Wie Befürworter der "Willkommenskultur" gegen Fremdenfeindlichkeit argumentieren

In Dessau. Bild: Pixabay

Fürsprecher von Immigration argumentieren mit wirtschaftlichen und anderen Vorzügen, um die Mehrheitsmeinung zu gewinnen. Das birgt Risiken. (Teil 2)

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Teil 1: Dichtung und Wahrheit über ein Septembermärchen

In den modernen Demokratien hat die Ankunft von im nationalen Verband bis dahin nicht vorhandener Menschengruppen ihr störendes Moment behalten. Auch wenn die jeweiligen deutschen Ureinwohner sukzessive an die polnischen Arbeitsmigranten vor dem Ersten und die Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, sodann an die Gastarbeiter im "Wirtschaftswunder", die Spätaussiedler eines sich wandelnden Ostblocks und die Ossis nach der Wende gewöhnt wurden – eine unaufgeregte Gewohnheit hat sich darüber bei den Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund nicht einstellen wollen.

Neben der Politik selbst müssen auch publizistische Befürworter der Zuwanderung ihren volkswirtschaftlichen und sonstigen Sachverstand anstrengen, um dem anwesenden Volk und in Differenz zu seinen populistischen Fürsprechern deren Sinn und Nutzen einsichtig zu machen: "Wenn (die deutsche Gesellschaft) ihre Position in der Weltwirtschaft und ihren Wohlstand im Inneren behalten will, ist sie auf Zuwanderung angewiesen, und es herrscht durchaus Konkurrenz mit anderen Gesellschaften um die Fähigsten und Leistungsstärksten."1

Solches Arbeitspotential gilt es offenbar auch aus den Kriegs- und Armutsflüchtlingen herauszufiltern, falls Deutschland ein paar davon für seine weiteren Wirtschaftserfolge brauchen kann. Dann fallen unter Umständen sogar ein paar Brosamen für "Leistungsschwächere" ab: "Der Wille, diese Tüchtigsten für sich zu gewinnen, schließt nicht aus, dass man aus humanitären Gründen in einer besonderen Notlage auch diejenigen aufnimmt, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in diese Gruppe gehören." (Ebd.)

Klar, das kostet ein gewisses Geld, aber "man kann die für die Befähigung der Flüchtlinge anfallenden Kosten auch als Investition ansehen, die erforderlich ist, um die biologische (…) Reproduktion auf einen dem deutschen Arbeitsmarkt entsprechenden Stand zu bringen" (ebd. S. 113). Außerdem erfahren die deutschen Couchpotatos noch eine Hilfeleistung durch die wendigeren Fremdländer: "In einer globalen Ökonomie, in der nur mithalten kann, wer dem Prozess der ‚Verfettung‘ nicht anheimfällt, sondern immer wieder innovativ ist, sind Fremde eine Chance zur Erneuerung." (Ebd. S. 207)

Migration und die "Triple-Win-Situation"

Auch ein Präsident des Handelsverbands "verweist auf den drohenden massiven Fachkräftemangel in Deutschland", dem mit Lohnerhöhungen, da wachstumsfeindlich, bekanntlich nie und nimmer beizukommen sei. "Deshalb sollten wir alle dafür sorgen, dass Menschen aus anderen Ländern gerne zu uns kommen, um diese Lücken zu füllen."2 Und was gut für die Geschäfte in Deutschland ist, bekommt auch den Geschäften gut, die von Deutschland ausgehen und auswärtige Kaufkraft brauchen: "Alle profitieren von der Wanderung (Triple-win-Situation). Das Zielland profitiert von der Arbeitskraft und den gezahlten Steuern, das Herkunftsland profitiert von den Geldtransferleistungen, und der Betroffene (Flüchtling, Migrant) hat eine neue Perspektive erhalten. (…) Eine Studie der Weltbank kommt zu dem Ergebnis, dass ‚Entwicklungshilfe durch Migration effektiver ist als Entwicklungshilfe zur Verhinderung von Migration‘."3 Am Ende schont das auch noch den deutschen Staatshaushalt.

