Wie der neue Kalte Krieg den Journalismus zerstört
Die Polarisierung bemerken wir mitunter auch im Telepolis-Forum.
Von Youtube-Sperren, Koalitionsverhandlungen und Polizeigewalt. Die Telepolis-Wochenrückschau mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
als Griechenland-Korrespondent Wassilis Aswestopoulos uns Ende Mai einen Beitrag über den Pharmaunternehmer Dimitris Giannakopoulos [1] anbot, haben wir das Thema gerne angenommen. Giannakopoulos hatte sich als Vertreter der Gesundheitsbranche kurz zuvor öffentlich gegen Corona-Impfungen ausgesprochen; der Fall war daher nicht nur skurril, sondern hatte auch Nachrichtenwert. Kollege Aswestopoulos schrieb die Story mit Quellenverweisen auf zwei etablierte griechische Nachrichtenportale auf, Athens Voice und To Pontiki.
In der vergangenen Woche ist der Bericht gesperrt und mit harten Sanktionen versehen worden. Allerdings nicht bei Telepolis, sondern bei dem russischen Auslandssender RT DE, der das Thema mit Verweis auf unseren Text aufgegriffen hatte.
Der für Youtube eingelesene Artikel von RT DE wurde von der Videoplattform als "Covid Misinformation" eingestuft und mit einer umfassenden Sperre versehen.
Telepolis hat die Sanktion gegen zwei RT DE-Kanäle auf Youtube in mehreren Beiträgen [2] verfolgt [3] und nachrecherchiert [4]. Wichtigste Erkenntnis: Bislang ist völlig unklar, wie Youtube bzw. der US-Mutterkonzern Google die umfassende Sperre der Channels und den Ausschluss des russischen Medienangebots begründet. Auch auf Nachfrage erhielt Telepolis keine Erklärung.
Wird also auch unsere Meldung gesperrt? Oder die geposteten Artikel von athensvoice.gr und topontiki.gr? Weshalb nicht? Wo ist der Unterschied?
Dass die Sperre von Youtube von etablierten deutschen Medien fast völlig unhinterfragt blieb, hat viel mit Ideologie und offenbar mit medialer Positionsnahme im neuen Kalten Krieg zu tun.
Man muss kein Fan der Berichterstattung von RT DE sein, um die Maßnahmen kritisch zu sehen. Oder um zu hinterfragen, weshalb Google diesen Medienkrieg auf deutschem und europäischem Boden ausficht und nicht in den USA, wo RT bislang ohne Einschränkungen online ist.
Noch Anfang des Jahres hatte Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) [5] – vom Redaktionsnetzwerk Deutschland auf die Abschaltung des Twitter-Accounts von Ex-US-Präsident Donald Trump angesprochen – gesagt: "Ich finde es sehr problematisch, wenn private Unternehmen entscheiden, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht."
Ein halbes Jahr später scheinen Medien und Politik selbst hinter diese Position zurückgefallen zu sein.
Arkás: Lebenslänglich (19)
Arkás: Lebenslänglich (19) (5 Bilder) [6]

Offenen Fragen nach der Bundestagswahl
Ansonsten wirkt die Bundestagswahl auch bei Telepolis nach. Unsere Autorin Renate Dillmann ging in einem Essay der Frage nach [8], wie sich die Grünen entwickelt haben und wie bei der Wählerschaft die Widersprüche in der Entwicklung der Ökopartei ausgeblendet werden:
Da ist es schon bemerkenswert, dass die Grünen jetzt, nachdem Annalena Baerbock die Eroberung des Kanzleramts nicht gelungen ist, problemlos mit Parteien um Ämter und Absprachen schachern, von denen sie doch angeblich so viel und so Grundsätzliches trennt.
Renate Dillmann
Koalitionsverhandlungen sind für Journalisten ein dankenswertes Thema. Auch wir bei Telepolis lehnen uns zurück und beobachten die Verhandlungen [9] der Sozialdemokraten mit den Co-Wahlsiegern FDP und Grüne [10]. Und natürlich die Abrechnung mit dem Katastrophengebietskarnevalisten Armin Laschet [11] bei der CDU.
