Wie gefährlich Fake News wirklich sind

Washington, 6. Januar 2021. Bild: Tyler Merbler/CC BY 2.0

Was wir von der Erstürmung des amerikanischen Kapitols lernen können

Die Vereinigten Staaten von Amerika investieren mehr als eine Billion Dollar (1.000.000.000.000) im Jahr in Verteidigung und Sicherheit. Das dürfte mehr als ein Drittel der Investitionen in diesem Bereich auf der ganzen Welt sein. Dennoch brachen am Mittwoch Hunderte Randalierer in das Herzstück ihrer Demokratie ein: das Kapitol, in dem die Volksvertreterinnen und -vertreter verhandeln.

Rechtsstaatlich ist der Sturm noch einmal glimpflich ausgegangen: Am Donnerstag um ca. 9:30 Uhr unserer Zeit (in Washington DC war es 3:30 Uhr mitten in der Nacht) wurden die drei Stimmen des Bundesstaats Vermonts für Joseph Biden und Kamala Harris vom bis 20. Januar amtierenden Vizepräsidenten Mike Pence bestätigt. Damit erhielten die Kandidaten der Democrats vom U.S. Congress die Bestätigung für die erforderliche Mehrheit von 270 Stimmen.

Es ist nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn die Randalierer die offiziellen Urkunden der Bundesstaaten in die Hände bekommen hätten. Mitarbeiter des Congress haben diese gerade rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Oder was wäre passiert, wenn sich der Vizepräsident nicht an die prozeduralen Regeln gehalten hätte? Donald Trump rief seinen Stellvertreter meinem Verständnis nach zum Verfassungsbruch auf, als er am Mittwoch twitterte: "Mike Pence muss sie [gemeint sind die Wahlzertifikate] nur an die Bundesstaaten zurückschicken UND DANN GEWINNEN WIR. Mach es so, Mike, dies ist die Zeit für außerordentlichen Mut!"

Vorhersehbares Chaos

Die Ereignisse fielen nicht vom Himmel. Immerhin hatte Donald Trump schon seit Jahren Lügen verbreitet - die Washington Post zählt zurzeit (Stand 8. Januar 2021) 29.508 falsche oder irreführende Aussagen von ihm während seiner Amtszeit. Seit den Wahlen vom November streuten er und seine Unterstützer unermüdlich haltlose Behauptungen über angeblichen Wahlbetrug.

Diese wurden in Dutzenden Entscheidungen von Gerichten zurückgewiesen. Und nicht zuletzt weigerte Trump sich wiederholt, eine reibungslose Machtübergabe an seinen Nachfolger zu garantieren. Das tat er erst, als der Kongress am Donnerstag schließlich die Wahlergebnisse bestätigte, also nach Pences Bekenntnis zur Verfassung und der Niederschlagung des Aufruhrs.

Die Stimmung war schon lange aufgeheizt. Die Tausende Trump-Anhänger, die der abgewählte Präsident am Mittwochvormittag in seiner Rede vor dem White House weiter anstachelte, kamen nicht überraschend aus Kanälen gekrochen oder mit Fallschirmen aus Hubschraubern in die US-Hauptstadt gesprungen. Viele von ihnen waren sogar wie Partisanen angezogen und führten gefährliche Gegenstände bei sich.

Die Sicherheitsbehörden waren hier, dem Anschein nach, wieder einmal auf dem rechten Auge blind. Dass die Lage eskalieren würde, durfte am Mittwoch niemanden mehr überraschen. Vielleicht sind den Verantwortlichen die Risiken nicht mehr aufgefallen, weil sie sich daran gewöhnt hatten: Dass Trumps Wahlkampf und Amtszeit eine einzige Eskalation war.

Auch wenn es nun danach aussieht, dass die Vereidigung des gewählten Präsidenten und seiner Stellvertreterin am 20. Januar stattfinden kann, sind die Probleme damit nicht vom Tisch. Immerhin stimmten noch im November über 74 Millionen Wählerinnen und Wähler in den USA für Trump. In der Berichterstattung während des Aufruhrs zählte CNN davon 30 Millionen zum harten Kern.

Das sind natürlich nicht alles Randalierer. Viele von ihnen dürften aber der Legende vom Wahlbetrug anhängen. Immerhin zweifelten noch in der Donnerstagnacht einige Parlamentarier der Republikaner die Wahlergebnisse ganz offiziell an - um dann von einer großen Mehrheit aller politischen Lager überstimmt zu werden.