In gewissem Kontrast zu den Stimmen, die den deutschen Wirtschaftserfolg daheim und weltweit als Rechtfertigung für Zuwanderung bemühen und diesen selbstredend mit dem Nutzen von "uns allen" bzw. "uns Deutschen" gleichsetzen, stehen einige Molltöne, die sie anschlagen, wenn es um ein paar Begleitumstände dieser Erfolgsgeschichte geht: "In der politischen Debatte wird gerne unterschlagen, dass Europa mitverantwortlich für die Flüchtlingsströme ist. (…) Die westlichen Staaten sind mitverantwortlich für den Bürgerkrieg in Syrien und verdienen nach wie vor bei den Waffenexporten kräftig mit. Die klimatischen Veränderungen auf dem afrikanischen Kontinent lassen sich auch darauf zurückführen, dass Europa in einem nie dagewesenen Luxus lebt." (ebd. S. 73)

"Man braucht keine blühende Fantasie, um zu erkennen, dass die westliche Politik den Nährboden für den Terrorismus im Nahen Osten mit bereitet hat." (Ebd. S. 163f.) "Die Folgen des Klimawandels, von Nahrungsunsicherheit (…) oder fragile Staaten (…) gehören zu den Fluchtursachen im beginnenden 21. Jahrhundert."4

Bedenken rasch zur Seite geschoben

Die Missklänge lösen sich aber nach mehreren Seiten hin wieder auf. Denn der Hinweis auf die europäische Mitbeteiligung führt gar nicht zu einer näheren Kritik oder zu Gegnerschaft, sondern will die Liste der Rechtfertigungen für die Ankunft von Migranten ergänzen, wirbt um Verständnis für ihre von Anderen verschuldete Not.

Zweitens bezieht die Anklage "uns alle" in die moralische Verantwortung ein, die wir durch Teilhabe an "einem nie dagewesenen Luxus" tragen, von dem das versammelte Prekariat Europas ein Lied singen kann.

Und schließlich landet die Erwähnung von "Fluchtursachen" bei dem für sich widersprüchlichen Appell an die Staatenwelt, von der dem kritischen Bekunden nach viele Übel doch ausgehen sollen, dieselben zugleich durch eine "echte" Klima-, Entwicklungs- und Friedenspolitik zu beseitigen.

Auch die zahlreichen Einwände und Ratgeber gegen Fremdenfeindlichkeit, wie sie kirchliche, parteiverbundene oder gewerkschaftliche Organisationen erstellen, verbleiben in aller Regel in diesen Argumentationsmustern. Sie verteidigen und entschuldigen Flucht und Armutsmigration bevorzugt mit dem Nachweis, dieselben seien wirtschaftlich und sozial nützlich bzw. unschädlich, beruhten auf individuellem Unverschulden oder träfen auf unkorrekte Vorwürfe und Vorurteile. Hierzu eine bezeichnende Sammlung entsprechender Zitate, die die xenophoben "Behauptungen" mit "Tatsachen" zurückweisen wollen:

  • Behauptung: "Europa kann doch nicht die ganze Welt aufnehmen!" vs. Tatsache: "Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge kommt in die EU." "86 Prozent verbleiben in krisennahen Regionen."
  • "Unser Asylrecht kann die Probleme der Welt nicht lösen!" vs. "Wir sind mitverantwortlich für Bedingungen, die Menschen in die Flucht treiben."
  • "Kommt einer, kommen alle!" vs. "Familiennachzug ist eher die Ausnahme als die Regel."
  • "Asylbewerber kriegen mehr als Deutsche!" vs. "Sozialleistungen erhalten grundsätzlich nur Menschen mit dauerhafter Aufenthaltsgenehmigung. Asylbewerber_innen und Flüchtlinge erhalten 40 Euro Taschengeld im Monat." "Migrant_innen stützen mit ihren Steuerleistungen das Sozialsystem insgesamt deutlich stärker, als dass sie es belasten."
  • "Die nehmen uns die Arbeit weg!" vs. "Asylsuchende dürfen während der ersten neun Monate gar nicht arbeiten." "Selbständige Ausländer_innen schaffen doppelt so viele Arbeitsplätze wie vergleichbare deutsche Existenzgründer_innen."
  • "Asylbewerber sind kriminell und gefährlich!" vs. "Sie haben keine signifikant höhere Kriminalitätsrate."
  • "Die haben alle Smartphones!" vs. "In der Regel nutzen sie kostenlose Apps, Flatrates oder freies W-LAN."
  • "Die deutsche Kultur geht zu Grunde, wir werden überfremdet!" vs. "Vieles, was wir heute als typisch deutsch ansehen, ist durch andere Länder und Kulturen geprägt. Bier beispielsweise wurde auf dem Gebiet des heutigen Irak erfunden."