Nicht weniger ergiebig für die Nachwahlberichterstattung ist die Lage der Linken, die am 26. September nur knapp der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit entkommen sind. Zuletzt warfen wir einen Blick auf den Versuch der sozialistischen Doppelspitze aus Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler, eine Abrechnung mit den Verantwortlichen für das Scheitern aufzuschieben.
Bei Telepolis war auch von den ersten internen Rücktrittsforderungen an Linken-Funktionäre [12] zu lesen. In einem Gastbeitrag analysierte Janis Ehling, Mitglied im Parteivorstand der Linken, das Scheitern und skizzierte erste mögliche Auswege aus der Krise.
Von grünen Pässen und Polizeigewalt
Zu den Dauerthemen gehört nach wie vor die Corona-Pandemie und die mit ihr verbundene Impfdebatte.
In Israel, so berichtete Telepolis-Redakteur Thomas Pany, hat sich die Regierung dazu entschieden [13], die Schutzwirkung bei beiden "Gs" – geimpft und genesen – auf sechs Monate festzulegen. Das gehe aus einem Regierungsbeschluss hervor, der neue Regeln für den "Green Pass" einführt. Sie gelten seit dem gestrigen Montag. Pany dazu:
Der israelische Green Pass erlaubt, wie ähnliche Zertifikate in anderen Ländern auch, den Zugang zu öffentlichen Räumlichkeiten wie Restaurants, Bars, Veranstaltungsorte oder Museen, Sportveranstaltungen, aber auch Universitäten - mit dem Unterschied, dass in Israel künftig drei Impfungen gefordert werden, nicht zwei wie sonst noch (?) üblich, und dass auch Genesene, sechs Monate nach überstandener Covid-Erkrankung, sich impfen lassen müssen, um einen Green Pass zu erhalten.
Israel: Green Pass nur bei drei Corona-Impfungen
In Deutschland warnte der Sozialverband VdK indes vor den Folgen der Schließung von Impfzentren [14] für sozial Benachteiligte. VdK-Präsidentin Verena Bentele fordert mehr niedrigschwellige Angebote als Alternativen zu den Impfzentren. Der Umgang mit Ungeimpften bestimmt damit weiter die Debatte im zweiten Corona-Jahr.
Der Trend zum restriktivem bis repressivem Vorgehen gegen Kritiker der Corona-Maßnahmen wird hierzulande politisch-medial gerne goutiert. Beobachter aus dem Ausland sehen die Entwicklung mitunter kritischer.
In diesem Zusammenhang haben Vertreter der Vereinten Nationen und Menschenrechtsexperten im Rahmen der laufenden Sitzung des UN-Menschenrechtsrates (Human Rights Council, HRC) erneut auf die Zunahme willkürlicher Polizeigewalt [15] hingewiesen. In einer Videokonferenz am Rande der 48. Sitzung des Gremiums forderten sie nun staatliche Schutzprogramme.
Bereits früher im Jahr hatte UN-Sonderberichterstatter zum Thema Folter, Nils Melzer, die Bundesregierung nach Beschwerden von Teilnehmern diverser Corona-Demonstrationen über mutmaßliche Polizeigewalt zur Stellungnahme aufgefordert.
Gegen Einschränkung der Debattenfreiheit – auf jeden Fall
An dieser Stelle ist wohl ein Disclaimer notwendig: Man muss kein Fan von RT DE sein, um die willkürlichen Maßnahmen des US-Medienkonzerns Google zu kritisieren. Und man muss kein Anhänger der Querdenken-Bewegung zu sein, um die von Melzer im August gegenüber der Presseagentur dpa geschilderten polizeilichen Übergriffe zu beanstanden.
Diese Debatten finden freilich auch im Leserforum [16] von Telepolis statt. Wenn ein User etwa die Berichte über die Sperrung der Youtube-Kanäle von RT DE mit "engen Russland-Kontakten" unserer Redaktion zu begründen meint [17]. Es gehört zu den unschönen Entwicklungen der Debattenkultur, dass solche Unterstellungen bei Kritik an der Youtube-Zensur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit folgen. Oder, wie die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer es formulierte [18]:
Jeder kritische Stellungnehmer setzt sich des Verdachts der Gemeinmachung aus - natürlich nur, weil wir es verlernt haben, strukturelle Missstände unabhängig vom Gegenstand zu benennen.
