Widersprüchliche Rauchzeichen aus dem Philosophenstübchen

Der Ethikverband der Deutschen Wirtschaft und das Philosophische Kolleg für Führungskräfte sorgen sich um den Missbrauch der Ethik in der Wirtschaftskrise

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Der im Jahre 2003 gegründete Ethikverband der Deutschen Wirtschaft will den Unternehmen und Managern bei der Vermittlung von Wirtschaft und Ethik Expertenhilfe geben und die "Verträglichkeit von Profit und Moral sicherstellen". Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der wachsenden Empörung im einfachen Volke darüber, dass die neuen Feudalherren einfach nicht auf ihre Boni verzichten wollen, wendet sich nun das Gremium auch an die Außenwelt.

In einer zwischen sehr abstrakten und recht konkreten Ebenen munter hin und her changierenden und deswegen nicht unsibyllinischen Pressemitteilung warnt nun der Vizepräsident, Dr. Klaus-Jürgen Grün, vor "dem falschen und unverantwortlichen Gebrauch ethischer und moralischer Wertungen".

Die Kritiker der derzeitigen Wirtschaftskrise würden, da sie deren Entstehen nicht begriffen hätten (worüber aber in der Pressemitteilung kein Wort mehr verloren wird), diesen Erkenntnisnachteil überspielen, indem sie mit der Ethik argumentieren, die sie noch weniger kapiert haben: "Es macht keinen Sinn, von ethischen Grundsätzen zu reden, diese einzuklagen, ohne diese Grundsätze zu benennen."

Auch soll mit der Überformung der Kritik durch eine moralisierende Ethik überspielt werden, dass die Bemäkelung der Lage keine allgemein-objektive wertneutrale Beurteilung darstellt, sondern von bestimmten gesellschaftlichen Interessen geleitet ist und diesen, insofern sie "unbemerkt moralische Ängste" erzeugen, als Machtmittel dient:

Die von der Wirtschaftskrise erzeugte Angst schafft derzeit Sündenböcke, denen aufgeladen wird, was sie nicht allein zu verantworten hatten. Nicht weniger als Banker und Manager tragen Politiker die Verantwortung für das verlorene Gemeinwohl. Auch die Spekulanten haben sich im Rahmen der Gesetze an die gesellschaftlich anerkannte Logik der Gewinnmaximierung gehalten.

Resultat entgegengesetzter, konkurrierender oder gar sich paralysierender Einzelhandlungen

Da die meiste Empörung über die Wirtschaftskrise auf die Gesinnung der Banker zielt, nicht aber auf den "Nutzen der Handlung", wäre es sinnvoll einzufordern, darzustellen wie "eine Moral auszusehen hat, die den Markt tatsächlich verantwortungsvoll begleiten und beherrschen könnte." Weiter sollten Führungskräfte nicht nur aufgrund ihrer Sachkenntnisse, sondern auch wegen ihrer Charaktereigenschaften auf ihre Posten gehievt werden, Unternehmen einen Vorstand einrichten, der sich semantisch mit Moral und Ethik auskennt und Aufsichtsräte in puncto Haftung von Managern auch vom Recht Gebrauch machen.

So weit, so widersprüchlich: Die Forderung nach einer Handlungsethik ist durchaus nicht falsch, denn der Kapitalismus würde aus strukturellen Gründen genauso funktionieren, wie er tatsächlich funktioniert, wenn die Manager und Vorstände gesinnungsethisch nicht gierig und keine Zocker wären. Philosophisch müsste man aber mit der Frage nach den Bedingungen des Handelns in einer durch den Marktmechanismus vermittelten Gesellschaft beginnen und um diese ist es wiederum in jener durchaus trübe bestellt, insofern der Handlungsrahmen der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft durch Sachzwänge determiniert ist.

Der in sich widersprüchlich und unkoordiniert verlaufende Konstituierungsprozess der Warengesellschaft ist zwar Ergebnis individuellen bewusstseinsgeleiteten Handelns, dennoch ist die über den Markt vermittelte Kapitalverwertungsbewegung das Resultat entgegengesetzter, konkurrierender oder gar sich paralysierenden Einzelhandlungen. Diese Gesamtheit erweist sich als unabhängig vom einzelnen Willen und Bewusstsein und determiniert die Menschen hinter ihrem Rücken als Sachzwang.

Anlagemöglichkeiten außerhalb des produktiven Bereichs

Die eigentlichen Subjekte des Geschehens, die Hersteller der Waren, die Menschen, werden von ihren hergestellten Objekten, den Waren, zu Objekten degradiert und müssen sich ihren Verwertungsbedingungen, also dem Druck der Konkurrenz und dem Zwang zum Wirtschaftswachstum unterordnen: Denn da die Produktion der Güter nicht gesellschaftlich geplant wird, sondern die Waren erst nach dem Tausch auf dem anarchischen Markt (der verschiedentliche ökonomische Eigenlogiken aufweist) ihren Wert realisieren und gesellschaftlich werden, müssen die Gesetze des Marktes in verschärfter Weise befolgt, die Mitkonkurrenten unterboten und die Gewinne wiederum so investiert werden, dass sie voraussichtlich am meisten Profit abwerfen.

