Wie von der Rakete getroffen: Medien im Mobilisierungs-Modus

Screenshot Focus, 15. November

"Nur sehr schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten" - exemplarisch bekannte und neue Tendenzen in der Berichterstattung zur Raketen-Krise in Polen.

Dass Medien im Krisen-Falle ihre Aktivitäten erhöhen, um noch mehr Aufmerksamkeit zu erfahren und zu erzielen, ist kein neuer Befund. Im Zuge der aktuellen Raketen-Krise in Polen nahe der Grenze zur Ukraine lassen sich exemplarisch bekannte und neue Tendenzen medienkritisch diskutieren.

Hier soll es um die drei Aspekte der Eskalation, der Wirksamkeit des Nachrichtenfaktors "Negativismus" und einer immer problematischer werdenden Einseitigkeit der Krisen- und Kriegsberichterstattung gerade seitens vieler etablierter Medien hierzulande gehen.

Am Dienstagabend war in vielen Leitmedien in Deutschland eine ausgeprägte Alarm-Stimmung zu beobachten. Es wurde der Einschlag zweier Raketen in einem polnischen Dorf wenige Kilometer entfernt von der Ukraine gemeldet, mit zwei Todesopfern.

Aber nicht nur das. Es gab vielerorts ein rasches "Vorpreschen" in eine ganz bestimmte Richtung: Diese Raketen seien "russische Raketen".

Immer wieder wurde der Nato-Bündnisfall angesprochen und damit die Anspannung auf- und ausgebaut, inwiefern ein 3. Weltkrieg kurz bevorstehe. Im Sinne der den Medien als Waren innewohnenden Aufmerksamkeitsökonomie nicht überraschend, dass hier auf Angebots-Seite ziemlich handfeste wirtschaftliche Interessen an Eskalation in vieler Hinsicht wirken – die aktuelle Unsicherheit und das akute Orientierungsbedürfnis der Publika können, so betrachtet, gar nicht groß genug sein: "Only very bad news are good news." ("Nur sehr schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.")

Hier Beispiele aus Medien wie n-tv und Focus per Screenshot dokumentiert:

Screenshot n-tv, 15. November, 19:43
Screenshot Focus, 15. November

Dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij und seinem Außenminister Dmytro Kuleba wurde in Formaten wie den ARD-Tagesthemen an prominenter Stelle erneut viel Zeit und Raum gegeben, um ihre sehr deutlichen Vorwürfe zu äußern: Hier handele es sich um ein weiteres Kriegsverbrechen der russischen Seite (O-Ton Selenskiy ab 2:13).

Negativismus und Vorpreschen

Der sogenannte Nato-"Bündnisfall" schien kurz bevorzustehen. Die so dargestellte Nachrichtenlage war beispielhaft geprägt durch einen ganz bestimmten Nachrichtenfaktor: Negativismus.

Dieser scheint, seit er im Jahre 1965 von den norwegischen Friedens- und Konfliktforschern Mari Holmboe Ruge und Johan Galtung erstmals systematisch beschrieben wurde, als von ihnen sogenannter "kulturspezifischer Faktor" vor allem in der westlichen Welt, im "globalen Norden", ein sehr wichtiger, wenn nicht der wichtigste Nachrichtenfaktor zu sein.

Je mehr er ausgeprägt ist oder sich ausprägen lässt – je nach erkenntnistheoretischem Modell: 1.) in außermedialer Realität, 2.) in redaktionellen Routinen oder 3.) in journalistischen Beiträgen –, desto höher der "Nachrichtenwert" der jeweiligen, nun ja, "Story".

Diesen Begriff des "news value", der Publikationswürdigkeit oder auch -wahrscheinlichkeit, hatte der US-Auftragskommunikations-Experte Walter Lippmann vor genau 100 Jahren erstmals skizziert, im Jahr 1922. Dimensionen dieses Negativismus sind Aspekte wie Krankheit, Katastrophe, Krise, Konflikt oder eben Krieg.

Was am Abend des Raketen-Einschlages in Polen erklärbar werden ließ, dass und warum viele Medien sich diesem Thema ausführlich und aufgeregt/aufregend widmeten. Noch mitten in der Nacht hieß es bei tagesschau.de:

Screenshot Tagesschau

Während das "Vorpreschen" in Richtung "russische Rakete(-n)" also sehr schnell erfolgte, ging ein "Zurückrudern", wenn überhaupt, wesentlich langsamer vonstatten.