Sabine Schiffer
Es war für uns gut zu sehen, dass es auch im Telepolis-Forum besonnenere Köpfe [19] gibt. Wenn ein User etwa anerkennt [20], "dass ihr sachlich nachgehakt und Youtube gefragt habt". Oder wenn die Notwendigkeit von Gegenrecherchen wie im Fall des RT-Youtube-Konfliktes als Mittel gegen die Bedrohung von Meinungsfreiheit und -vielfalt gesehen wird [21]. Die Polarisierung zieht aber auch am Telepolis-Leserforum nicht vorbei, wie unser Bild zu dieser Kolumne belegt.
Telepolis wird sich den Einschränkungen der Debattenfreiheit von rechts und links (und stets von oben) künftig sicherlich stärker widmen. Bis zum Ende des Jahres werden wir uns in diesem Zusammenhang gemeinsam mit sachkundigen Kolleginnen und Kollegen eingehender Gedanken über das künftige Profil von Telepolis machen.
Gerade die heute angeführten Beispiele – RT DE und Corona-Demonstrationen – zeigen, dass es ein Medium braucht, das im Kampf zwischen "Alternativmedien" und "Mainstream" eine sachliche, distanzierte und besonnene Haltung wahrt. Wir bei Telepolis sind gerne bereit, diese Rolle einzunehmen.
Wie sehen Sie Telepolis im Medienkonzert? Welche Themen gefallen und welche Themen fehlen Ihnen? Schreiben Sie uns gerne unter dem Stichwort "Telepolis-Konzept" an tpred@heise.de
Und vor allem: Bleiben Sie uns gewogen, Ihr
Harald Neuber
Und jetzt das Wetter .. Heute: Die Kosten der Untätigkeit. Von Wolfgang Pomrehn
Im Vorfeld der zurückliegenden Bundestagswahlen habe öffentliche und private Sender zahlreiche Talkrunden mit den führenden Kandidatinnen und Kandidaten veranstaltet. Klimaschutz stand dabei selten im Vordergrund. Eher war es ein Thema unter vielen, manchmal kam es auch gar nicht zur Sprache.
Das ist schon erstaunlich angesichts der tödlichen Hochwasserkatastrophe, die im Juli das Rheinland und benachbarte Regionen in Belgien und den Niederlanden heimsuchte. Oder angesichts der Bilder von zahlreichen Waldbränden rund um das Mittelmeer, die im Sommer über die Fernsehbildschirme flimmerten.
Wenn die Moderatorinnen und Moderatoren die Fragen dann schließlich doch einmal auf die fortschreitende und langsam dramatische Züge annehmende Klimaveränderung lenkten, dann ging es meist – in einigen Fällen auch ausschließlich – um die Kosten.
Nicht etwa die Kosten des Nichttuns, also die Kosten, die zum Beispiel im Ahrtal und angrenzenden Rheinland entstanden sind, waren gemeint. Die Bundesregierung geht bisher von 30 Milliarden Euro aus [22], ist sich aber nicht sicher, ob es nicht am Ende auch noch mehr sind. Nein, gemeint waren ausschließlich die Kosten des Klimaschutzes.
Dabei könnte, wer es nicht am praktischen Beispiel lernen will, auch bei Fachleuten nachfragen. Bereits 2006 hatte der einstige Chef-Ökonom der Weltbank, Nicholas Stern, in einem im Auftrag der britischen Regierung verfassten Bericht auf die schwerwiegenden ökonomischen Konsequenzen des Klimawandels [23] hingewiesen.
Dieser Tage gab er dem Handelsblatt ein Interview, in dem er davor warnt, die nach der großen Krise nach 2008 gemachten Fehler zu wiederholen [24], wenn es um die Überwindung der Corona-Krise gehe.
Schon damals hätten die Investitionen in neue Technologien gelenkt werden müssen, die Treibhausgasemissionen vermeiden.
