es sich um Wissen handelte, das mangels entsprechender Übermittlungskanäle keine Chance hatte, öffentlich bekannt und damit vielleicht auch kulturell wirksam zu werden. Falls dies doch einmal gelang, etwa in Form eines im Eigenverlag veröffentlichten Bandes mit abweichenden Thesen über "die Wirklichkeit", wurde dieses Wissen schnell von den zuständigen Instanzen sozialer Wirklichkeitskontrolle ("Wächter der Wirklichkeit" im wissenssoziologischen Sprachgebrauch) erst delegitimiert und dann gänzlich aus dem kulturellen Wissensvorrat auszusondern versucht.
Dieser Prozess der Nihilierung wurde bereits von Berger und Luckmann (1969) ausführlich beschrieben. Das beste Beispiel, wie solche Prozesse heute ablaufen, liefern die massenmedialen Debatten über vermeintlich ebenso irrationale wie politisch gefährliche Verschwörungstheorien - die letztlich ja nichts anderes anbieten als alternative, eben heterodoxe Erklärungen kulturell bewegender Ereignisse (siehe hierzu Anton u.a. 2013).
Aber die Zeiten der primär massenmedial bestimmten Wirklichkeitskonstruktion scheinen vorbei. Abweichende Wissensbestände, alternative Weltdeutungen können nicht mehr so ohne weiteres aus den öffentlichen Debatten ausgeschlossen werden. Die Netzwerkwerkmedien verfügen über ihre ganz eigene Ökonomie der Aufmerksamkeit und bieten manchen - allerdings bei weitem nicht allen - Heterodoxien Verbreitungsmöglichkeiten, wie sie im vordigitalen Zeitalter nur den orthodoxen Gewissheiten zur Verfügung standen.
Diese Neuverteilung der Rollen im Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit erzeugt seit Jahren bei den traditionellen "Bestimmern der Wirklichkeit" (wie Berger und Luckmann sie damals nannten), namentlich bei den Beschäftigten der Massenmedien, eine durchaus begründete Zukunftsangst, eine Angst, die gelegentlich in veröffentlichten Panikattacken ihren Ausdruck findet. Und der Name einer dieser Panikattacken lautet "postfaktisch".
Fazit: Das Attribut "postfaktisch" könnte man bestenfalls noch als einfach nur unglücklich gewählte Bezeichnung für einen Modus nicht massenmedial dominierter Konstruktion von Wirklichkeit durchgehen lassen - aktuell wird der Terminus in der Öffentlichkeit jedoch gerade nicht analytisch, sondern diskursstrategisch verwendet.
Jeder, der den Begriff ernsthaft benutzen will, sollte sich deshalb vorab überlegen, ob er der damit benannten strategischen These tatsächlich zustimmen und der existenziellen Panik der traditionellen Massenmedien Vorschub leisten mag. Und wer glaubt, mittels dieses Begriffs zeitgeistgemäß "postmodern" argumentieren zu können, möge sich an die lautstarken öffentlichen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts erinnern, in denen neue soziale Probleme am laufenden Band entdeckt, richtiger: erfunden wurden. Jene Problemwahrnehmungen waren und sind nicht weniger "postfaktisch" als beispielsweise die Verschwörungstheorien, denen heute mit jenem Kampfbegriff der Status kulturell legitimer Erklärungshypothesen abzusprechen versucht wird. Wenn überhaupt irgendetwas "postfaktisch" im heute gemeinten Sinne ist, dann der Begriff selbst.
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