Wie steht es um die Kriegstüchtigkeit der Ukraine?

Seite 2: Nur Zerstörung, keine "Game-Changer"

Dazu kommen wahrscheinlich, wenn auch kaum belastbare Zahlen vorliegen, Hunderttausende tote und verletzte ukrainische Soldaten, während die Wirtschaft darniederliegt, die Kriegsschulden für den Wiederaufbau sich auf mehr als eine halbe Billion Dollar türmen und die Bevölkerung überaltert, schwindet oder verwundet ist.

Wirtschaftlich, ökonomisch sowie demografisch kann die Ukraine, auch mit westlicher Unterstützung, auf lange Sicht wohl nicht mit Russland mithalten – was sich letztlich im militärischen Ungleichgewicht zeigt.

Seit zwei Jahren werden immer schwerere, modernere Waffensysteme von den USA und Europa geliefert, doch keines hat sich als "Game-Changer" erwiesen, als der es gepriesen wurde. Kampfpanzer, Kampfjets, Luftabwehrsysteme, ATACMS-Raketen – auf all das haben sich die russischen Streitkräfte eingestellt und erfolgreich dagegen gehalten.

Auch die in einigen Wochen erwarteten F-16-Kampfjets aus US-amerikanischer Produktion werden nicht die Wende bringen. Analysten in der Ukraine und in westlichen Staaten bringen ihren Wert so auf den Punkt: zu wenige (insgesamt nur 85 bis 2028 gegenüber 300 russischen Flugzeugen), nur elementares, schleppendes Pilotentraining, kaum wirkliche Einsatzfähigkeit, da keine Stationierung in der Ukraine wegen russischer Angriffe möglich ist (sie werden fast alle in Nachbarländern wie Polen stationiert), kurze Reichweite der Raketen usw.

Die Sache mit den Soldaten-Rekrutierungen

Auch der personelle Engpass ist kaum überwindbar. Die Ukraine hat Schwierigkeiten, neue Soldaten zu rekrutieren. Im April dieses Jahres senkte die Ukraine das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 Jahre. Damit sollen die dezimierten Streitkräfte wieder aufgefüllt werden.

Doch diese Maßnahme ist in der Ukraine sehr unpopulär und könnte der ukrainischen Regierung auf die Füße fallen in Form schwindender Kampfmoral und politischer Unterstützung.

Der Grund für die weitere Verschärfung der ukrainischen Einberufungspraxis: Vor dem Hintergrund von Rückschlägen im Zuge von russischen Vormärschen und des Abnutzungskriegs mit hohen Verlusten und vielen Verletzten entziehen sich Ukrainer zunehmend dem Dienst an der Waffe.

Eine Umfrage der ukrainischen Forschungsagentur InfoSapiens ergab, dass nur 35 Prozent der Männer, die noch nicht kämpfen, bereit sind, zu dienen. Das ukrainische Militär musste daher zu immer härteren Maßnahmen greifen, um sicherzustellen, dass es noch fähige Soldaten an der Front gibt.

Die Stunde der Hardliner im Westen

18- bis 60-Jährige dürfen das Land nun nicht mehr verlassen und müssen, wenn sie im Ausland sind, ihre Personaldokumente in der Ukraine erneuern lassen.

Harsch vorgehende Militär-Anwerber haben gleichzeitig damit begonnen, Männer im wehrpflichtigen Alter von Veranstaltungen wie Hochzeiten und auf der Straße aufzufangen. Das führt dazu, dass Männer sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um nicht einberufen zu werden.

In Polen oder Deutschland fordern Politiker und Staatsbeamte wie der Innenminister Bayerns, Joachim Herrmann von der CSU, sogar populistisch, Druck auf die Flüchtlinge zu machen, z.B. ihnen das Bürgergeld zu entziehen, um sie zur Rückkehr in die Ukraine und zum Kriegsdienst zu bewegen. So viel dazu, dass die Ukrainer selber entscheiden, ob sie gegen Russland kämpfen wollen – und der Westen sie nur dabei unterstützt.

