Wie der Homo sapiens die Kunst entdeckte

Seite 2: Musik ist die universale Homo-sapiens-Kennzeichnung, wie die Streifen beim Zebra

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Das Zauberhafte und Wundersame an der menschlichen Musikalität ist ihre Existenz überhaupt. Wieso beginnen bereits zweijährige Kinder, kaum, dass sie stehen können, zu Musik zu tanzen? Musik hören, Tonsysteme und Tonschritte unterscheiden - können bereits Katzen. Das Interessante ist, dass unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, offenbar völlig desinteressiert sind an Musik. Wenn der Unterschied zwischen Schimpansen und Homo sapiens, genetisch gesehen, fast verschwindend gering ist, dann steckt in diesem winzigen Bruchteil, das sich unterscheidet, eine Bombe. Denn ohne Musik könnte man uns als Menschen abschreiben. Musik ist die universale Homo-sapiens-Kennzeichnung, wie die Streifen beim Zebra. Menschen, die keine Musik mögen und die nicht tanzen wollen, sind nicht allein um ein wichtiges "Hobby" ärmer, es fehlt ihnen ein relevantes Stück ihrer Grundausstattung.

Kurzum, wenn wir bei Menschen der Eiszeit eine Flöte finden, überrascht uns das wenig. Es beweist nur, dass sie tatsächlich moderne Menschen waren. Die Frage bleibt allerdings: Vor 40.000 Jahren? Hätte so eine Flöte damals nicht auch von einem Neandertaler gebaut werden können? Und wenn die Flöte sich zufällig auch noch auf C-Dur reimt - oder wenn doch mehrere Flöten gefunden würden, die auf eine ähnliche Tonart zurück geführt werden könnten - etwa auf solch schräge Töne wie sie dieser kurdische Flötensänger eben produzierte - wer beweist uns dann, dass dies eine Kulturleistung des Cro-Magnon-Menschen gewesen sei und nicht die eines Neandertalers? Denn vor 40.000 Jahren gab es ihn in Europa - und noch auf weitere 10.000 Jahre hinaus. Den Neandertaler.

Jedenfalls, um nun aber doch einmal auf ihn zu sprechen zu kommen: der Cro-Magnon-Mensch. Wer einmal ein Bild von diesen Einwanderern in Europa gesehen hat - es gibt ja nur Bilder ihrer Schädel - der weiß, dass sie erstaunlich modern aussahen. Das Hauptmerkmal der Cro-Magnon-Schädel sind ihre rechteckigen Augenhöhlen, als hätten sie schon damals zu viel TV geglotzt und sich dabei eckige Augen geholt. Ansonsten sehen sie komplett modern aus - "wie du und ich" - und wenn sie aus Afrika kamen, dann sehen sie auch überhaupt nicht afrikanisch aus.

Das hohe Lied auf die Cro-Magnons

Interessanterweise liebt es die Anthropologie (gerade in den USA und in England) heute wieder, das hohe Lied auf die Cro-Magnons zu singen. Dies seien die ersten wahren Kulturschaffenden Europas gewesen, heißt es, als befänden wir uns heute nicht etwa im Jahr 2013, sondern wieder im Jahr 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als man den zivilisierten Cro-Magnon zum Ersten Franzosen und den brutalen Neandertaler zum Ersten Deutschen hochstilisieren konnte - auch der Artikel im Guardian bildet hierin keine Ausnahme.

Schädel eines Cro-Magnon-Menschen im Museo civico di Scienze Naturali, Mailand. Bild: Stefano Bolognini. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Da wird eine Schnitzarbeit eines eiszeitlichen Künstlers gelobt: "Diese Schnitzerei wurde von einem Mitglied der Cro-Magnons gefertigt, den Jäger-und-Sammler-Nachkommen der ersten modernen Menschen, die vor 45.000 Jahren nach Europa einwanderten und die hier durch die letzte Eiszeit hindurch überlebten, die vor 40.000 Jahren begann und bis vor 10 .000 Jahren anhielt. Rentiere mit ihrem fetthaltigen Fleisch und ihrem dichten Pelz waren für das Überleben der Stammesmitglieder wichtig und diese Skulptur aus der Ortschaft Montastruc [das ist der Name des Fundorts] mit ihren feinzisiellierten Brustkörben [es handelt sich um zwei Rentiere], ihren Geweihen und dem deutlich markierten beginnenden Winterfell, zeigt uns deutlich, so der Direktor des Britischen Museums, Neil Gregor: "Diese Arbeit wurde von jemandem geschaffen, der viel Zeit damit verbracht hatte, die Rentiere zu beobachten."5

