Wie wird Deutschland weniger?

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hält die demografischen Strategien der Politik für "unzureichend" und stellt ein eigenes Konzept zur Diskussion

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Die Prognosen sind düster: bis 2050 sinkt Deutschlands Einwohnerzahl von 81,8 auf 73,6 Millionen Menschen. Währenddessen steigt die durchschnittliche Lebenserwartung noch einmal um mehr als fünf Jahre, sodass über 10 Millionen Menschen 80 Jahre oder älter sind. Auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen etwa 60 Personen im Rentenalter – doppelt so viele wie heute.

Die Zahlenspiele ließen sich mühelos fortsetzen, bis zum vermutlichen Mehr an Demenzkranken und zum schätzungsweisen Weniger an Neugeburten. Dass die Kalkulationen am Ende der gesellschaftlichen Realität des Jahres 2050 entsprechen, ist unwahrscheinlich, denn in der Zwischenzeit können unvorhersehbare Faktoren den Lauf der Geschichte beeinträchtigen oder völlig verändern. Aber erzählen die Prognosen und Modellrechnungen deshalb einfach nur eine "Legende vom Ende der Sozialsysteme in einer alternden Gesellschaft"?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist mindestens davon auszugehen, dass die demografische Entwicklung Deutschland vor eine der größeren Aufgaben der kommenden Jahrzehnte stellen wird. Trotzdem spielt das komplexe Thema im laufenden Bundestagswahlkampf keine ernsthafte Rolle. Sehr zum Ärger des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

Demografie taugt kaum als Wahlkampfthema. Das ist bedauerlich. Denn kein Thema wird unser Land mehr verändern als das Altern und Schrumpfen der Bevölkerung, das über die nächsten Jahrzehnte ansteht. Die große Frage dabei ist: Wie lässt sich eine Gesellschaft organisieren, in der der Staat nach einer gefühlten Ewigkeit des Wachstums immer weniger an jeden Einzelnen verteilen kann? Dafür haben weder die Bundesregierung noch die Opposition bisher eine klare Strategie.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Keine langfristigen Planungen

Nach Auffassung des Instituts fehlt es den politischen Akteuren, allen voran der Bundesregierung, sowohl an Ehrlichkeit als auch an langfristigen Planungen. Tatsächlich taucht der demografische Wandel in allen Wahlprogrammen auf, wird zumeist aber nur kursorisch erwähnt.

Die SPD versteigt sich zu der fast schon philosophischen Feststellung "Der demografische Wandel löst die Arbeitsmarktprobleme nicht von alleine", während die Union bereits die Absatzkanäle der Zukunft im Auge hat: "Unser Land kann deshalb bei der Bewältigung des demografischen Wandels Vorreiter sein und sich durch frühzeitige Weichenstellungen einen Vorsprung auf den entsprechenden Märkten sichern." Derweil gibt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel im Interview mit dem Deutschen Führungskräfteverband wieder einmal staatsmännisch: "Die Folgen der Bevölkerungsentwicklung müssen in ihrer ganzen Breite in den Blick genommen werden."

Bündnis 90/Die Grünen kommt zu der bahnbrechenden Erkenntnis: "Der demografische Wandel ist auch eine große wirtschaftliche Herausforderung", während die LINKE ebenso messerscharf analysiert: "Der demografische Wandel verschärft die finanzielle Lage der Kommunen." Ungewöhnlich konkret wird es im "Bürgerprogramm" der Liberalen, die "vor dem Hintergrund des Demographischen Wandels" in einer allerdings noch unbestimmten Zukunft "bedarfsorientierten Wohnraum durch Umbau im Bestand und durch Neubau gleichermaßen" schaffen wollen.

Die Piraten plädieren in Regionen "mit demografisch kritischen Prognosen" für "innovative Formen des sozialen Miteinanders" – also für mehr Gemeinschaftszentren. Sie begründen ihre Forderung mit dem ebenso schönen wie unschlagbar wahren Satz: "Weder für Muße, noch für Freiraum braucht man eine Rechtfertigung."

Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts, sieht in diesen Gemeinplätzen den mehr oder minder systematischen Versuch, dem Wahlvolk eine Bestandsaufnahme zu verweigern, die schon jetzt die Notwendigkeit von radikalen Kurswechseln und tiefen Einschnitten in lieb gewordene Gewohnheiten deutlich machen könnte. Kritik übt er insbesondere an der wortreichen, aber wenig konkreten und zeitlich limitierten Demografiestrategie der Bundesregierung.

Die Bevölkerungsentwicklung hält unbequeme Wahrheiten bereit. Aber weder Regierung noch Opposition machen dies im Wahlkampf offen zum Thema. Die Demografiestrategie der Bundesregierung klammert die wichtigsten Baustellen des demografischen Wandels aus und endet zudem im Jahr 2030 – dann, wenn die Alterung ihren größten Einfluss auf die Gesellschaft ausüben wird.

Reiner Klingholz

Familienpolitik und Fachkräftesicherung

Den Vorwurf, die Politik biete ihren Bürgern kein klares, effizientes und nachhaltiges Konzept zu einem der mutmaßlich wichtigsten Probleme des 21. Jahrhunderts, erläutern die Forscher durch eine Analyse der Aufgabenfelder Familienpolitik, Fachkräftesicherung, Sozialsysteme und Regionalpolitik.

Die Familienpolitik der Bundesregierung hält das Institut für "teuer, ineffizient und ohne klares Ziel", weil trotz zahlreicher Einzelmaßnahmen die Menschen, die für Kinder oder Pflegebedürftige Verantwortung übernehmen, noch immer nicht ausreichend unterstützt würden. Die Gegenvorschläge, die beispielsweise die Streichung des Ehegattensplittings zugunsten eines Fürsorgesplittings, eine "qualitativ hochwertige Betreuungsinfrastruktur" und flexible Arbeitszeiten vorsehen, deuten in Richtung einer grundlegenden Reform der deutschen Familienpolitik, die zu einem wesentlichen Teil über Geldleistungen funktioniert.

Geldleistungen für Familien sind wichtig. Wichtiger noch sind aber Investitionen in die Rahmenbedingungen für Familien, wie Kindergärten oder Ganztagsschulen. Sie sorgen dafür, dass viele Kosten und Nachteile für diejenigen, die gesellschaftlich relevante Aufgaben übernehmen, gar nicht erst entstehen. Deutschland erbringt jedoch etwa drei Viertel der jährlichen familienbezogenen Ausgaben in Höhe von etwa 125 Milliarden Euro als Geldleistungen oder in Form von Steuervorteilen.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Auch im Bereich der Fachkräftesicherung ist die Politik trotz gebetsmühlenartiger Vorträge von allen Seiten offenbar nur bedingt auf die Herausforderungen der näheren Zukunft vorbereitet. Noch immer habe die Heranziehung der "stillen Reserve" (Arbeitslose, Frauen und ältere Menschen) Vorrang vor der Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern. Das Institut plädiert deshalb entschieden für eine Förderung der EU-Einwanderung, aber auch für die gesetzliche Erleichterung der nicht EU-Einwanderung, also alles in allem für eine erkennbare Lockerung der rigiden Einwanderungs- und Aufenthaltspraxis.

Deutschland müsse als "Wanderungsziel" attraktiv präsentiert und vermarktet werden – entsprechende Starthilfen inklusive.

Die Sozialsysteme

"Die Rente ist sicher", behauptete ein populärer Arbeits- und Sozialminister, doch das Berlin-Institut hält das Rentensystem und mit ihm die Pensions- und Gesundheitssysteme für "keinesfalls demografiefest". Immerhin sei es möglich bis wahrscheinlich, dass sich die öffentlichen Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung und Beamtenversorgung sowie für die die Kranken- und Pflegeversicherung bis 2060 verdoppeln. Die Bundesregierung habe sich in diesen Bereichen zum "Nachhaltigkeitsfaktor" und zur "Rente mit 67" bekannt, andere Maßnahmen – wie etwa die Praxisgebühr – aber wieder fallenlassen.

