Wie Nähroboter die Welt verändern

Seite 2: Re-Industrialisierung des Westens

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"Coming home" ist für die neuen Trends in der Textilbranche eigentlich eine schlechte Beschreibung. Denn es geht dabei nicht um Rückkehr oder Heimkehr von Unternehmen, sondern um eine grundlegend veränderte Logik der internationalen Arbeitsteilung. Die Industrie wandert nicht mehr den niedrigsten Arbeitskosten hinterher, sondern in die Nähe ihrer wichtigsten Absatzmärkte, auch wenn sie dann dort die Niedriglohnbereiche sucht. Ob es sich dabei um ursprünglich europäische, asiatische oder amerikanische Unternehmen handelt, spielt keine Rolle.

In Little Rock, im US-Bundesstaat Arkansas, hat bereits die nächste Stufe in diesem Wandlungsprozess der internationalen Arbeitsteilung begonnen - die Verlagerung der Bekleidungsindustrie in die Hochlohnländer mit den dynamischen Märkten. Sie wird durch die neueste disruptive Innovation in der Textilindustrie angestoßen: Roboter, die nähen können. Die chinesische Firma Tianyuan Garments hat im Januar dieses Jahres in Little Rock eine neue Textilfabrik mit einem vollautomatisierten Produktionssystem eröffnet. Hier sind 330 Roboter im Einsatz, die pro Jahr 23 Millionen T-Shirts herstellen sollen. Etwa 400 Mitarbeiter sollen langfristig beschäftigt werden.

Nähende Roboter waren lange Zeit eine unerreichte technische Vision. Der Umgang mit weichen, nachgebenden Materialien ist für Roboter eine immense Herausforderung. Um das zu verstehen, braucht man sich hier nur einmal anzusehen, wie schwer sich ein lernender Roboter damit tut, ein T-Shirt zusammenzulegen.

Die Arbeit der Näherin, die den Stoff mit ihren Händen und mit äußerster Konzentration durch die Nähmaschine führt, die blitzschnell reagiert, wenn der Stoff sich faltet oder verformt, oder wenn die Naht nicht exakt in der vorgegebenen Bahn verläuft, ist selbst für intelligente Maschinen extrem schwierig.

Aus diesem Grund blieb die Textilindustrie in der Automatisierung bis heute weit hinter anderen Industriezweigen zurück. Statt zu automatisieren, zog sie in den globalen Süden. Dabei war es die Textilindustrie, in der vor langer Zeit die Geschichte der Automatisierung der Arbeit begonnen hat.

Die Erfindung des vollmechanisierten, mit Hilfe einer Dampfmaschine betriebenen Webstuhls gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die erste durchschlagende Innovation dieser Art. Und ein historischer Einschnitt. Als sich der automatische Webstuhl im 19. Jahrhundert durchsetzte, verloren viele Menschen ihre Arbeit. Es kam zu den ersten Arbeiteraufständen und zu "Maschinenstürmerei".

Auch die modernen "Sewbots", die nun endlich - mit Sensoren und Hochgeschwindigkeitskameras ausgerüstet - das Nähen gelernt haben, könnten weltweit viele Millionen Arbeitskräfte ersetzen. Zwar sind sie bis jetzt noch nicht in der Lage, komplizierte Kleidungsstücke zu nähen. Aber Massenware wie T-Shirts und Jeans sind für sie ein Kinderspiel. Einer Modellrechnung zufolge können zehn Näherinnen in acht Arbeitsstunden durchschnittlich 669 T-Shirts produzieren, ein Roboter dagegen schafft am Tag 1.142 Stück und kann damit 17 Näherinnen ersetzen.

In Little Rock produzieren die Nähroboter mit Kosten von 33 Cent pro T-Shirt. "Damit kann nicht einmal der billigste Arbeitsmarkt konkurrieren", wird Tang Xiuhang, der Chef von Tianyuan Garments, zitiert. Die Roboter stammen von SoftWear Automation, einer Firma in Atlanta, die sich auf Nähroboter spezialisiert hat. Produziert werden die T-Shirts für den deutschen Sportartikelhersteller Adidas, der sie in den USA vermarktet.

Deglobalisierung ist keine Renationalisierung, aber eine Reindustrialisierung der Wirtschaft

Die T-Shirt-Fabrik in Little Rock wirft ein interessantes Licht auf den allgemeinen Trend zur Deglobalisierung. Kundennähe, flexibilisierte Märkte und Automatisierung sind starke Treiber für die Verlagerung der Produktion zu den Absatzmärkten. Dabei werden globale Wertschöpfungsketten auf die regionale oder nationale Ebene zurückgeholt, der grenzüberschreitende Handel nimmt entsprechend ab. Doch das ist nicht gleichbedeutend mit einer Re-Nationalisierung der Wirtschaft.

In Little Rock produziert ein chinesischer Konzern mit Robotern einer US-Firma für eine deutsche Sportmarke, die ihre T-Shirts an amerikanische Konsumenten verkauft. Der globale Kontext und ein internationaler Horizont des Wirtschaftens bleiben erhalten.

Was sich verändert, ist die internationale Arbeitsteilung, und mit ihr die Verteilung von Produktionsstätten, Jobs und Lebenschancen. Die digitale Automatisierung und der Trend zum Nearshoring begünstigen eine Re-Industrialisierung des Westens. Länder mit großen, dynamischen Märkten, einer modernen digitalen Infrastruktur und hohen Bildungsniveaus können davon profitieren. Neue Jobs entstehen hier auch im modernen Maschinenbau und in den digitalisierten Märkten.

In Südostasien wird die Herstellung von Bekleidung für westliche Märkte deutlich zurückgehen. Was bleibt, sind komplizierte Nischenprodukte und die Produktion für die regionalen Absatzmärkte in China, Indien, Südkorea oder Thailand. Doch die Automatisierungswelle hat auch in Asien bereits eingesetzt.

Ein Beispiel ist die Mohammadi Fashion Sweaters Fabrik in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, wo für H&M, Zara und andere westliche Firmen Sweatshirts produziert werden. Noch vor einigen Jahren arbeiteten hier Hunderte Beschäftigte zehn Stunden am Tag. Seit 2017 ist die Produktion vollautomatisiert. Etwa 500 Arbeitskräfte wurden durch automatische Strickmaschinen aus deutscher Produktion ersetzt, die von ein paar Dutzend Beschäftigten kontrolliert werden. Und Mohammadi ist kein Einzelfall.

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