Wie ein Mensch wirklich stirbt

Seite 2: Scheinbares Leben nach dem Tod, Kalt wie eine Leiche, Trockene Haut, Fäulnis und Verwesung, Wachsleichen und Mumien

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Scheinbares Leben nach dem Tod

Wer im Biologieunterricht einen Frosch oder einen Fisch sezieren musste, kennt das Phänomen: Legt man Strom an eine Nervenzelle an, kann es zu plötzlichen Muskelreaktionen kommen. Diese sind kein Lebenszeichen des Tieres. Sie zeigen aber, dass die zugrundeliegenden Zellen noch ihre Funktion erfüllen. Wenn man weiß, wie lange nach dem Tod das noch der Fall ist, kann man auf den Todeszeitpunkt rückschließen.

Dieses Instrumentarium steht Rechtsmedizinern ebenfalls zur Verfügung. Das Spektrum reicht dabei von Verfahren, die sie direkt am Fundort der Leiche einsetzen können (und die meist recht grob sind) bis hin zu Labortechniken.

Das Zsako-Muskelphänomen etwa kann der Mediziner noch 90 bis 150 Minuten nach dem Tod hervorrufen: Schlägt er kräftig mit einem harten Gegenstand auf den Biceps-Muskel des Oberarms, wird sich dieser zusammenziehen und sich dadurch der Unterarm bewegen. Der Test ist Ihnen vielleicht aus der ärztlichen Untersuchung bekannt, bei der mit einem kleinen Holzhämmerchen auf den unteren Teil des Oberschenkels kurz über dem Knie geklopft wird: Funktioniert der Reflex, zuckt der Unterschenkel nach vorn. Der Trick funktioniert auch bei anderen Muskeln der Skelettmuskulatur, etwa auf dem Handrücken.

Ist der Mensch schon länger als 2,5 Stunden, aber kürzer als vier bis fünf Stunden tot, kommt es zwar nicht mehr zur Muskelkontraktion, dafür jedoch bilden sich jedoch ein oder mehrere Wülste (Fachbegriff: idiomuskulärer Wulst), die unter der Haut gut sichtbar oder zumindest tastbar sind. Je mehr Zeit vergeht, umso schwächer fällt die Reaktion aus, desto länger bleibt sie jedoch auch erhalten, in der Schlussphase sogar bis zu einen Tag lang.

Reaktionen lassen sich, wie erinnern uns an das Frosch-Experiment, jedoch nicht nur mechanisch, sondern auch elektrisch hervorrufen. Den Rechtsmedizinern stehen dafür tragbare Reizgeräte zur Verfügung, die definierte Stromimpulse abgeben. Sticht man eine Elektrode etwa im Augenlid ein, reagiert je nach der Liegezeit der Leiche die gesamte Gesichtshälfte (etwa 3,5 Stunden nach dem Tod), die obere Gesichtshälfte (4,5 Stunden), beide Lider, ein Teil des Oberlids oder der Augenmuskel unmittelbar an der Einstichstelle (bis 13,5 Stunden nach dem Todeszeitpunkt).

Die Gesichtsmuskulatur ist ähnlich elektrisch reizbar – nach zwei bis sechs Stunden wird man hier nur noch eine Zuckung in unmittelbarer Nähe der Elektroden hervorrufen können. Die Unsicherheit ist bei diesem Verfahren allerdings groß, sie liegt jeweils etwa bei der Hälfte der aus dem Test ermittelten Liegezeit. Bringen die elektrischen Impulse also etwa die obere Gesichtshälfte in Bewegung, lässt sich nur mit Sicherheit sagen, dass der Mensch zwischen zwei und sieben Stunden tot sein muss (wobei 4,5 Stunden den wahrscheinlichsten Wert darstellen).

Schließlich können Gerichtsmediziner auch noch auf chemische Weise Reaktionen auslösen – in diesem Fall an der Muskulatur der Iris, die die Pupille öffnet und schließt. Man spritzt dem Toten dazu ein Medikament wie Adrenalin, Atropin oder Acetylcholin unter die Bindehaut. Einige Minuten danach tritt die Wirkung ein – oder auch nicht, je nach der Länge des Zeitraums, der seit dem Tod vergangen ist. Mit Adrenalin sollte sich beispielsweise 14 bis 46 Stunden nach dem Tod eine Reaktion zeigen, bei Atropin nur 3 bis 10 Stunden post mortem (nach dem Tod).

