Wie Nähroboter die Welt verändern

Seite 3: Automatisierung - ein bequemer Ausweg für die Konzerne

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Weltweit arbeiten 60 Millionen Menschen in der Bekleidungsindustrie, die meisten davon im globalen Süden, die meisten davon Frauen. McKinsey schätzt auf der Basis von Umfragen bei Unternehmen, dass in den nächsten zehn Jahren bei der Herstellung von einfachen Kleidungsstücken global etwa 70 Prozent der Arbeit durch Automatisierung eingespart wird, bei komplizierter Kleidung 40 Prozent.

Die Ilo prognostiziert, dass in den Ländern der Asean-Gemeinschaft bis zu 80 Prozent aller Jobs in der Textilindustrie verloren gehen - in Kambodscha 88 Prozent, in Vietnam 86 Prozent, in Indonesien 64 Prozent.

Und dabei geht es nicht nur um Jobs. Die Arbeitsplätze, die seit den 70er Jahren in der Bekleidungsindustrie entstanden sind, haben für Millionen asiatischer Frauen eine soziale Revolution gebracht. Die meisten von ihnen kamen aus ländlichen Regionen und konnten hier erstmals eigenes Geld verdienen.

So brutal, ausbeuterisch und gesundheitsschädlich die Bedingungen in diesen Jobs auch waren und noch sind - für viele Frauen waren sie der Türöffner, um aus der Enge des dörflichen Lebens und aus der Reglementierung durch männliche familiäre Autoritäten ausbrechen zu können.

Trotz der Niedrigstlöhne brachten sie es fertig, ihre Familien in den Dörfern finanziell zu unterstützen. Ihr sozialer Status änderte sich schlagartig. Sie wurden selbst zu Subjekten der Veränderung, gründeten Gewerkschaften und streikten für bessere Arbeitsbedingungen.

Vieles ist dadurch in Bewegung gekommen. Vor allem seit 2013, dem Jahr der Katastrophe von Rana Plaza, als in Bangladesch 1.134 Menschen, überwiegend Textilarbeiterinnen, beim Einsturz eines Fabrikgebäudes ums Leben kamen. Die Zahl der Textilgewerkschaften in Bangladesch hat sich seitdem von 120 auf 700 erhöht. Die Konsumenten im Westen wurden stärker sensibilisiert. Solidaritäts-Netzwerke wie die Clean Clothes Campaign setzten Modefirmen mit konkreten Forderungen und Kontrollen zunehmend unter Druck.

Nun bietet die Automatisierung den Textilfabrikanten und Modefirmen einen bequemen Ausweg. Für die Gewerkschaften entsteht eine neue Situation. So berichtet die bangladeschische Gewerkschafterin Nazma Akter von Fabrikbetreibern, die mit Automatisierung drohen, wenn die Beschäftigten Verbesserungen fordern.

Nazma Akter ist selbst ein Beispiel dafür, wie stark der Textilboom der vergangenen Jahrzehnte das Leben vieler Frauen verändert hat. Sie hat schon als Kind mit 11 Jahren angefangen, in einer Textilfabrik zu arbeiten. Heute leitet sie eine Gewerkschaft und eine Stiftung, die Textilarbeiterinnen gewerkschaftliche Bildung bietet.

Oft wird nun argumentiert, die Nähroboter seien eine wichtige Innovation, weil damit das Problem der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Asien endlich aus der Welt geschafft würde. Das mag aus unternehmerischer Sicht so aussehen, geht aber an der Realität der Arbeiterinnen völlig vorbei. Sie kämpfen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, und natürlich nicht für die Abschaffung ihrer Jobs.

Wie diese Geschichte weiter gehen wird, ist ungewiss. Immerhin ist in ihr auch eine gute Nachricht enthalten. Die Zeiten, in denen Niedrigstlöhne und unmenschliche Arbeitsbedingungen ein Erfolgsfaktor für wirtschaftliche Entwicklung und nachholende Industrialisierung waren, gehen zu Ende. Wahrscheinlich nicht nur in der Bekleidungsindustrie. Und nicht nur in Asien, sondern auch in Ländern wie Bulgarien oder Portugal.

Wichtige Standortfaktoren sind heute gute Bildungssysteme, berufliche Qualifikationen, digitale Infrastruktur - in diesem Punkt sind sich die Ilo und McKinsey einig. Auch in Bangladesch wird bereits darüber diskutiert, was zu tun ist, damit die Näherinnen von heute eine Chance haben, in den automatisierten Fabriken der Zukunft oder in spezialisierten Nischenproduktionen zu arbeiten. Weiterbildung, Gesundheitsversorgung und eine Unternehmenskultur, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht mehr toleriert, sind dabei zentrale Themen.

Die schlechte Nachricht: Für viele, die heute in der Bekleidungsbranche arbeiten, und erst recht für viele derjenigen, die auf der Suche nach Jobs vom Land in die Städte ziehen, zeichnet sich in der neuen internationalen Arbeitsteilung gar keine Perspektive ab. Sie werden womöglich im informellen Sektor landen, als Rikschafahrer oder als Straßenhändlerin, wo sich die Sektoren mit niedrigstem Einkommen dann doch wieder ausdehnen - diesmal nicht als Erfolgsfaktor für eine nachholende wirtschaftliche Entwicklung, sondern als Zeichen für das Scheitern der herkömmlichen Entwicklungsstrategien.

Auf diese herkömmlichen Strategien setzt nach wie vor die Ilo, wenn sie den betroffenen asiatischen Ländern rät, ihre Industrie nun stärker zu diversifizieren, um sich von der Textilproduktion unabhängiger zu machen. Das hat in Ländern wie Südkorea, Thailand und China in den 80er und 90er Jahren noch ganz gut funktioniert. Für sie war die Textilindustrie die erste Sprosse auf der Leiter der Industrialisierung.

Heute schreitet die Automatisierung in den meisten Branchen schnell voran. Die großen Wirtschaftsmächte USA und China führen Handelskriege um die Frage, in welchem Land die Industrien der Zukunft angesiedelt sein werden. Wie sollen Bangladesch, Vietnam oder Myanmar sich in diesem Konfliktfeld ihren Platz erkämpfen?

Nähroboter sind eine wunderbare Erfindung, weil sie anstrengende und auf die Dauer monotone Tätigkeiten übernehmen. Aber unter den Bedingungen der globalen Ungleichheit, in der Kluft zwischen Nord und Süd, reißen sie neue Abgründe auf. Das sollte in den Debatten über die Zukunft der Arbeit im Zeitalter der digitalen Automatisierung mit bedacht werden.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.