Wie Daimler die Corona-Krise bewältigte

Seite 2: Loswerden, ohne zu entlassen – von der Hoheit über den Arbeitsvertrag

Parallel verläuft der Personalabbau zunächst wie versprochen geräuschloser als ein "Rasenmäher". Die Nicht-Besetzung der dank "Fluktuation" frei werdenden Stellen regt höchstens einmal einzelne Arbeitnehmervertreter unter dem Gesichtspunkt der "schleichenden" Verdichtung der Arbeit für den Rest der Mannschaft auf. Leiharbeiter und Ferienhilfskräfte sind als fester Bestandteil der benutzten Mannschaft nicht fest angestellt, werden also auch nicht wirklich entlassen, wenn sie nicht weiter in Dienst genommen werden.

Und die Entlassungen, die dann doch die engere Betriebsfamilie treffen, geschehen "auf freiwilliger Basis", zeugen insofern von der sozialen Verantwortung des Sozialpartners. Als aber im April ein von der oberen Unternehmensetage festgelegter "Leitfaden zum Stellenabbau" ungewollt öffentlich wird, gerät diese ansonsten unauffällige Abteilung Personalpolitik kurzzeitig in die Schlagzeilen. Ungeachtet der namensgebenden Funktion der "Ausscheidungsgespräche" wird die akribisch geplante Ausübung von "Druck" auf die Auszustellenden als Mini-Skandal aufbereitet:

Die Atmosphäre soll ruhig und sachlich bleiben, länger als 15 bis 30 Minuten soll das Gespräch möglichst nicht dauern... Ganz oben auf der Liste steht dabei, die Notwendigkeit des Stellenabbaus zu thematisieren. "Die Situation ist im gesamten Unternehmen sehr kritisch", ist einer der Leitsätze. Die Corona-Krise treffe Daimler in einer Phase, "in der wir ohnehin vor wirtschaftlichen Herausforderungen stehen", schreibt etwa CEO Ola Källenius im Grußwort für die Vorbereitungsseminare.

Damit soll auch verhindert werden, dass sich Aussortierte auf andere Stellen im Unternehmen bewerben ... "Bevor über die Trennung entschieden wurde, haben wir Möglichkeiten, Sie weiter zu beschäftigen, überprüft. Leider ist die Situation im gesamten Unternehmen derzeit sehr kritisch." Wichtig sei, so heißt es im Leitfaden, dass die Manager auf Smalltalk verzichten und die schlechte Nachricht in den ersten drei Sätzen aussprechen und dabei klare Worte wählen wie "beenden" oder "trennen"...

Sagt der Mitarbeiter im Trennungsgespräch, dass seine Existenz bedroht ist, soll die Führungskraft antworten: "Deshalb möchten wir Sie mit der Abfindungszahlung für eine Übergangszeit absichern und Sie in der Suche nach einer neuen Aufgabe unterstützen." Der Leitfaden rät den Führungskräften auch, eine "individuelle" wohlüberlegte Begründung parat zu haben; das sei "ein Schlüsselfaktor für den Gesprächserfolg". Mögliche Begründungen könnten sein, dass die Kompetenzen des Mitarbeiters "nicht den Anforderungen der Zukunft" entsprechen. Auch "Low Performance" sei als Argument erlaubt, aber "nur wenn dokumentiert"!

Theoretisch kann sich ein Mitarbeiter auch weigern, eine Trennung zu unterzeichnen. Für diesen Fall hat der Leitfaden versteckte Drohungen vorbereitet. Es könne sich "dann alles für dich ändern. Dann musst du in Zukunft sehen, wie du mit dieser Unsicherheit im beruflichen Umfeld umgehen kannst." Konkrete Beispiele für diese Veränderungen gibt es nicht. In früheren Entlassungswellen wurden bockige Mitarbeiter oft in Einzelbüros gesetzt und bekamen keine Aufgaben mehr. Viele mussten sich ihr Recht auf Arbeit vor Gericht erstreiten.

finanzen100.de, 30.4.20

Auch ohne solche Leaks ist jedem irgendwie klar, wie es kommt, dass sich selbst noch das Herausschmeißen von Leuten als einvernehmlicher Vertrag regeln lässt: Wo schon Gerüchte über eine kritische Situation des Unternehmens für den besorgten kurzen Schluss auf die eigene Lage hinreichen, ist mit der offiziellen Verkündung von "wirtschaftlichen Herausforderungen" Sicherheit gestiftet, auf wessen Kosten die bewältigt werden.

Und schon die Einladung zum "Ausscheidungsgespräch" lässt beim Eingeladenen keinen Zweifel über seine ganz persönliche Zukunft aufkommen. Überhaupt kein Wunder also, dass die werten Mitarbeiter für kunstvoll aufbereitete Abfindungsangebote zugänglich sind:

Ältere Mitarbeiter, die ein Angebot zur Frühpensionierung oder Altersteilzeit annehmen, bekommen 25 000 Euro extra. Jüngere werden belohnt, je schneller sie unterschreiben.

finanzen100.de, 30.4.20

Auch dass das Unternehmen im Ablehnungsfall seine Hoheit über die Arbeitsbedingungen in strafender Absicht wahrnehmen kann, dürfte nicht unbekannt sein. Aber die herrschende Sittlichkeit in der deutschen Arbeitswelt diktiert eben, dass ein Mafia-Ton sich nicht gehört; der Schein eines respektvollen Diskurses auf Augenhöhe ist gefordert, wenn Angebote gemacht werden, die nicht ausgeschlagen werden können.