Wegen wachsender Staatsschulden macht er sich keine Sorgen. Für den Klimaschutz müsse es vielmehr mehr Spielraum bei der Kreditaufnahme geben: "Man kann die Neuverschuldung zurückfahren, wenn die Technologien und Disruptionen im Kampf gegen den Klimawandel in der Breite angekommen und die Herausforderungen bewältigt sind", zitiert ihn das Handelsblatt.
Man darf gespannt sein, was auf diesem Feld bei den anlaufenden Koalitionsverhandlungen herauskommen wird. FDP und Grüne sind große Fans der sogenannten Schuldenbremse [25], der in Landesverfassungen und Grundgesetz festgelegten Obergrenzen der Kreditaufnahme.
Die Alternative wäre eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen, wie von vor allem von der Linkspartei gefordert, doch da müssten die Liberalen und auch ein Teil der Grünen schon einen regelrechten Salto über ihren eigenen Schatten machen. Derlei ist bei den gegebenen Mehrheiten im Bundestag vermutlich ähnlich wahrscheinlich wie ein allgemeines Tempolimit auf den Autobahnen.
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6208623
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Der-Impfverweigerer-aus-der-Pharmaindustrie-6052708.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Der-Fake-News-Vorwurf-gegen-RT-DE-und-wie-wir-alle-manipulieren-6206528.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/RT-DE-YouTube-Sperre-mit-weitreichenden-Folgen-6203902.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE-6207265.html?seite=all
[5] https://www.rnd.de/politik/ausgangssperre-in-deutschland-grundrechte-durfen-laut-justizministerin-lambrecht-nur-im-notfall-eingeschrankt-werden-ausgangssperren-waren-jetzt-nicht-adaquat-2B52BSPNNFDR7KHWFC6YEZSBKU.html
[6] https://www.heise.de/bilderstrecke/3164477.html?back=6208623
[7] https://www.heise.de/bilderstrecke/3164477.html?back=6208623
[8] https://www.heise.de/tp/features/Die-Gruenen-sind-eine-prima-Partei-und-retten-die-Welt-Vielleicht-6206887.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Ampel-oder-Schwampel-Zwischen-den-Koenigsmachern-stimmt-die-Chemie-6204474.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Sicherheitsrisiko-FDP-Wenn-die-SPD-ploetzlich-liefern-soll-6207201.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Unionspolitiker-genervt-weil-Laschet-nicht-in-Wuerde-verlieren-kann-6202557.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-nach-der-Wahl-Weiter-so-in-den-Abgrund-6206971.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Israel-Green-Pass-nur-bei-drei-Corona-Impfungen-6203347.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Impfzentren-schliessen-Impfappelle-werden-schaerfer-6205194.html
[15] https://www.heise.de/tp/features/Polizeigewalt-nahm-unter-der-Pandemie-zu-6205617.html
[16] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE/Dieses-Thema-scheint-TP-schwer-auf-den-Magen-zu-schlagen/posting-39730411/show/
[17] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE/Re-Dieses-Thema-scheint-TP-schwer-auf-den-Magen-zu-schlagen/posting-39731517/show/
[18] https://www.heise.de/tp/features/Medienkritik-Es-lebe-das-Doppelmass-6206865.html
[19] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE/Whataboutism/posting-39730653/show/
[20] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE/Vielen-Dank-Telepolis/posting-39732152/show/
[21] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Das-sind-die-Hintergruende-der-Youtube-Sperren-gegen-RT-DE/Mir-auch/posting-39731355/show/
[22] https://rp-online.de/politik/deutschland/bundesregierung-bilanziert-erneut-hochwasserschaeden_aid-63190445
[23] https://www.lse.ac.uk/GranthamInstitute/publication/the-economics-of-climate-change-the-stern-review
[24] https://app.handelsblatt.com/politik/deutschland/interview-klimaoekonom-stern-warnt-vor-beharren-auf-eu-schuldenregeln-diese-fehler-duerfen-wir-nicht-erneut-machen/27589416.html?ticket=ST-5938823-FWKG5szZWA2tRKrjccue-ap2
[25] https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/schuldenbremse-52224
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