Das Schlachtfeld und die Verhandlungen

Es ist sicherlich so, wie Anatol Lieven vom Quincy Institute in den USA sagt: Die Friedensverhandlungen am Ende des Ukraine-Kriegs werden von der dann bestehenden Situation auf dem Schlachtfeld definiert.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Forderung der Ukraine nach einem vollständigen russischen Rückzug als Vorbedingung für Gespräche völlig unmöglich. Sie würde die totale Niederlage des russischen Militärs erfordern, was die Kapazitäten der Ukraine derzeit und in absehbarer Zeit bei weitem übersteigt.

Sollte die Ukraine die derzeitige Frontlinie halten können, dann werde diese Linie zur Trennlinie zwischen Russland und der Ukraine bei Verhandlungen werden, so Lieven. Sollte Kiew jedoch weiter Territorium verlieren, würden "künftige Generationen von Ukrainern" es vielleicht bedauern, "dass Kiew Putins Vorschlag nicht zumindest als Ausgangspunkt für Verhandlungen und diplomatischen Gesprächen betrachtet hat".

Lieven spielt damit auf eine Erklärung des russischen Präsidenten an, die er in Reaktion auf den "Friedensgipfel" in der Schweiz machte. Er sagte, dass Russland seine Militäroperationen stoppen würde, wenn die Ukraine ihre Truppen zurückziehen würde.

Für einen Friedensplan müsste die Ukraine jedoch die russische Souveränität über die vier Provinzen und die Krim anerkennen und ihre Neutralität erklären, fuhr Putin fort. Was von der Ukraine und dem Westen umgehend zurückgewiesen wurde.

Ein Krieg, der nicht kriegerisch beendet werden kann

Kiew verfügt heute dank der Hilfspakete über ein jährliches Budget von rund 90 Milliarden Euro, moderne Waffensysteme, Training und Beratung von westlichen Militärs usw. Außer den USA, China und Russland gibt es kein Land, das über mehr Finanzpower in Sachen Militär verfügt. (Die Kriegstüchtigkeit der Ukraine ist in den letzten beiden Jahren sprunghaft nach oben katapultiert worden. Die militärischen Ausgaben lagen in den Jahren zuvor, seit Ausbruch des Konflikts 2014, bei knapp vier bis sieben Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Russlands Militärbudgets umfassten in dieser Zeit zwischen 61 und 88 Milliarden Dollar.)

Ob das über weitere Jahre aufrechterhalten werden kann, ganz zu schweigen davon, ob das angesichts der enormen Schädigungen (auch den Weltfrieden, Welthandel und das Weltklima betreffend, das sich durch Kriege immer weiter aufheizt) wirklich alternativlos ist (letztlich geht es territorial um rund 18 Prozent der Ukraine, die heute sehr kriegszerstört sind), ist mehr als zweifelhaft.

Selbst wenn die Mittel weiter über Jahre aufgebracht werden können, ist Russland damit nicht zu besiegen, wie von Analysten immer wieder betont wird – was auch die letzten beiden Jahre zeigen. Moskau zieht einfach nach oder präziser: rüstet noch weiter auf, um die Gegenseite unter Druck zu setzen. Der Krieg ist militärisch auch mit noch so viel Kriegstüchtigkeit der Ukraine nicht zu beenden.

Der Glaube, dass für Russland irgendwann die Kosten zu hoch werden und man schlicht die Fahnen streicht, ist ein westlicher Wunschtraum. Vielmehr besteht die Gefahr, dass den politisch Verantwortlichen in den USA und den EU-Staaten mit dem endlosen Abnutzungskrieg irgendwann die öffentliche Unterstützung für die vielen Milliarden abhandenkommt und die Luft ausgeht.

Bei einem schleichenden Kriegsende ohne Sieg könnte für die Ukrainer, die für die USA vor allem von geostrategischem Interesse in Bezug auf Russland sind, das große Erwachen kommen. Die Afghanen, Iraker, Vietnamesen können ein Lied davon singen.

Ob dann die "solidarische EU" den riesigen Brocken Schuldenberg und Wiederaufbau schultern wird, um die Ukraine zumindest wieder an das Vorkriegsniveau heranzubringen, wäre sehr zu wünschen, aber darf bezweifelt werden – siehe Balkan.