Das Problem der Fake News

Donald Trump und seinen Freunden scheinen Sachverhalte, die in unserer Gesellschaft durch Zeugen, Medien und in letzter Instanz Gerichte festgestellt werden, egal zu sein. Damit sind sie, erkenntnistheoretisch gesprochen, echte Pragmatiker: Wahr ist für sie, was nützlich ist. Und nützlich war (und ist) für Trump und einige Republikaner die Behauptung, ihnen sei der Sieg gestohlen worden.

Auch haben Trumps andere rund 30.000 dokumentierte Unwahrheiten nicht verhindert, dass über 74 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner im November für ihn gestimmt haben und ihm so fast eine zweite Amtszeit beschert hätten. Auf Twitter folgen ihm sogar fast 90 Millionen Menschen (während er selbst übrigens ganzen 51 folgt). Das Modell "Trump" ist also ein Erfolgsmodell, an dem sich auch andere Politikerinnen und Politiker sowohl innerhalb als außerhalb der Vereinigten Staaten orientieren werden.

Oft wurde geschrien: "Fake News!" Man wirft den anderen vor, in einer "alternativen Realität" mit "alternativen Fakten" zu leben. Die Bürgerlichen reagierten darauf mit der Einrichtung von "Fakten-Checks", auch im deutschsprachigen Raum. Natürlich ist es gut, Tatsachenbehauptungen kritisch zu prüfen. Es ist aber sehr naiv, damit das Problem der Fake News lösen zu wollen. Denn genauso wie sich mit Ethik und Moral vor allem diejenigen beschäftigen, die es am wenigsten nötig haben, dürften die "Fakten-Checks" vor allem diejenigen aufrufen, die sowieso wenig anfällig für Fake News sind.

Mit anderen Worten: Wer sich nicht für die kritische Prüfung von Sachverhalten interessiert, wird sich ebenso wenig für "Fakten-Checks" interessieren, wie sich jemand für Moralphilosophie interessiert, dem Ethik und Moral egal sind. Insofern sind die Bemühungen vieler Medien, "Fake News" zu bekämpfen, allenfalls gut gemeint, doch schlecht gemacht.

Den schlagenden empirischen Beweis brachten die Wahlen vom November 2020 und der Aufruhr vom 6. Januar 2021 in den USA. Das hätte man vorher wissen können: Kommunikationsforschung zeigt seit Jahrzehnten, dass Menschen Fakten selektiv wahrnehmen und im Sinne ihres Weltbilds interpretieren.

Gespaltene Gesellschaft

Insofern stellt sich mir die Frage, ob die Bürgerlichen mit ihren "Fakten-Checks" vor allem - und vor allem: sich selbst, denn die Gegenseite interessiert sich ja nicht dafür - immer wieder ihre intellektuelle Überlegenheit beweisen. Das ist aber keine Problemlösung, sondern ein Fluchtreflex, mit dem man kurzfristig das eigene Gemüt beruhigt. In dieses Bild passt auch, Vertreter der Gegenseite aus der Diskussion auszuschließen, Stichwort "Cancel Culture".

Mir ist noch gut in Erinnerung, wie die Linkspartei am Anfang immer wieder als SED-Nachfolgepartei und ihre Vertreter als "Verfassungsfeinde" denunziert wurden. Etwas später war sie dann stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Die AfD wurde (und wird) pauschal als rechtsradikale oder gleich "Nazi-Partei" abgeurteilt. Heute ist sie - wer hätte das gedacht! - stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Hier in den Niederlanden ist Geert Wilders' "rechtspopulistische" PVV seit 2017 sogar zweitstärkste Fraktion im Parlament. Nach derzeitigen Prognosen wird das auch nach den diesjährigen Wahlen so bleiben.

Das Prüfen von Fakten ist also allem Anschein nach nicht Teil der Lösung, sondern allenfalls eine psychologische Bewältigungsstrategie. Bewältigungsstrategien werden aber dann zum Problem, wenn sie die Problemursache nicht beseitigen, sondern vielleicht sogar noch verstetigen. Was könnte dann die Ursache für die Spaltung der Gesellschaft sein, wenn es nicht der mangelnde Zugang zu Fakten ist? Vielleicht die tatsächliche Spaltung der Gesellschaft!

In Deutschland gibt es rund siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Rund sechzig Jahre nach der ersten Einwanderungswelle zur Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Rund dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen.

Sozialerhebungen belegen Jahr für Jahr und schon seit Jahrzehnten immer wieder aufs Neue strukturelle Unterschiede für Kinder aus mehr oder weniger wohlhabenden, mehr oder weniger gebildeten Familien. Dabei korrelieren Wohlstand und Bildung, was mit einem sozial gerechteren Bildungssystem nicht so sein müsste - oder jedenfalls nicht so stark.