Und da die technischen Möglichkeiten zur Herstellung von Waren, schneller zunehmen als sich die Profite realisieren, sind Unternehmen gezwungen, sich Anlagefelder außerhalb der sogenannten Realinvestitionen zu suchen, sobald diese mehr Profit versprechen. Anders formuliert: Die einzelnen Konzerne sind auf der Angebotsseite wegen der Konkurrenzsituation gezwungen, zum Zweck der Verbilligung der Waren, fortwährend menschliche Arbeitskraft durch Technologie zu ersetzen.

Dies macht sich wiederum auf der Nachfrageseite vermittels der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit in einem Kaufkraftmangel bemerkbar. Dementsprechend sind Unternehmen gezwungen, sich Anlagemöglichkeiten außerhalb des produktiven Bereichs zu suchen, weil eben die Produktivität schneller wächst als sich die Investitionen realisieren lassen. Das hat nichts mit moralischen Verfehlungen von Managern oder Charakterschwächen von Vorständen zu tun, sondern würde mit ausschließlich Edlen und Guten in den Chefetagen ebenso funktionieren.

"Absoluter Gegensatz zwischen Moral und Markt"

Wir leben eben in einem Wirtschaftssystem, das auf Sachzwängen und ökonomischen Eigengesetzlichkeiten beruht. Von diesem Gerechtigkeit zu fordern wäre in etwa so sinnvoll wie der Ruf nach einem gerechten Luftdruck, wie der neoliberale Theoretiker Friedrich August von Hayek völlig richtig bemerkt hat. Schließlich ist von Gerechtigkeit zu sprechen nur sinnvoll, wenn Menschen die Folgen ihres Handelns absehen können. Und in einer krisenhaft und chaotisch verlaufenden Marktwirtschaft können sie das nicht.

Der Ethikverband der deutschen Wirtschaft geht nun aber erstaunlicherweise davon aus, dass die Kritiker und nicht die Befürworter der neoliberalen Wirtschaftsweise einer Ethik folgen, die den "absoluten Gegensatz zwischen Moral und Markt" konstruiert. Bei genauem Hinsehen stimmt das gerade nicht, weil sich zum Beispiel berühmte Gegner der gegenwärtigen Wirtschaftsweise wie Noam Chomsky und Oskar Lafontaine, sich in ihrer Kritik des Neoliberalismus ganz zentral auf den bürgerlichen Wirtschaftstheoretiker Adam Smith beziehen, der wiederum in seinem theoretischen Konstrukt der "invisible hand" Markt und Moral unmittelbar zusammenschnalzen lässt. Auch müsste die rein moralische Kritik von Seiten der inferioren Kritiker unseren Wirtschaftsethikern eigentlich zupass kommen, da die Strukturen, welche die ökonomischen Verwerfungen produzieren, damit vollkommen aus dem Blickfeld geraten.

Sachzwänge als Realität und Propaganda

Es ist nicht gänzlich unbekannt, dass sich die Regierung Fischer-Schröder von "Experten" in Kommissionen verschiedene wirtschaftsfreundliche Gesetze formulieren ließ - zum Beispiel zum Eigenkapital von Banken und zur Gründung von Bank-Töchtern, welche dazu führten, dass Deutschland in stärkerem Maße von der Wirtschaftskrise betroffen ist, als beispielsweise Skandinavien, und die sich dementsprechend als absolut kontraproduktiv für das Gemeinwesen erwiesen. Die "Experten", welche diese Gesetze formulierten, kamen aus der Privatwirtschaft, wo ein Großteil der Politiker der damaligen Regierung mittlerweile in lukrativen Posten untergekommen ist, so dass sich ohne größeren Denkaufwand der Tatbestand des Interessenkonflikts konstruieren lässt.

Dennoch sind die Gründe für diese Änderungen nicht in den subjektiven (vermutlich durchaus gegebenen) charakterlichen Verfehlungen der Individuen zu suchen, die sie zuwege gebracht haben, sondern in den objektiven Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals, die als Sachzwang keine Lüge sind, auch wenn sich bestimmte Sachzwänge (wie zum Beispiel die Privatisierung der Rente, die Politik der leeren Kassen) als Produkte massiver Propaganda entpuppen.

Die Konjunktur- Die Determinante im Kampf um die Höhe des Arbeitslohns

Überdies sind Ethiken nicht automatisch durch den Nachweis widerlegt, dass sie bestimmten Interessen der Menschen dienen. Das Allgemeine und das Besondere müssen sich durchaus nicht immer in zwingender Weise ausschließen. Schließlich kann auch das gesellschaftlich Allgemeine, wie zum Beispiel der kapitalistische Markt, als wesentliche Vermittlungsinstanz bei der Verteilung der Güter unter den Menschen etwas geschichtlich junges, mithin etwas Besonderes sein.