Gerade in einem so schwierig zu reformierenden Bereich wie dem Gesundheitswesen, in dem viele unterschiedliche Interessen von Ärzten, Krankenkassen und Versicherten berücksichtigt werden müssen, wäre jedoch ein langfristiger Fahrplan dringend erforderlich. Die Demografiestrategie der Bundesregierung hätte hier einen angemessenen Rahmen geben können, die langfristigen Ziele und das geplante Vorgehen in den Sozialsystemen abzustecken. Diese Möglichkeit wurde jedoch versäumt – oder gar bewusst ausgelassen, um Konflikten in Vorwahlzeiten aus dem Weg zu gehen.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Die Alternativvorschläge des Instituts dürften in Vorwahlzeiten – bei Regierungs- und Oppositionsanhängern - freilich auch wenig populär sein. Plädiert ihr Diskussionspapier doch für die Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung, eine verpflichtende private und betriebliche Zusatz-Altersvorsorge oder die prophylaktische Rücknahme der Rentengarantie.

Zwergschulen, Bürgertaxis und Gemeindeschwestern

Gänzlich untauglich für Wahl-, Regierungs- und Bürgerprogramme sind die Institutsideen zum Umgang mit den ländlichen Regionen, die "nach demografischen, wirtschaftlichen und siedlungsstrukturellen Kriterien analysiert und kategorisiert" werden sollen, um ihre Zukunftsfähigkeit genauer einschätzen zu können.

Kleinteiligen kommunalen Strukturen, wie sie vor allem in Thüringen und Rheinland-Pfalz anzutreffen sind, schlagen die Forscher die Bildung von Großgemeinden vor. Insgesamt plädieren sie für mehr Flexibilität und Handlungsspielräume – beim zuständigen Gesetzgeber und direkt vor Ort.

Starre Vorgaben für bestimmte technische Lösungen, etwa zentrale Kläranlagen bei der Abwasserversorgung oder Normgrößen für die Kinderzahlen von Schulen, sollten aufgegeben werden, um innovative und kostensparende Lösungen zu ermöglichen.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

"Innovative Versorgungsformen", die bislang aufgrund der gesetzlichen Vorgaben nicht realisiert werden könnten, würden dann eben Zwergschulen, Bürgertaxis oder Gemeindeschwestern auf den Plan rufen. Nach Meinung von Reiner Klingholz fehlen aber auch in diesem Bereich langfristige Planungen und der Mut, den Wählern das Offenkundige und Unvermeidliche mitzuteilen.

Wo die Bevölkerung deutlich geschrumpft ist, lässt sich die gewohnte Versorgung schon heute nicht mehr garantieren. Die Politik muss sich daher ehrlicherweise vom Primat gleichwertiger Lebensverhältnisse verabschieden. Sie muss einen Ordnungsrahmen für das Kleinwerden, mancherorts sogar für den geordneten Rückzug schaffen.

Reiner Klingholz

Thema auf Abruf

Das "Discussion Paper" eines Instituts, dessen Berechnungen in der Vergangenheit auch schon hier und da angezweifelt wurden, ist kaum geeignet, die programmatische Tretmühle der Parteien unbeschadet zu überstehen. Manche Forderungen dürften dem Praxistext ohnehin kaum standhalten.

Wenn die Idee einer "Rente mit 67" 2013 nicht funktioniert, steht es um die "Rente mit 72 oder 73" im Jahr 2050 (Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung) vermutlich nicht viel besser. Ähnliches könnte – im Zeitalter von Minijobs und Billiglöhnen allein mangels finanzieller Möglichkeiten – für eine verpflichtende ergänzende Vorsorge zur gesetzlichen Rentenversicherung gelten. Auch die Schlagzeilen zur aktuellen Veröffentlichung, die damit drohen, dass der "Niedergang vieler deutscher Regionen nicht zu stoppen" sei, sind nicht unbedingt dazu angetan, die vorurteilsfreie Diskussion über ein langfristiges, interessenausgleichendes Gesamtkonzept zu fördern, die doch dringend erforderlich wäre.

Immerhin dürfte der demografische Wandel zu den Themen gehören, die sich im Laufe der Zeit immer deutlicher und fast wie von selbst in die öffentliche Debatte schieben. Nicht ausgeschlossen, dass die Auseinandersetzung über zielführende Lösungsstrategien eines Tages tatsächlich eine Wahl entscheidet.