Widerstand aus dem Cyberspace

Hacktivismus: Das Netz schlägt zurück

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Netzaktionismus hat sich vom Kunstprojekt zur Mode entwickelt. "Hacktivisten" überfluten Websites politischer Gegner oder nutzen das Web als Ideenpool für den subversiven Kampf gegen die Macht der Konzerne. Doch wie effektiv sind die Cybercoups wirklich, solange die Bomben ohne lange (Netz-) Diskussionen von ganz realen Mächten abgefeuert werden?

Eine der großen Hoffnungen der Netzutopisten ist die Erwartung, daß das Internet die Macht vom Zentrum an den Rand, von den Großen auf die Kleinen, von den Regierungen und Unternehmen auf die Individuen, die sich in Interessengemeinschaften online zusammenfinden, überträgt. Im Aufmerksamkeitsfeld des kritischen Netzbeobachters ganz weit vorne liegt daher eine lose zusammenhängende Bewegung von Online-Aktivisten bzw. -Aktionsgruppen, die im vergangenen Herbst auf den eingängigen Namen "Hacktivism" getauft wurde. Auch als "Infowar des kleinen Mannes" bekannt, geistert die in Mode geratene, elektronische Form des "zivilen Widerstands" durch das Netz sowie die "alten" Medien, erschreckt das Pentagon genauso wie die mexikanische, indonesische oder chinesische Regierung und gibt der Hackerszene neue Impulse. Auf dem Medienfestival South by Southwest in Austin, Texas, trafen sich die Repräsentanten einiger Aktionsgruppen und diskutierten mit dem "Cyberpunk" Bruce Sterling - Autor von The Hacker Crackdown - über die Zukunft der "Branche".

Zu den bekanntesten Aktivistenvereinigungen des neuen Kalibers gehört das Electronic Disturbance Theatre, das im vergangenen Jahr vor allem durch "Angriffe" auf die Website des Pentagons sowie auf die virtuelle Heimat des mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo Schlagzeilen machte. Die "elektronischen Verunsicherer" - im Kern eine Gruppe von Studenten und Webdesignern aus New York, die als Kunstprojekt gestartet sind und sich weiterhin als Netzkünstler bezeichnen, - nutzen für ihre Heimsuchungen ein Java-Script namens "Floodnet", mit dem sie ihre "Kunstobjekte" zum Abstürzen bringen wollen. Das Script wird dazu während einer angekündigten Zeitperiode auf die eigene Website gepostet. Jeder Besucher kann das Mini-Programm, das permanent eine bestimmte oder nicht existierende Page auf einem Server abruft und diesen damit in die Knie zwingen kann (Denial of Service), auslösen. Je mehr Surfer die Site des Electronic Disturbance Theatre ansteuern, desto mehr Hits erhält der attackierte Server und desto wahrscheinlicher ist ein Absturz, der die Website vorübergehend von Netz nimmt.

10.000 Leute sollen nach Angaben der Cyberaktivisten allein beim "Sturm" der Präsidenten-Site, der als Demonstration gegen die Haltung der mexikanischen Regierung im Kampf gegen die Zapatisten ausgewiesen war, mitgewirkt haben. Weniger erfolgreich war die Pentagon-Attacke: Die Aktion war auf der Email-Liste der Ars Electronica zum letztjährigen Kongreßthema Information Warfare lauthals angekündigt worden, so daß die paranoiden Webmaster des amerikanischen Verteidigungsministerium - angeblich eines der beliebtesten Hackerziele im World Wide Web - mit einem eigenen, nun die Browser der Angreifer zum Absturz bringenden Java-Applet antworten konnten.