Dazu der Guardian-Mann weiter: "Objekte wie dieses demonstrieren allerdings noch mehr als bloße Handwerkskunst. Sie zeigen uns, dass der Homo sapiens - und damit steht er unter den Tierarten einzigartig da - ein Gefühl für Einbildungskraft aufbrachte. Diesen Kunsthandwerkern ging es nicht darum, einfach nur die Natur zu imitieren. Sie schmückten sie aus."

Wo ich hier "Tierarten" hingeschrieben habe, da stand bei Robin McKie doch "species", und es ist denkbar, dass er an dieser Stelle den Cro-Magnon gegen den Neandertaler ausspielen wollte - die einzige andere menschliche Spezies, die damals gerade in Europa zugegen war. Es ist wirklich beinahe so, als ob sich die britische Paläanthropologie, Jahrzehnte nach dem Großen Hoax des Piltdown Menschen wieder einmal darauf versteifen möchte, dass der Erste Europäer zugleich der Erste Brite und der Erste Weiße und der Erste Kulturmensch war. Oder anders rum. Und ganz genau so liest es sich auch in Brian Fagans Buch Cro-Magnon - How the Ice Age Gave Birth to the First Modern Humans aus dem Jahr 2009. Ein enthusiastischer Text, eine Art heroische Beethoven-Hymne auf den Cro-Magnon.

Im Guardian-Artikel kommt noch die übrige britische Paläo-Prominenz hinzu, um die Ausstellung wissenschaftlich aufzuwerten - insbesondere Professor Chris Stringer vom Britischen Naturhistorischen Museum in London. Ich vermute, dass Stringer (einer der frühesten und enthusiastischsten Vertreter der "Out of Africa"-These) sich mittlerweile dazu durchgerungen hat, dass der moderne Mensch aus Afrika kam, aber erst in Europa zum "echten" Homo sapiens wurde. Ebene, zum Cro-Magnon.

Augen-Erbschaft des Neandertalers?

Dabei ist - bemerkenswerterweise - in den vergangenen 20 Jahren das Genom des Neandertalers und des modernen Europäers entschlüsselt worden, und es hat sich herausgestellt, dass der heutige Europäer tatsächlich einen kleinen Teil Neandertaler-DNS in sich trägt. Dazu gab es bei der BBC unlängst eine wirklich wunderschön gemachte Wissenschaftssendung, bei der die beiden Moderatoren einen Wissenschaftler fragten, wie viel Prozent Neandertaler denn nun jeweils in ihnen stecke? (Das hatte man natürlich bereits vor der Sendung analysiert.) Und es blieben also immer noch erstaunliche 4 Prozent für sie und 6 Prozent für ihn. Im Bildhintergrund sah man die statistischen Treppen, die auch 8 oder 14 Prozent anzubieten hatten - vermutlich bei anderen Mitgliedern der Sendung, die augenblicklich nicht anwesend waren. Man lachte dazu, wie über ein sündiges Geheimnis.

Die Zurückweisung des Neandertalers enthielt schon früher für mich immer ein leicht vatermörderisches Element, aber nachdem die Wissenschaftler um Svante Pääbo inzwischen nachgewiesen haben, dass der moderne Europäer tatsächlich genetisch zum Teil ein Erbe des Neandertalers ist, scheint man auf der ideologischen Seite nun umso williger zu sein, den Cro-Magnon wieder als das edlere Element in dieser Konstellation aufzuwerten. Wie man mit den Cousins der Neandertaler umgehen wird, den Denisoviern, deren Lebensraum sich einst von Sibirien bis Indonesien erstreckte und deren Nachkommen noch heute auf Neuguinea leben, wird sich erst zeigen. Der Homo sapiens kam aus Afrika? Gewiss, aber auch aus Asien. Seine Geschichte ist sehr viel bunter, als es die Schwarz-Weiß-Zeichner uns glauben machen wollten.

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