Wie unterrichtet man "tickende Zeitbomben"?

..ohne in einem saudischen Gefängnis zu landen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kaum ein arabisches Land, das dem westlichen Nachrichtenleser mehr Rätsel aufgibt als Saudi-Arabien. Seit einigen Jahren fällt die große politische Image-Phrase des Nahen Ostens - "Reformprozess" - bei jedem Interview, bei jeder Rede eines saudischen Repräsentanten, zwangsläufig, selbstverständlich, notorisch aufgeladen mit der nötigen Emphase, die keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der bereits eingeleiteten Reformschritte aufkommen lassen soll. Doch kaum einer im Westen weiß, wie ernst es den Herrschern damit wirklich ist und noch weniger weiß man hier darüber, auf welchen Geist die Reform-Appelle bei denen treffen, die einen beachtlichen Einfluss auf die junge Generation der Saudis ("ticking time-bombs") haben, Lehrer und Mitschüler.

Auch das gehört zu den Rätseln aus dem "großen, verbotenen Land" (John R.Bradley): Nachrichten über dort begangene Verbrechen und Untaten werden traditionellerweise nicht nach außen gegeben (eine Ausnahme bilden terroristische Anschläge, aber auch erst seit einiger Zeit), Nachrichten über drakonische Strafen, die wegen krimineller Akte verhängt wurden, dagegen öfter. Berichte über Kriminalität schaden dem Image; Berichte über Strafen, mit denen die verbrecherischen Akte geahndet werden, scheinen dieser Informationspolitik zufolge das Image des Landes eher zu fördern - aus Abschreckungsgründen könnte man spekulieren. Inwieweit dies auch auf eine Meldung zutrifft, die Anfang dieser Woche in der online-Ausgabe der liberalen saudi-arabischen Zeitung "arabnews" (heute, Mittwoch, 16.Nov., aus unerfindlichen Gründen nicht erreichbar) veröffentlicht wurde, sei dem Leser überlassen.

750 Peitschenhiebe

Der Lehrer einer saudischen High-School, Muhammad al-Harbi, ist laut dieser arabnews-Meldung am vergangenen Samstag zu 3 Jahren Gefängnis und 750 Peitschenhieben - 50 pro Woche, 15 Wochen lang! - verurteilt worden. Die Anlagepunkte: Spott über die ortsansässige Religion ("mocking Islam"), geäußertes Wohlwollen gegenüber benachbarten Religionen ("favoring Jews and Christians"), darüberhinaus soll al-Harbi seine Schüler von rituellen Waschungen abgehalten haben. Der letzte Anklagepunkt wirft dem Chemielehrer vor, dass er sich mit dem Studium der Hexerei und Zauberei ("studying witchcraft") beschäftigt habe.

Mit der Aufzählung der nicht unvertrauten Anklageformeln, mit denen missliebige Abweichler in Gerichtsprozessen in streng islamischen Ländern öfter angeklagt werden, an deren erster Stelle immer der Angriff auf die Religion steht (man denke nur an die Prozesse, die im Iran gegen Regime-kritische Journalisten geführt werden), begnügt sich denn auch mancher Bericht von regionalen Zeitungen. Anders die Meldung der arabnews, die den Lehrer al-Harbi zu Wort kommen lässt.

Er empfinde die Strafe als äußerst grausam, so al-Harbi in seiner Darstellung. Die Klage sei vor anderthalb Jahren von Studenten eingereicht worden, die bei einer monatlichen Prüfung in Chemie durchgefallen seien, deren Forderung nach Wiederholung des Tests er nicht befolgt habe. Zur Klage ermuntert worden, seien sie von Islamic-Studies-Lehrern der High-School, deren Argwohn gegen ihn schon seit mehreren Jahren gäre. Al-Harbi war nach seiner Anstellung in der Schule vor fünf Jahren aufgrund seiner Kompetenzen zum "School Activites Organizer" ernannt worden.

"Nichts gegen einen Muslim, egal was er getan hat"

Als im Mai 2003 Selbstmordattentäter Anschläge auf die al-Hamra-Residenz, in der viele amerikanische "Expats" untergebracht waren, in Riad verübten (26 Tote), fühlte sich der Lehrer dazu verpflichtet, seine Studenten "über Terrorismus und dessen Folgen" aufzuklären. Er sprach mit ihnen über das Thema, ließ Anti-Terrorismus-Plakate in der Schule aufhängen, kopierte einen kritischen Artikel eines saudischen Kolumnisten über Terroristen und Extremisten und brachte ihn am schwarzen Brett der Schule an.

Allesamt Aktionen, die vorweg nahmen, was das saudische Erziehungsministerium später - vielleicht weil zunehmend mehr Saudis unter den Opfern derartiger Anschläge zu finden waren - als pädagogische Maxime öffentlich propagierte. Der Artikel war schon anderntags zerrissen, die Schüler von al-Harbi bekamen zuhause Besuch von al-Harbis Lehrerkollegen aus dem Fachbereich "Islamic Studies" und wurden von ihnen zum "Ungehorsam" gegenüber al-Harbi angeleitet. Dass al-Harbi es wagte in seinen aufhellenden Reden gegen den Terrorismus auch Abdul Asis Al-Muqrin, der auf der Liste der meist gesuchten Terroristen des Landes einen oberen Rang einnahm, kritisch zu beleuchten, war für einen Kollegen zuviel: Man dürfe nicht gegen einen Muslim sprechen, egal was er getan habe. Der Ärger über al-Harbi wurde vor Gericht gebracht.

Wohin bewegt sich die Jugend?

Erstaunlich, so der Anwalt von al-Harbi, sei, dass das Gericht, das überdies für religiöse Angelegenheiten, die ja ein Hauptpunkt der Anklage darstellen, nicht die Zuständigkeit habe, keinen anderen aus der Schule befragt habe ausser den Studenten und Lehrern, welche die Klage eingereicht haben. Manche Anklagepunkte würden sich ohnehin von selbst erledigen, z.B. derjenige, dass sich al-Harbi, über bärtige Männer lustig gemacht habe und dadurch auch über die Religion - al-Harbi trage nämlich selbst einen Bart.

Die große unbeantwortete Frage, die John R.Bradley, der sich als große Ausnahme unter westlichen Journalisten mehr als zwei Jahre lang frei in Saudi-Arabien bewegen konnte, in seinem Buch "Saudi Arabia Exposed" stellt, lautet: Welcher Strömung wird sich die Jugend, eine "tickende Zeitbombe" mit einem Bevölkerungsanteil von 60 Prozent, anschließen? Der Herrschaft der Königsfamilie mit ihren lansamen Reformschritten, den radikalen Kräften, welche die dekadenten Royals loswerden wollen oder den wenigen Liberalen, die schnellere Reformen wollen, als die al-Sauds erlauben? Für viel zu viele Jugendliche sei die Antwort seiner Erfahrung nach nicht eindeutig und für viel zu viele würde sie eindeutig zugunsten der Radikalen ausfallen. Wer mehr über die Haltung ihrer Lehrer erfahren will, kann sich darüber fast wöchentlich in einem kurzen Artikel in arabnews informieren oder beim "Religionspolizisten".