Trotzdem erregte die Aktion Aufsehen: Der Infowar-Experte Winn Schwartau sprach in einem Artikel im Magazin Network World vom ersten militärischen Gegenangriff auf Menschen im eigenen Land. Da derartige "Counterstrikes" durch ein Gesetz von 1878, den "Posse Comitatus" untersagt sind, fordert Schwartau für zukünftige Fälle eine Revision bestehender Gesetzestexte, die dem Militär eine Verteidigung gegen zivile digitale Attacken gestattet. Der Cyberspace selbst ist bereits zum "Kriegsschauplatz" der amerikanischen Armee "befördert" worden: im Oktober hatte das Pentagon den virtuellen Raum hinter den Rechnern offiziell neben dem Weltraum, dem Land, dem Wasser und der Luft zum "battleground" erhoben. Bevor sich der Kongress nun der weiteren legislativen Fassung des Cyberkriegs annimmt, könnte das Electronic Disturbance Theatre streng genommen das Verteidigungsministerium noch wegen Verstoß gegen den Posse Comitatus vor Gericht bringen - doch bisher wird diese Option in New York nicht erwogen.

Stefan Wray, einer der Köpfe der Gruppe, wehrt sich auch dagegen, mit Crackern, Cyberterrorismus und Information Warfare in Verbindung gebracht zu werden. "Das sind alles vom Staat erfundene Begriffe, um die neuen Formen des zivilen Widerstands zu dämonisieren", sagte der vom Student zum Weltreisenden mutierte Aktivist in Austin. Es gehe auch keineswegs etwa nur darum, sich Zugang zu Websites zu verschaffen, um dort sein "Markenzeichen" zu hinterlassen und Inhalte zu verändern. "Hacktivism", der "computergestützte Aktionismus", habe eine politische Note und werde zum einen von Aktivisten, die sich in Hacker verwandeln, und zum anderen von Hackern, die zu Aktivisten werden, getragen. Für erfolgsversprechend hält Wray auch nicht nur die eigenen, rein virtuellen Coups: Hilfreich sei oft eine "Kombination von Hacks mit echter Underground-Action" wie etwa kürzlich bei der Besetzung des Londoner Shell-Büros, bei der die Aktivisten mit Laptops bewaffnet in die Firmenräume eingedrungen seien und von dort einen Webcast gestartet hätten.

Die Zukunft des Hacktivism sieht Wray gemäß alter Hackertradition im "kreativen Gebrauch der Technologie". Das Electronic Disturbance Theater hat nach dem Floodnet in diesem Sinne bereits ein neues Werkzeug in der Mache, um Online-Proteste zu gestalten. Das "Virtual March System" soll Demonstrationszüge im Web ermöglichen, bei denen die Teilnehmer sich gemeinsam auf einer Site treffen und von dort aus mit "Spruchbändern" bewaffnet zu anderen Web-Angeboten losziehen. Die nötige Technik befindet sich noch in der Entwicklung, die "Betaversion" des Demonstrationsprogramms soll in diesem Jahr getestet werden.

Media-Hacking und Fonds für Cyberaktivisten

Dem übers Netz koordinierten Widerstand hat sich auch die in den USA gegründete "Künstlergruppe" mit dem schwierigen Namen (r)TMark - gesprochen: Artmark, geschrieben der Einfachheit halber meist RTMark - verschrieben. Wie das Label schon vermuten läßt, liegen in der "Schußlinie" der Vereinigung weniger Regierungseinrichtungen als vielmehr die global agierenden und die Weltsicht von immer mehr Menschen prägenden Konzerne. "Der visuelle Raum ist gepflastert mit den Logos von Unternehmen", empörte sich eine Sprecherin der Gruppe, die unter dem Pseudonym Ray Thomas firmiert, während South by Southwest. Firmen mit ihren aufwendigen Marketingmaschinen und ihrer Macht über die Finanzmärkte seien längst an die Stelle von Regierungen getreten. In der amerikanischen Verfassung gäbe es seit 1886 zudem einen in viele anderen demokratischen Verfassungen übernommenen Passus, demzufolge Unternehmen die Rechte - aber nicht die Verbindlichkeiten - von "Personen" eingeräumt würden. Jeder Bürger sei demnach wegen eines kleinen Diebstahls vor Gericht zu bringen, während Firmen, die ganze Landstriche verwüsteten, als "Gesamtperson" nie der Prozeß zu machen sei.

