Wie gefährlich ist Alkohol nun wirklich?

Seite 2: Zu den Gesundheitsrisiken durch Alkohol

Das klingt recht dramatisch. Wenn man einen Blick auf die Studie wirft, fällt in der zusammenfassenden Grafik der eher moderate Anstieg der Geraden auf.

Will heißen: Bei ein oder zwei "Standardgläsern Alkohol" pro Tag ist das Krankheitsrisiko zwar statistisch erhöht. In der Praxis bedeutet das aber nur einen geringen Anstieg im Mittelwert, wenn man eine sehr große Gruppe von Personen betrachtet. Ein Standardglas ist definiert als zehn Gramm Alkohol, also beispielsweise 250 ml Bier (mit fünf Prozent Alkohol) oder 125 Milliliter Wein (mit zehn Prozent Alkohol)

Was das in konkreten Zahlen bedeutet, schauen wir uns gleich an. Bleiben wir noch einen Moment bei der Grafik: Denn selbst bei neun Standardgläsern pro Tag (!) ist das Krankheitsrisiko gerade einmal verdoppelt. Und wer trinkt schon über zwei Liter Bier am Tag? Mit dieser Menge dürften die meisten Menschen schon einen ordentlichen Rausch erleben, der auch mit den bekannten Funktionsausfällen einhergeht.

Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man die Ergebnisse für einzelne Krankheiten betrachtet. Bei Diabetes und Herzerkrankungen nimmt das Risiko nämlich erst einmal ab. Erst bei vier Gläsern am Tag (bei den Männern) oder sechs (Frauen) steigt das Risiko wieder über den Wert bei völliger Abstinenz, der hier als Grundlinie definiert ist.

Bei Herzerkrankungen liegt das Risiko für beide Geschlechter erst wieder ab dem siebten täglichen Standardglas über dem Wert der Abstinenzler. Damit ist auch die Botschaft des oben erwähnten begleitenden Kommentars in Zweifel gezogen, die dem Genussmittel jegliche Gesundheitsverbesserung absprach.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich also, dass die Antwort von der konkreten Frage und Auswertung abhängt.

Allerdings fällt das Ergebnis nicht für jede Erkrankung positiv aus. So ist das Risiko für Krebs im Mund-Rachenbereich bei Männern schon bei zwei bis drei täglichen Standardgläsern verdoppelt, bei sieben mehr als vervierfacht. Solche relativen Risiken (also z.B. Verdopplung, im Vergleich zu einer bestimmen Gruppe) eignen sich hervorragend für Dramatisierungen, die laut Pressekodex des Presserats bei Medizinberichterstattung aber vermieden werden sollen.

Harte Zahlen

Wichtiger ist es daher, sich absolute Zahlen anzuschauen. Das ist besonders dann von Bedeutung, wenn eine Erkrankung sehr selten ist. Nehmen wir einmal an, sie beträfe bei Abstinenzlern eins von 1.000, bei Menschen mit mäßigem Alkoholkonsum zehn von 1.000. Das wäre zwar relativ gesehen eine Verzehnfachung.

Dann würden aber 990 von 1.000 derjenigen mit mäßigem Konsum nicht erkranken. Sollte man all diese Menschen mit Schreckensmeldungen über dramatisch höhere Krankheitsrisiken verunsichern?

Absolute Zahlen erfordern zusätzliche Recherchearbeit, doch gehören für die richtige Einordnung der Risiken in die Originalpublikation und Medienberichte. Bei einer sehr ähnlichen Veröffentlichung zu den Risiken von Alkohol im Lancet im selben Jahr musste die Redaktion hinterher einräumen, dass die absoluten Zahlen vergessen wurden – und zwar im Widerstreit mit den eigenen Richtlinien! Das war allerdings nicht den wissenschaftlichen Fachleuten, sondern der Pressestelle der bedeutenden medizinischen Zeitschrift aufgefallen.

Das merkte beispielsweise "Statistik-Papst" Gerd Gigerenzer an, Professor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dieser Studie widmete er im August 2018 die Unstatistik des Monats.

Dabei besprach er absolute Zahlen: Demnach hatten bei den Abstinenzlern 914 von 100.000 ein Jahr später ein Gesundheitsproblem. Bei einem Standardglas pro Tag waren es 918 und bei zweien 977. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bei den mäßigen Alkoholkonsumenten über 99.000 von 100.000, also über 99 Prozent kein Gesundheitsproblem hatten.

Die Studie wurde und wird, wohlgemerkt, als Beleg dafür zitiert, dass es keinen risikolosen Alkoholkonsum gebe. Wenn man minimale Risiken einschließt, ist das zwar strenggenommen nicht falsch. Allerdings ist die Information ohne weitere Angaben irreführend, insbesondere mit Blick auf Gelegenheitstrinker. Ähnlich informativ könnte man auch in der Welt verbreiten: "Es gibt kein risikoloses Leben!"

Als die Zeit das Thema Anfang 2019 diskutierte, ließ sie immerhin David Spiegelhalter zu Wort kommen, Professor für Risikokommunikation an der Universität Cambridge.

Dieser errechnete aus den Ergebnissen, dass 25.000 Menschen pro Jahr 16 Flaschen Gin – das wäre ziemlich genau ein Standardglas am Tag – trinken müssten, damit ein einziger Mensch ein zusätzliches Gesundheitsproblem bekommt.

Vor- und Nachteile

Damit soll Alkohol natürlich nicht verharmlost werden. Immerhin handelt es sich bei der Substanz um ein Zellgift. Doch noch immer scheint Paracelsus damit recht zu haben, dass die Dosis das Gift macht. Und mit der Dosis ändern sich auch die psychologischen Effekte:

Irgendwann schlägt der sogenannte Erregungszustand mit – bei vielen Menschen – Heiterkeit, Offenheit sowie reduzierter Nervosität und Ängstlichkeit nämlich in den Rauschzustand um. Dieser bringt mehr Nachteile mit sich, die sich beispielsweise beim Steuern von Maschinen oder Fahrzeugen verheerend auswirken können.

Auf Dauer kommt dazu natürlich die Suchtproblematik. Einerseits kann die Gewöhnung an die Substanz dazu führen, dass man für denselben Effekt immer größere Mengen konsumieren muss, die dann mit einem größeren Risiko für Nebenwirkungen einhergehen.

Andererseits kann hier ein gefährlicher Lerneffekt entstehen, wenn man Alkohol zu lange als Bewältigungsstrategie verwendet: Wer etwa das Mittel nutzt, um mehr Anschluss an andere zu finden oder mit Stress umzugehen, lernt vielleicht auf Dauer, es ohne diese Hilfe nicht mehr zu schaffen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat erst im März dieses Jahres einen neuen Bericht über Alkoholabhängigkeit herausgegeben. Demnach gelten bei Frauen bis zu einem und bei Männern bis zu zwei Standardgläser pro Tag als "risikoarmer Konsum".

Dabei soll aber an zwei Tagen pro Woche gar kein Alkohol getrunken werden. Mit dieser Obergrenze kommen laut dem Bericht über 80 Prozent der Deutschen zurecht.