Kalt wie eine Leiche

Die Vorstellung, dass Leichen sich kalt anfühlen, ist zutreffend. Das liegt zum einen an der Erwartung, die der Mensch bei der Berührung nackter Haut hat – üblicherweise spürt man dann die Körpertemperatur der Haut von etwas unter 37 Grad. Es bedarf deshalb keiner großen Abkühlung, damit bereits ein unangenehmer Eindruck entsteht.

Tatsächlich fällt die Körpertemperatur nach dem Tod nämlich relativ langsam ab, etwa mit 0,5 bis 1,5 Grad pro Stunde. Im After, etwa acht Zentimeter innerhalb des Schließmuskels gemessen (hier kommt die Temperatur der Kerntemperatur im Inneren am nächsten), bleibt die Temperatur zunächst zwei bis drei Stunden konstant, während die Haut langsam abkühlt. Die Geschwindigkeit der Abkühlung danach hängt stark von den Umweltbedingungen ab. Sie gehorcht dann zwar grundsätzlich einer Exponentialgleichung, allerdings sind die entsprechenden Koeffizienten von Fall zu Fall sehr verschieden.

Bei unter 10 Grad Umgebungstemperatur etwa verdoppelt bis verdreifacht sich die Abkühlungsgeschwindigkeit im Vergleich zu einer Temperatur von 21 Grad. Menschen mit größerer Körpermasse kühlen bis zu ein Drittel langsamer ab als schlanke Menschen. Eine zusammengekrümmte Körperhaltung verzögert die Wärmeabgabe an die Umgebung ebenso wie Bekleidung oder eine Bettdecke. Ist die Kleidung allerdings feucht, kühlt die Leiche schneller aus. Dasselbe ist der Fall, wenn Wind die feuchte Luft abtransportiert oder sich der Tote gar im Wasser befindet. In der Praxis ist auch zu berücksichtigen, dass beim Fund der Leiche womöglich die Umgebung verändert wurde: Hat die Polizei vielleicht Scheinwerfer aufgestellt? Hat jemand die Fenster geöffnet oder die Heizung angeschaltet?

In der Praxis bestimmt man die Leichenliegezeit heute primär mit Software, die all diese Faktoren zu berücksichtigen sucht. Eine ältere Bestimmungsmöglichkeit sind Nomogramme, die der Rechtsmediziner nach einem bestimmten Algorithmus abliest und dann mit Korrekturfaktoren umrechnet. Wenn alle Umgebungsbedingungen zu jedem Zeitpunkt bekannt sind, gilt die Todeszeitbestimmung über die Körperkerntemperatur als genaueste Methode.

Trotzdem versucht der sorgfältige Gerichtsmediziner, auch alle anderen Verfahren zu nutzen, um die Sicherheit zu erhöhen. Ist der Mensch maximal einen Tag lang tot, lässt sich der genaue Sterbezeitpunkt bei Nutzung aller Möglichkeiten meist auf ein bis zwei Stunden eingrenzen (aber nicht genauer).

Trockene Haut

Unter trockener Haut leiden auch Tote – auch wenn “leiden” vielleicht das falsche Wort ist. Das liegt ganz einfach daran, dass mit dem Herzschlag auch alle Mechanismen beendet werden, die Haut und Schleimhäute feucht halten. Lider oder Zunge bewegen sich nicht mehr. Die Feuchtigkeit der Hautoberfläche verdunstet, die Schweißdrüsen produzieren keinen Nachschub mehr.

Schon ein bis zwei Stunden nach dem Tod trocknet die Bindehaut der Augen (falls diese nicht geschlossen sind) und verfärbt sich dabei von gelb-bräunlich bis (später) schwärzlich. Bei geschlossenen Augen kommt es erst nach 24 Stunden zu einer Hornhauttrübung. Es folgen die Lippen und andere Schleimhäute, danach verfärbt sich die Haut an den Fingerkuppen rötlich-braun.