Juli ’20: Maßloses Leiden an der Sozialpartnerschaft …

Corona schafft für alle Betriebe im Südwesten Probleme eigener Art. Nicht so sehr das Home-Office an sich - ob die feststehenden Aufgaben zu Hause oder im Büro erledigt werden, spielt in erfreulich vielen Fällen keine Rolle; und die geforderte Arbeit mit den sonstigen häuslichen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen ist Sache der Mitarbeiter.

Auch nicht so sehr in der Produktion, in der physische Anwesenheit unabdingbar ist – wenn die Arbeitsabläufe hygienebedingt entzerrt werden müssen, wird das feststehende Arbeitsvolumen eben breiter auf die 24 Stunden des Tages verteilt. Ein Problem wird das alles, wenn dadurch gesetzliche Schutzregeln ihre Schutzfunktion zu entfalten oder auch nur zusätzliche Kosten zu verursachen drohen. Abhilfe schafft im Juli ein maßgeschneidertes "Corona-Tarifpaket":

Um den Betrieben, die unverschuldet in diese Corona-Krise geraten sind, Hilfestellungen zu geben, haben Südwestmetall und die IG Metall Baden-Württemberg jüngst ein Tarifpaket geschnürt... Im Kern wurde beschlossen, dass die Betriebsparteien in Absprache mit den Tarifvertragsparteien die Auszahlung des Urlaubsgelds um bis zu zwei Monate auf Ende August verschieben konnten, um finanziell klammen Unternehmen aus der Liquiditätslücke zu helfen... Zweitens kann für Arbeitnehmer, die wegen prekärer Schul- und Kitabetreuung ihrer Kinder im Home-Office arbeiten und ihre Arbeitszeit unterteilen müssen, die nächtliche Mindestruhephase auf neun Stunden verkürzt werden. Bislang schreibt das Arbeitszeitgesetz mindestens elf Stunden vor...

Drittens können die Betriebsparteien die Spät- oder Nachtarbeitszuschläge begrenzen, wenn sich wegen der Pandemie und zum Schutz der Mitarbeiter die Arbeitsorganisation ändert. Das gilt speziell dann, wenn eine Schicht entzerrt wird und damit zum Teil in ein zuschlagspflichtiges Zeitfenster gerät. Das gesamte Tarifpaket tritt rückwirkend zum 1. Juni in Kraft und ist bis Ende 2020 befristet.

Stuttgarter Zeitung, 11.7.20

Das Urlaubsgeld der Beschäftigten als Liquiditätshilfe für notleidende Unternehmen ist zwar eine wegweisende Idee, für die Arbeitgeber aber viel zu wenig:

Unterm Strich zeigen sich die Arbeitgeber ungehalten über die geringe Bereitschaft der IG Metall, mehr für die unter der Corona-Krise leidenden Unternehmen zu tun... Nicht durchgesetzt hätten die Arbeitgeber insbesondere ihre Forderung nach einer automatischen Differenzierung, wonach einem Betrieb, der sich wegen Corona in wirtschaftlichen Nöten und in Kurzarbeit befindet, Erleichterungen zustehen.

Stuttgarter Zeitung, 11.7.20

Und das ist nicht bloß misslich, sondern ein Symptom für einen Missstand grundsätzlicher Art:

"Wir haben das nicht erreicht, weil die Arbeitgeber wie so oft keine Druckmittel als Flächentarifvertragspartner in der Hand haben", betont Dick. Die IG Metall habe erneut nach dem Motto agiert: Einschnitte für die Beschäftigten dürfe es allenfalls auf einzelbetrieblicher Ebene und gegen Beschäftigungssicherung geben - aber nicht auf der Ebene des Flächentarifvertrags. Dahinter steckt, dass viele Unternehmen mühsame Verhandlungen mit dem Betriebsrat scheuen... "Wenn wir feststellen: Wir können nur in Zeiten, in denen es aufwärtsgeht, halbwegs gut miteinander verhandeln, aber wenn es ernst wird, nicht mehr - dann wäre dies keine solide Basis."

Der IG Metall müsse klar sein: "Wenn sie es jetzt nicht zulässt, dass in Betrieben Personalabbau und Einschnitte für die verbleibenden Beschäftigten gleichzeitig vereinbart werden, riskiert sie ganz bewusst, dass noch mehr Stellen verloren gehen". Die Gewerkschaft führe die Sozialpartnerschaft "auf einen Grat, der bald so schmal ist, dass uns der Absturz droht".

Stuttgarter Zeitung, 11.7.20

Ein starkes Stück, diesmal ganz ohne argumentativen Leitfaden. Erst werden die Gewerkschaften als Erfüllungsgehilfen der einseitigen Diktate des Unternehmens in die Pflicht genommen. Wo die Gewerkschaft der Aufforderung zur Unterwerfung nicht hundertprozentig nachkommt, beklagt Gesamtmetall die Ohnmacht der Konzerne, in der ihnen nur noch die Macht über die Arbeitsplätze bleibt.

Die subtile Erinnerung daran, dass Deutschlands Edelunternehmen auch ganz anders könnten, macht jedenfalls deutlich, wem der Absturz droht, wenn "uns" der Absturz droht. Da schlägt der Verbandschef eine Rückbesinnung auf die Vernunft vor, also die Einsicht, dass der Doppelpack aus Personalabbau und Verbilligung der Arbeit letztlich für die Arbeiter da ist.

Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in dessen aktueller Ausgabe dieser Artikel ebenfalls erschienen ist. Weitere Themen unter https://de.gegenstandpunkt.com