Wie Befürworter der "Willkommenskultur" gegen Fremdenfeindlichkeit argumentieren

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Die Missklänge lösen sich aber nach mehreren Seiten hin wieder auf. Denn der Hinweis auf die europäische Mitbeteiligung führt gar nicht zu einer näheren Kritik oder zu Gegnerschaft, sondern will die Liste der Rechtfertigungen für die Ankunft von Migranten ergänzen, wirbt um Verständnis für ihre von Anderen verschuldete Not.

Zweitens bezieht die Anklage "uns alle" in die moralische Verantwortung ein, die wir durch Teilhabe an "einem nie dagewesenen Luxus" tragen, von dem das versammelte Prekariat Europas ein Lied singen kann.

Und schließlich landet die Erwähnung von "Fluchtursachen" bei dem für sich widersprüchlichen Appell an die Staatenwelt, von der dem kritischen Bekunden nach viele Übel doch ausgehen sollen, dieselben zugleich durch eine "echte" Klima-, Entwicklungs- und Friedenspolitik zu beseitigen.

Auch die zahlreichen Einwände und Ratgeber gegen Fremdenfeindlichkeit, wie sie kirchliche, parteiverbundene oder gewerkschaftliche Organisationen erstellen, verbleiben in aller Regel in diesen Argumentationsmustern. Sie verteidigen und entschuldigen Flucht und Armutsmigration bevorzugt mit dem Nachweis, dieselben seien wirtschaftlich und sozial nützlich bzw. unschädlich, beruhten auf individuellem Unverschulden oder träfen auf unkorrekte Vorwürfe und Vorurteile. Hierzu eine bezeichnende Sammlung entsprechender Zitate, die die xenophoben "Behauptungen" mit "Tatsachen" zurückweisen wollen:

  • Behauptung: "Europa kann doch nicht die ganze Welt aufnehmen!" vs. Tatsache: "Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge kommt in die EU." "86 Prozent verbleiben in krisennahen Regionen."
  • "Unser Asylrecht kann die Probleme der Welt nicht lösen!" vs. "Wir sind mitverantwortlich für Bedingungen, die Menschen in die Flucht treiben."
  • "Kommt einer, kommen alle!" vs. "Familiennachzug ist eher die Ausnahme als die Regel."
  • "Asylbewerber kriegen mehr als Deutsche!" vs. "Sozialleistungen erhalten grundsätzlich nur Menschen mit dauerhafter Aufenthaltsgenehmigung. Asylbewerber_innen und Flüchtlinge erhalten 40 Euro Taschengeld im Monat." "Migrant_innen stützen mit ihren Steuerleistungen das Sozialsystem insgesamt deutlich stärker, als dass sie es belasten."
  • "Die nehmen uns die Arbeit weg!" vs. "Asylsuchende dürfen während der ersten neun Monate gar nicht arbeiten." "Selbständige Ausländer_innen schaffen doppelt so viele Arbeitsplätze wie vergleichbare deutsche Existenzgründer_innen."
  • "Asylbewerber sind kriminell und gefährlich!" vs. "Sie haben keine signifikant höhere Kriminalitätsrate."
  • "Die haben alle Smartphones!" vs. "In der Regel nutzen sie kostenlose Apps, Flatrates oder freies W-LAN."
  • "Die deutsche Kultur geht zu Grunde, wir werden überfremdet!" vs. "Vieles, was wir heute als typisch deutsch ansehen, ist durch andere Länder und Kulturen geprägt. Bier beispielsweise wurde auf dem Gebiet des heutigen Irak erfunden."

Ideologische Grabenkämpfe und ihre Parolen

Man merkt solchen Rechtfertigungsreden an, dass sie den ausländerfeindlichen Argumenten vornehmlich in fremdenfreundlicher Absicht begegnen, sie der Sache nach aber nicht weiter kritisieren können: Was wäre denn, wenn die 86 Prozent nicht mehr alle "krisennah" verbleiben wollten und dann mit Kind und Kegel anrückten, wenn Migranten das Sozialsystem weniger stützen und eine höhere Kriminalitätsrate aufweisen würden?