Auch müsste in der Tat gefragt werden, welche Interessen mit den unterschiedlichen Ethiken bedient werden: Das gilt zum Beispiel sowohl für die Forderungen des Neoliberalismus wie auch die Ansprüche der Lohnabhängigen in der Marktwirtschaft. Hier stehen sich zwei Positionen gegenüber, die in ihrer eigenen Semantik plausibel sind, deren Durchsetzung jedoch nicht nur von der Macht der Argumente, sondern auch von der Macht, des gesellschaftlichen Drucks abhängt, welche die beiden Akteure erzeugen können.

Dass aber beide Positionen partikulare Forderungen sind, zeigt sich daran, dass ihre Durchsetzung zeitversetzt immer auch gegen das eigene Interesse zurückschlagen kann: Bei zu niedrigem Lohn wird das produzierte Warensortiment nicht in Geld realisiert, bei zu hohem Lohn werden Leute entlassen. Beides hängt - vom Willen der Arbeitgeber unabhängig - von der objektiven Lage der Konjunktur ab.

Gerechteste aller Welten

So ist das Einfordern einer Handlungsethik der Beurteilung der sozialen Verhältnisse der Gesinnungsethik durchaus ein Stück voraus. Denn letztendlich zeigt sich, dass die bürgerlich-traditionelle Gesellschaft für ihr soziales Überleben in etwa in dem Maße ethische Standards braucht, wie sie dieselben abbaut, weil sie dem wirtschaftlichen Fortkommen hinderlich sind, während die Konkurrenzwirtschaft mit ihren Prinzipien geradezu als gerechteste aller Welten vorausgesetzt ist (wobei wiederum übersehen wird, dass der Markt, gerade wegen der Gleichbehandlung aller Teilnehmer, dem Vorteile verschafft, der seine Waren am effizientsten produzieren und am kostengünstigsten anbieten kann).

Dies führt wiederum zu sozialen Verfehlungen, die durch ethisches Verhalten der Menschen kompensiert werden müssen. Gerade diese Eigenschaften sind aber auf dem Markt nicht gefragt. Man bemüht sich also gerade dann den Karren subjektiv-moralisch aus dem Dreck zu ziehen, wenn er objektiv-gesellschaftlich an die Wand gefahren und in seine Einzelteile zerlegt wurde.

Dementsprechend wäre es (anstatt eine neue Ethik zu fordern) im Sinne einer Handlungsethik eher angeraten, in der gegenwärtigen Gesellschaft nach Tendenzen zu forschen, die eine Form von Gesellschaft ermöglichen, in denen die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft für den Einzelnen rational einsehbar (also objektiv-vernünftig) ist und ethische Kompensationsweisen überflüssig macht.

Zu fragen ist also in der Tat immer, welche Interessen hinter den ethischen Standards stehen, welche die Grundlagen der jeweiligen Forderungen bilden: Zielt man mit den Forderungen auf bestimmte verselbständigte Erfordernisse einer krisenhaft verlaufenden Wirtschaftsordnung, auf die Bedürfnisse von Menschen oder auf die Herstellung der Grundlage einer möglichen Form von Selbstbestimmung?

Eine zukünftige Gesellschaft

Würden sich die Herren des Ethikverbandes zu guter Letzt an das eigene nietzscheanische Näslein fassen und auch für den Balken in ihrem Auge Sorge tragen, könnten sie ohne Mühe feststellen, dass ihre durchaus nicht unmoralinsaure Kritik von "Bestrebungen, unbescholtenen Bürgern, die mehr als € 500.000,00 verdienen, die Steuerfahndung auf den Hals zu hetzen, in die Vertragsfreiheit zwischen Unternehmen und Versicherungen dirigistisch eingreifen zu wollen", gleichfalls von Interessen bestimmt wird, so dass sich ihre Kritik an der moralischen Kritik der Globalisierungsgegner, die interessegeleitet ist, sich zumindest auf der formalen Ebene aufhebt.

Andererseits durchbricht die utilitaristische Forderung nach einer auf den Nutzen orientierten Handlungsethik ungewollt den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft: Da der einzelne Mensch mit seinem Nutzen den Gesamtnutzen der Gesellschaft vermehrt und weil die Selbstbestimmung, das Glück, letztendlich das Ziel jedes einzelnen Bestrebens ist, muss die Gesellschaft dafür sorgen, dass durch die Bereitstellung nützlicher Güter die Befriedigung physischer und geistiger Bedürfnisse als Grundlage autonomen Strebens gewährleistet ist.

Die ökonomische Entwicklung stellt also in dieser Konzeption keinen Selbstzweck dar, sondern ist auf die Perspektive der Erweiterung der Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung ausgerichtet. Da die Kategorien Glück und Selbstbestimmung nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Natur sind, muss letztendlich ein gesellschaftlicher Handlungsrahmen geschaffen werden in welchem die Menschen sich von den Sachzwängen emanzipieren können. Mit einer ethischen Reform in den Führungsetagen ist es also keineswegs getan, sondern es müsste eine andere Form von Gesellschaft gefunden werden, in der ethisches Handeln aus rationalen Gründen zum Anachronismus wird.