Die Vertrocknung beginnt in der Regel an den Punkten, die am weitesten vom Rumpf entfernt sind. Vorgeschädigte Teile der Haut trocknen dabei schneller als unbeschädigte Stellen, weil die vorhandene Feuchtigkeit hier besser verdunsten kann.

Fäulnis und Verwesung

Jetzt kommt der Moment, bei dem der angeberische, sich eben noch aufplusternde Nachwuchs-Ermittler im Krimi gern in die Schranken gewiesen wird. Dass der Tote nicht mehr lebt, ist keine Frage mehr, deren Beantwortung einen Arzt benötigen würde: Die Antwort gibt schon die eigene Nase. Spätestens beim Anblick der nach einer Woche an der Luft bereits faulenden Leiche beschert dem Assistenten des Ermittlers einen Anfall akuter Übelkeit, nach dem er wieder ganz bescheiden auftritt.

So unangenehm der Anblick eines faulenden Körpers vielleicht ist – die Fäulnis ist auch ein gutes Zeichen. Falls der Tote an einer ansteckenden Krankheit verstorben sein sollte, geht von ihm nun keinerlei Gefahr mehr aus. Das Regime haben nun nämlich all die Bakterien und Pilze übernommen, die optimal an den toten Organismus angepasst sind. Krankheitserreger hingegen sind Phänomene des Lebens; dass ihr Wirt verstirbt, ist eigentlich nicht in ihrem biologischen Interesse.

Dass es überhaupt zur Fäulnis kommt, liegt daran, dass die Zellen nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Sie stellen ihr Programm um und versorgen sich aus sich selbst heraus mit Energie – die Gewebe lösen sich auf (Autolyse), Schutzmechanismen, die das im lebenden Körper verhindern, versagen nun. Für manche der stets auf Haut und Schleimhäuten wohnenden Bakterien verbessern sich dadurch die Lebensbedingungen und verdrängen all die Konkurrenten, die daraus keinen Nutzen ziehen können. Der Sauerstoffmangel führt dazu, dass vor allem anaerobe Prozesse (die keinen Sauerstoff brauchen) ablaufen. Eben das ist die Definition von Fäulnis im Vergleich zur Verwesung, auf die wir gleich eingehen werden.

Schön anzusehen, das hat der Ermittler-Assistent ja schon am eigenen Leib gespürt, ist eine faulende Leiche nicht. Zunächst färbt sich die Haut grünlich (ein bis zwei Tage post mortem). Das liegt daran, dass Bakterien das im Blut enthaltene rote Hämoglobin zu Schwefelverbindungen abbauen, die grün aussehen. “Krampfadern” zeigen sich am ganzen Körper – genauer gesagt zeichnen sich die Venen unter der Haut nun sehr deutlich ab (drei bis fünf Tage Liegezeit).

Die Gase, die die Mikroorganismen produzieren (vor allem Kohlendioxid, Ammoniak und Schwefelwasserstoff), blähen das Körperinnere auf; zunächst die Lippen, dann auch Bauch, Brüste und Glied vergrößern sich enorm (acht bis zwölf Tage nach dem Tod). Der Gasdruck im Inneren presst Flüssigkeit aus den Körperöffnungen, die man auf den ersten Blick für Blut halten könnte, die jedoch tatsächlich die Zersetzungsprodukte der Gewebe enthält. Bei schwangeren Frauen kann es zur so genannten Sarggeburt kommen: Der Fötus wird durch die Fäulnisgase aus dem Unterleib gepresst. Zwischen den Hautschichten bilden sich Gasblasen. Wenn diese platzen, reißt die Haut auf. Haare und Nägel lösen sich ab,

Wie schnell die Fäulnis abläuft, hängt erneut stark von den Umgebungsbedingungen ab. Die oben angegebenen Zeiten gelten für eine Lagerung der Leiche an der Luft bei 20 Grad Celsius. Im Mittel gilt die Caspersche Regel: Einer Woche an der Luft entsprechen demnach zwei Wochen Liegezeit im Wasser oder acht Wochen in der Erde.