RTMarks Ziel ist nun, die in den Händen von Konzernen angesammelte Macht wenigstens zum Teil wieder an die Bürger zurückzugeben. Der Weg zum Ziel ist die Subversion. RTMark wendet die Kunst der Mimikry an und versucht, Konzerne in möglichst vielen Aspekten nachzuahmen. "Wir haben ein Logo, wir haben Slogans, wir haben kein Zentrum. Wir haben sogar Fonds, in die unsere Kunden und Financiers investieren können", erklärt Thomas. In welche "Werte" angelegt werden soll, bestimmen die Besucher der Website: Jeder kann dort Ideen für Aktionen abgeben, deren Erfolgsaussicht und Chance auf Verwirklichung dann vom "Markt" bewertet wird. Bereits durchgeführt wurde unter anderem ein "Befreiungsschlag für Barbie": RTMark veränderte dabei leicht das Sprachrepertoire von Barbiepuppen und GI-Joes: Barbies zartem, von blondem Haar umspielten Mund entsprangen plötzlich ungewohnte Töne wie "Kill, kill", während der Kriegsheld auf einmal einkaufen gehen wollte. Die einem Großhändler untergejubelten Puppen gelangten über den normalen Handel an die Kunden.

Die Aktionen selbst, die vom Aufruf zur kollektiven Krankmeldung bis zu anderen Produktmanipulationen und Unternehmensparodien reichen, sind für RTMark aber nur Mittel zum Zweck. Das Hauptziel der Vereinigung, die über die "Fonds" für jede Aktion kleine Gruppen akquiriert und steuert, gibt Thomas als "hacking media" an: "Wir sind im Grunde eine PR-Firma", betont die Medienkünstlerin. Letztlich gehe es darum, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erreichen, mit sublimen Mitteln zum Nachdenken über die Macht von Unternehmen anzuregen und diese langfristig zu unterwandern. Das Web habe als Aktionsplattform dabei gute Dienste geleistet und für einen besseren "Return on Ideas" gesorgt.

Wie erreicht man die Fußballer-Muttis?

Doch nicht alle Netzaktivisten befürworten subversive Spiele und nach Schlagzeilen schielende "Kunstprojekte". Alex Sheshunoff von E-the-People, einer Site, die den Wählern mit Hilfe von Formularen und Briefen den engeren Kontakt mit ihren Repräsentanten ermöglichen will, lehnt die Methoden seiner "Kollegen" als "eskalationsfördernd" ab: "Aus dem Hacking wird schnell eine Kriegsführung. Man wird gezwungen, immer schwerere Geschütze aufzufahren, um in die Medien zu gelangen." Zudem seien die meisten Aktionen nur auf die Machtzentren ausgelegt. Es sei aber viel förderlicher, die "Fußballer-Muttis" zuhause zu erreichen und "umzudrehen". E-the-People habe sich daher ganz bewußt dazu entschlossen, "innerhalb des Systems" zu arbeiten.

Während Sheshunoff das Internet allerdings auf jeden Fall als die Zukunft eines wie auch immer gearteten politischen Aktivismus sieht, sind andere Beobachter der Szene skeptischer. "Gruppen von Online-Aktivisten waren bisher nicht sonderlich effektiv", beurteilt der Well-Veteran Jon Lebkowski die harten Fakten. Noch so viele konzertiert versandte Emails oder virtuelle Flugblätter hätten beispielsweise zunächst nicht die Verabschiedung zahlreicher die Meinungsfreiheit im Netz beschneidender Gesetze verhindern können. Erst der physikalische Einsatz der American Civil Liberties Union (ACLU) und ihre Gerichtsklagen hätten das Schlimmste verhindert. Geld und persönliche Lobby-Arbeit seien letztlich nach wie vor die besten Mittel zur politischen Einflußnahme.