Ideologische Grabenkämpfe und ihre Parolen

Man merkt solchen Rechtfertigungsreden an, dass sie den ausländerfeindlichen Argumenten vornehmlich in fremdenfreundlicher Absicht begegnen, sie der Sache nach aber nicht weiter kritisieren können: Was wäre denn, wenn die 86 Prozent nicht mehr alle "krisennah" verbleiben wollten und dann mit Kind und Kegel anrückten, wenn Migranten das Sozialsystem weniger stützen und eine höhere Kriminalitätsrate aufweisen würden?

Die Verteidigung von Migranten versucht sich hier in der Beschwichtigung von gehässig gewordenen Einheimischen, die deren Maßstäbe glatt stehen lässt und zeigen will, dass die Fremden ihnen durchaus genügen. Auch dort, wo ein solches Plädoyer den Befürwortern der "Willkommenskultur" schwieriger erscheint, halten sie am Verfahren fest und appellieren an ein besseres Deutschland, das doch auch die Gegner beeindrucken sollte: "Menschenrechte zu beachten kostet etwas – und bringt uns etwas." Oder: "Flüchtlinge zu schützen ist nach zwei Weltkriegen nicht nur kulturelles Selbstverständnis in Europa, sondern auch eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung."

Die Feinde von Multikulti kriegen in Slogans und Aktionen wie "Chemnitz bleibt bunt", "Berlin ist unteilbar" oder "München hat ausgehetzt" einen moralischen Zeigefinger vorgehalten: Wer als wahrhaft heimatverbunden und anständig gelten will, für den ziemt sich keine rechtspopulistische Fremdenfeindlichkeit.

Die Sprüche "Wir sind viele!" (Berliner Initiative gegen rechts), "Wir sind mehr!" (u.a. ein Konzert-Motto in Chemnitz) fügen dann den lokalpatriotischen Parolen noch einen gedanklichen Schritt hinzu, stellen sich der Konkurrenz um die Frage, wer hierzulande zu Recht "Wir sind das Volk!" skandieren darf, und benutzen dazu wie selbstverständlich das Kriterium Mehrheit, wie wenn das ein Argument wäre und als ob das – siehe die Rechtspopulisten an der Macht – nicht auch nach hinten losgehen könnte.

Defizite der Argumentation

Und ausgerechnet darüber sollen die Freunde von Pegida, AfD & Co. oder wenigstens die Migrationskritiker in der Mitte der Gesellschaft ins Grübeln kommen? In Sachen Volk und Heimat dürften sich die einen wie die anderen wenig vormachen lassen. Die Verteidigung "unserer deutschen Leitkultur" (populär gemacht vom damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, zuletzt am Beispiel des Händeschüttelns, eingeklagt vom Ex-Innenminister Thomas de Maizière) ist etwas, was die einen bei den politischen Anführern vermissen und die anderen bei denselben in Auftrag geben.

Beide Gruppen mögen die Notlagen von Flüchtlingen und Migranten und die deutsche "Verantwortung" dabei unterschiedlich beurteilen, aber dass "wir nicht das Sozialamt für die ganze Welt" sind (Seehofer am Aschermittwoch 2015) oder sein können, dürfte vom rechten Rand bis zum demokratischen Mainstream ähnlich gesehen werden. Und dass "Kinder statt Inder" (Jürgen Rüttgers, späterer NRW-Ministerpräsident, im Wahlkampf 2000) sinnbildlich gesprochen, die bessere Lösung des angeblichen Arbeitskräftemangels darstellen, meinen auch beide gemeinsam.

Überdies hat die beabsichtigte Widerlegung der vermuteten fremdenfeindlichen "Vorurteile" durch ihre Konfrontation mit der "Faktenlage" auch darin ihre Tücken, dass die einschlägigen Behauptungen gar nicht der Fehlbeurteilung von Tatsachen entspringen, sondern von einem nationalistischen Interesse angetrieben werden, das die "Vorurteils"-Kritiker nicht oder nur dunkel bemerken. (Auch dazu mehr im vierten Teil dieser Serie.)

Lesen Sie in Teil 3: Wie sich besorgte Meinungsbildner die Fremdenfeindlichkeit erklären.