Wie "dramatisch" ist die Lage?
Die neuen Corona-Maßnahmen sind umstritten. Zwei weitere Städte in Bayern verhängen den Lockdown
Während Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre Vorgehensweise während der ersten Pandemie-Phase im Frühjahr überwiegend gute Noten erhielt, sieht die Sache nun, in der zweiten Welle, deutlich anders aus. Die Reaktionen auf ihre Regierungserklärung, in der sie die neuen Corona-Maßnahmen als "geeignet, erforderlich und verhältnismäßig" verteidigte, sind stark geteilt.
Die Kanzlerin befand sich allerdings auch in einer höchst undankbaren Rolle: Nach im Rückblick fast schon als beschaulich zu bezeichnenden Sommermonaten, in denen die Bundesländer die Federführung über die Maßnahmen hatten, lag es nun an ihr, Ordnung in die anschwellende Corona-Kakophonie der letzten Wochen zu bringen.
Die Dissonanzen ergeben sich aus widerstreitenden Ansichten darüber, wie dem neuen Coronavirus in Zukunft zu begegnen ist. Dahinter steht sicherlich die Erkenntnis, gegen die sich viele zunächst gesträubt hatten, dass COVID-19 endemisch geworden ist und die Bekämpfung der Pandemie nicht in kurzer Zeit bewältigt werden kann, sondern auf Dauer angelegt sein muss.
Doch bei aller Autonomie, die sich regionale und lokale Entscheidungsträger ausgebeten hatten, war zuletzt offenkundig, dass viele auf ein deutliches Signal aus Berlin warteten. Die positiven Coronafälle waren, wie schon in anderen europäischen Ländern zuvor, in den letzten Wochen so deutlich angestiegen, dass sich Handlungsbedarf spätestens abzeichnete, als auch die Zahl der Patienten in den Krankenhäusern stieg.
Aufgrund der regional stark unterschiedlichen Entwicklung wurden bundesweit einheitliche Lösungen sicherlich nicht begünstigt. Zwar steigt mittlerweile die Zahl der COVID-19-Fälle auch in denjenigen Regionen, die im Frühjahr noch weitgehend verschont geblieben waren, wie etwa in Sachsen, wo die Kurve seit etwa zwei Wochen steil nach oben zeigt. Doch es existieren auch noch relativ helle Flecken auf den zunehmend dunkel eingefärbten Corona-Karten, vor allem an der Küste im Norden Deutschlands.
Somit ist es vielleicht sogar bemerkenswert, dass die neuen Maßnahmen von Bundesländern mitgetragen werden, die sich in einem jeweils höchst unterschiedlichen Stadium befinden. Während die einen, wie Manuela Schwesig (SPD) in Mecklenburg-Vorpommern, die Maßnahmen damit begründen, dass es notwendig sei, das Virus aus ihrer Region herauszuhalten, fragen sich andere, wie Markus Söder (CSU) in Bayern, wie sie es schleunigst wieder loswerden können.
Und selbst in Bayern, das seit Monaten überdurchschnittlich stark betroffen ist und zunehmend wie ein einziger Hotspot aussieht, gibt es noch Abstufungen. In Nürnberg ist das Infektionsaufkommen anscheinend noch überschaubar. Anders weiter südlich: Nach Berchtesgaden und Rottal-Inn wurde nun auch in Augsburg und Rosenheim ein Lockdown verhängt. Mit einem 7-Tage-Inzidenz-Wert von 256,7 befindet sich Augsburg nicht mehr weit hinter Berchtesgaden, das derzeit bei einem Wert von 307,8 liegt.
Angeblich war der Entscheidung der Stadt Augsburg ein Appell von Medizinern des dortigen Universitätsklinikums vorausgegangen, die zügig strengere Maßnahmen forderten. Die Zahl der Corona-Fälle in der Uniklinik war zuletzt stark angestiegen: Noch am 19.10. wurden 39 COVID-19-Patienten behandelt, davon 8 auf Intensivstation. Zuletzt wurden 107 positive und vermutete Fälle behandelt, davon 25 auf Intensivstation. Die Klinik teilt mit, dass sie elektive Eingriffe bereits reduziert habe, um für COVID- und andere Akutpatienten handlungsfähig zu bleiben.
Dass ein Lockdown in Augsburg kommen würde, hatte sich seit Tagen abgezeichnet. Doch auch dort wartete man anscheinend auf das Signal aus Berlin. Ab Ende dieser Woche gelten in Augsburg verschärfte Maßnahmen, die über den von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Katalog hinausgehen: Maskenpflicht gilt an stark frequentierten Orten im gesamten Stadtgebiet. Das nächtliche Alkoholverbot wird auf die gesamte Stadt ausgeweitet. An Geschäftseingängen werden Desinfektionsspender vorgeschrieben.
Man wird sich, solange die Pandemie andauert und eine signifikante Zahl von ernsten Erkrankungen auftritt, auf einen Dauerstreit über die geeigneten Corona-Maßnahmen einstellen müssen.