Auch R.U. Sirius, Mitbegründer des Cybermagazins Mondo 2000 und "Pop-Idol" der Netzkultur der alten Tage, ist von den Aktionskräfte des Internet nicht mehr ganz überzeugt: "Im Web passieren so viele Dinge, daß man kaum sehen kann, wer was macht." Deswegen sei es schwer, die Leute über ein Medium zusammenzuziehen, das die Aufmerksamkeit gleichzeitig so weit verstreue. "Die Leute treffen sich gerne an realen Orten für politische Aktionen, etwa für Anti-Kriegsdemonstrationen", meint der Autor. Durch das Netz würden aber viele wieder vor den Schreibtisch zuhause gezogen. Ein Allheilmittel gegen Politikmüdigkeit sei das Web daher nicht. Trotzdem kann es R.U. Sirius nicht lassen: 1998 hat er "Die Revolution" ausgerufen und sich als Präsidentschaftskandidat fürs Jahr 2000 aufstellen lassen - um die Aufmerksamkeit der Webaktivisten zu fokussieren. Die Ankündigung ging natürlich durch diverse Mailinglisten und die Site The-revolution.org dient R.U. Sirius als Plattform für die Verbreitung seiner Manifeste.

Die Bomben fliegen weiter

Auch wenn das Goldene Zeitalter des Online-Aktionismus noch etwas auf sich warten läßt, waren sich die in Austin versammelten Aktivisten trotz der unterschiedlichen Methoden und Zielsetzungen einig, daß ihrer Profession dank des Internet eine neue Blütezeit bevorstehe. "Wir haben nun ein internationales Publikum", meint Ray Thomas. Nach kurzem Nachdenken fügt sie hinzu: "Wir erreichen zumindest die Leute in Europa." Wray geht gar davon aus, daß über das Internet eine neue internationale Bürgergesellschaft enstehe: "Das Netz verändert die Art und Weise wie internationale Probleme gelöst werden", glaubt der Kosmopolit. Die Aufmerksamkeit, die den Zapatistas zuteil wird, sei das beste Beispiel.

Unklar bleibt weiterhin, ob die neue Generation von internetgestützten Politakteuren wirklich unter dem Begriff Hacktivism treffend beschrieben wird. "Wahrscheinlich verstehen die Leute im Pentagon 'Hacktivism' besser als die 'Hacktivisten' selbst", meint Bruce Sterling, für den weniger die kleinen Netzgruppen als vielmehr die alten Mächte momentan die führenden Player auf dem Feld des Informationskriegs darstellen. Interessant werde die Entwicklung aber erst, wenn sich tatsächlich Angehörige einzelner befeindeter Nationen untereinander über das Internet bekriegten: "Was passiert, wenn das Netz in Krisenherden wie im Iran oder Pakistan wirklich boomt?", fragt sich der Science-Fiction-Autor. Netzgestützter ziviler Ungehorsam könne dann schnell in zivile Gewalt umschlagen und eine neue Form des Krieges hervorbringen.

"Das Fernsehen hat den Vietnam-Krieg und den Golf-Krieg verändert", ergänzt Ray Thomas bei. Das Netz werde einen ähnlichen starken Einfluß ausüben, auch wenn der Wandel noch nicht wirklich abzusehen sei. Der Kosovo-Krieg, der zum ersten Mal von einer regen Netzdebatte in Online-Debattierclubs wie The Well oder in Mailinglisten wie Nettime begleitet wird, könnte neue Erkenntnisse bringen.

Aufrufe zu Floodnet-Attacken auf die Sites der NATO oder der jugoslawischen Regierung gibt es vom Electronic Disturbance Theatre zwar bislang nicht. Über Nettime werden dagegen bereits Treffpunkte für "reale" Demonstrationen ausgerufen und Links zu den neuesten Nachrichten über den Kosovo-Krieg ausgetauscht. Selbst Email-Diskussionslisten wie FITUG, die normalerweise über Themen wie Kryptographie, Kinderpornographie oder Datenschutz heißlaufen, haben plötzlich nur noch Jugoslawien im Sinn. Eine russische Crackergruppe soll zudem laut Moskauer Zeitungsberichten am Sonntag die Website des amerikanischen Präsidenten lahmgelegt haben. Das Weiße Haus spricht allerdings von einem Hardware-Fehler.

Die Bombenabwürfe selbst hätten Netzaktivisten allerdings nicht verhindern können, warnt R.U. Sirius vor allzu großen Erwartungen an die Macht des Internet. Man müsse immer die Frage stellen, wer eigentlich die Kontrolle habe. Daran werde auch der gesammelte Netzwiderstand wenig ändern.