Die Verteidigung von Migranten versucht sich hier in der Beschwichtigung von gehässig gewordenen Einheimischen, die deren Maßstäbe glatt stehen lässt und zeigen will, dass die Fremden ihnen durchaus genügen. Auch dort, wo ein solches Plädoyer den Befürwortern der "Willkommenskultur" schwieriger erscheint, halten sie am Verfahren fest und appellieren an ein besseres Deutschland, das doch auch die Gegner beeindrucken sollte: "Menschenrechte zu beachten kostet etwas – und bringt uns etwas." Oder: "Flüchtlinge zu schützen ist nach zwei Weltkriegen nicht nur kulturelles Selbstverständnis in Europa, sondern auch eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung."

Die Feinde von Multikulti kriegen in Slogans und Aktionen wie "Chemnitz bleibt bunt", "Berlin ist unteilbar" oder "München hat ausgehetzt" einen moralischen Zeigefinger vorgehalten: Wer als wahrhaft heimatverbunden und anständig gelten will, für den ziemt sich keine rechtspopulistische Fremdenfeindlichkeit.

Die Sprüche "Wir sind viele!" (Berliner Initiative gegen rechts), "Wir sind mehr!" (u.a. ein Konzert-Motto in Chemnitz) fügen dann den lokalpatriotischen Parolen noch einen gedanklichen Schritt hinzu, stellen sich der Konkurrenz um die Frage, wer hierzulande zu Recht "Wir sind das Volk!" skandieren darf, und benutzen dazu wie selbstverständlich das Kriterium Mehrheit, wie wenn das ein Argument wäre und als ob das – siehe die Rechtspopulisten an der Macht – nicht auch nach hinten losgehen könnte.

Defizite der Argumentation

Und ausgerechnet darüber sollen die Freunde von Pegida, AfD & Co. oder wenigstens die Migrationskritiker in der Mitte der Gesellschaft ins Grübeln kommen? In Sachen Volk und Heimat dürften sich die einen wie die anderen wenig vormachen lassen. Die Verteidigung "unserer deutschen Leitkultur" (populär gemacht vom damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, zuletzt am Beispiel des Händeschüttelns, eingeklagt vom Ex-Innenminister Thomas de Maizière) ist etwas, was die einen bei den politischen Anführern vermissen und die anderen bei denselben in Auftrag geben.

Beide Gruppen mögen die Notlagen von Flüchtlingen und Migranten und die deutsche "Verantwortung" dabei unterschiedlich beurteilen, aber dass "wir nicht das Sozialamt für die ganze Welt" sind (Seehofer am Aschermittwoch 2015) oder sein können, dürfte vom rechten Rand bis zum demokratischen Mainstream ähnlich gesehen werden. Und dass "Kinder statt Inder" (Jürgen Rüttgers, späterer NRW-Ministerpräsident, im Wahlkampf 2000) sinnbildlich gesprochen, die bessere Lösung des angeblichen Arbeitskräftemangels darstellen, meinen auch beide gemeinsam.

Überdies hat die beabsichtigte Widerlegung der vermuteten fremdenfeindlichen "Vorurteile" durch ihre Konfrontation mit der "Faktenlage" auch darin ihre Tücken, dass die einschlägigen Behauptungen gar nicht der Fehlbeurteilung von Tatsachen entspringen, sondern von einem nationalistischen Interesse angetrieben werden, das die "Vorurteils"-Kritiker nicht oder nur dunkel bemerken. (Auch dazu mehr im vierten Teil dieser Serie.)

Lesen Sie in Teil 3: Wie sich besorgte Meinungsbildner die Fremdenfeindlichkeit erklären.