Wie von der Rakete getroffen: Medien im Mobilisierungs-Modus
Seite 2: Zurückrudern fällt schwer
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Dies ist medienkritisch auch deshalb bemerkenswert, weil ja im Sinne des "Alarm", der Aufmerksamkeit, der negativen News, hier objektivierend gesehen auch im Rückwärtsgang sehr viel Reichweite zu erzielen gewesen wäre: Bad News von der anderen Seite - der Partner des Westens, die Ukraine, scheint (mit oder ohne Absicht) eine Rakete auf das Nato-Land Polen gefeuert zu haben, wobei es Tote gab.
Ist jetzt die militärische Allianz gegen Russland infragestellt? Kann diese Ukraine jemals Teil des Westens werden? Wichtige Fragen! Aber sie wurden zunächst kaum oder gar nicht gestellt.
Auch hier lässt sich, wenn eben von anderer Seite, ein sehr ausgeprägter "Nachrichtenwert" rekonstruieren, nicht zuletzt auf Basis des Nachrichtenfaktors "Negativismus" (Wer hätte so etwas der ukrainischen Seite zugetraut, samt deren weiter andauernder konkreter Schuldzuweisung an die russische Seite?). Doch diese gegenläufige Version zur ursprünglichen hatte es leitmedial hierzulande wesentlich schwerer.
Noch am Mittwochmittag machte die vielgenutzte Nachrichten-App der Tagesschau auf mit der Schlagzeile: "Rakete wohl aus Ukraine abgefeuert".
Bemerkenswert, dass es hier trotz längst relativ klarer Quellenlage nicht zuletzt aus Sicht der US-Regierung weiterhin nicht hieß: "Rakete wohl von Ukraine abgefeuert" oder "Rakete wohl von ukrainischer Seite abgefeuert".
Die weiterhin hochgehaltene Formulierung "aus Ukraine abgefeuert" ist erstaunlich unpräzise, schaut man sich im Unterschied die klaren (wenn auch offenbar hochspekulativen) konkreten Schuldzuweisungen für genau diesen Einschlag gegenüber der russischen Seite vom Vorabend an.
Außerdem erscheint die Formulierung ziemlich sinnfrei tautologisch, denn rein geographisch gesehen kam wohl kein anderes Gebiet als die Ukraine (samt der russisch besetzten Gebiete) infrage für die Herkunft dieser Rakete. Fragt sich, warum also die Relativierung (das "Zurückrudern") so spät und so langsam erfolgte?
Dass und warum diese alternative Version relativ langsam "ausgespielt" wurde, lässt sich am ehesten erklären mit der Einseitigkeit des hierzulande herrschenden Narrativs: Die Ukraine und der mit ihr verbündete Westen kämpften (als "die Guten") gegen Russland (und China als "die Bösen").
Einzelne Ereignisse, wie wichtig und einschneidend sie auch sein mögen, die jener umfassenden Rahmen-Erzählung nicht komplett entsprechen oder sogar widersprechen, haben es schwerer, massenmedial thematisiert und vermittelt zu werden.
Führende Repräsentanten der westlichen Welt wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatten dann am Ende dieses langen und ja durchaus irritierenden Nachrichtentages auch schnell wieder ihre Fassung gefunden: Weil Russland im Februar diesen Angriffskrieg begonnen hat, sei die russische Seite nun auch für diesen konkreten Raketen-Einschlag mit zwei toten Menschen in Polen verantwortlich.
Was die konkrete Rakete angehe: Die sei jedenfalls unbeabsichtigt nach Polen gelangt. Und viele etablierte Medien hierzulande übernahmen wiederum ziemlich schnell und explizit diese Deutungen - die, wenig überraschend, auf neue Weise dem herrschenden Narrativ entsprechen sollten.
Doch sind auch nach derartigen Erfahrungen gesellschaftliche Lernprozesse nicht auszuschließen. Ganz ähnlich, wie es Bertolt Brecht in seinem Stück über Galileo Galilei formulierte: Dort, wo lange Zeit der Glaube an das Gute usw. saß, ebenda mag jetzt der Zweifel als soziale Produktivkraft sitzen und wachsen.