Irgendwann kommt jedoch immer der Zeitpunkt, an dem Fäulnis in Verwesung übergeht. Wenn durch die zunehmende Selbstauflösung und Beschädigung der Leiche Sauerstoff auch in tiefere Bereiche gelangt, werden die anaeroben Prozesse durch aerobe abgelöst und andere Mikroorganismen übernehmen die Macht. Das Gewebe zerfällt nun weniger feucht, eher trocken-faserig. Der Geruch ändert sich: Das faulige Aroma von Schwefelwasserstoff schwindet. Eigentlich sollte eine verwesende Leiche gar nicht mehr riechen, denn die hauptsächlichen Verwesungsprodukte Wasser, Kohlendioxid, Harnstoff und Phosphat besitzen keinen oder nur geringen Eigengeruch. In der Praxis wird man allerdings kaum eine Leiche finden, bei der nicht auch noch (in geringerem Umfang) Fäulnis-Vorgänge ablaufen. In Zwischenstadien kann es zudem zur Produktion stechend riechender Ammoniak-Verbindungen kommen.

Der Gerichtsmediziner wird bei einer Leiche in diesem Zustand gern auch einen Insektenkundler (Entomologen) hinzuziehen. Anhand der bekannten Entwicklungszyklen vieler Fliegen- und Käferarten lassen sich ebenfalls Rückschlüsse auf den Todeszeitpunkt ableiten. Je mehr verschiedene Entwicklungsstadien unterschiedlicher Arten der Experte findet, desto genauere Aussagen kann er liefern. Wenn Art 1 etwa drei Tage nach der Eiablage zur Larve wird, die Larven im Mittel jedoch schon ein paar Tage alt sind, muss sich die Leiche für bestimmte Zeit an diesem Ort befunden haben.

Wachsleichen und Mumien

In sehr trockener Umgebung tritt statt der Fäulnis unter Umständen eine Mumifikation der Leiche ein – nicht mit der künstlichen, aus dem alten Ägypten bekannten Mumifizierung zu verwechseln. Mumien können auf natürlichem Weg immer dann entstehen, wenn den für die Fäulnis verantwortlichen Mikroorganismen eine der zur Vermehrung nötigen Grundlagen fehlt – etwa die Feuchtigkeit, aber auch Wärme (Eismumie). Wird die Leiche in für die Bakterien giftigen Stoffen eingebettet (Bitumen, eventuell auch Beton), kann es ebenfalls nicht zur Fäulnis kommen und eine Giftmumie entsteht.

Insbesondere in kühler, feuchter Umgebung kann es zur Bildung von Wachsleichen kommen. Das ist auf manchen Friedhöfen mit wasserundurchlässigen Lehm- oder Tonböden tatsächlich ein Problem, weil die erdbestatteten Toten auch nach 50 Jahren, wenn die Grabstellen üblicherweise verfallen, noch keine äußeren Verwesungserscheinungen zeigen. Wie geht man pietätvoll mit einer derartigen Leiche um?

Der Gerichtsmediziner weiß, dass der Begriff Fettwachsleiche eigentlich unpassend ist, denn tatsächlich enthalten die Körper kaum noch Fette und gar kein Wachs. Vielmehr entstehen unter Luftabschluss aus dem Unterhautfettgewebe Fettsäuren, deren Salze und Glycerin. Diese bilden eine undurchlässige Schutzschicht, die Fäulnis und Verwesung des Körpers verhindert oder zumindest verlangsamt. Die Konsistenz dieser Schutzschicht ist wachsartig, daher auch der Begriff.

Eher selten, aber doch nicht unmöglich ist es, dass der tote Körper selbst seine Fäulnis aufhält. Das passiert zum Beispiel, wenn zuvor eine längere Chemotherapie stattfand oder der Mensch mit hoch dosierten Antibiotika behandelt wurde. Die Auswirkungen dieser Medikamente sind allerdings stets zeitlich auf einige Tage begrenzt. Sie erschweren die Todeszeitbestimmung insofern, als der Gerichtsmediziner den Arztbericht des Behandlers womöglich nicht vorliegen hat.

Der Text ist das erste Kapitel des Buches Schöner Sterben - Kleine Mordkunde für Krimifans, das die häufigsten Fehler in Krimis und Thrillern entlarvt. Es beschreibt, wie der Gerichtsmediziner Tote identifiziert und geht genauer auf die Besonderheiten der verschiedenen Todesarten ein. Als eBook derzeit für 99 Cent erhältlich (DRM-frei, also zur Nutzung auf allen eReadern geeignet).

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