Wie wird eine postnationale und zugleich politische Bürgergesellschaft möglich?

Grundzüge eines europäischen Gesellschaftsmodells

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Wir leben zweifellos in einem anti-hierarchischen Zeitalter. Der Übergang von der traditionellen zur industriellen Gesellschaft ging einher mit einem Übergang von traditionellen (religiös begründeten) Hierarchien zu rational-bürokratischen Autoritäten. In den meisten Gesellschaften bedeutet dies im Kern, daß religiöse durch politische Autorität ersetzt wurde. Aber in dem Wertewandel, den wir nicht nur in den Gesellschaften des Westens zur Zeit erleben, geraten Begriffe wie „Autorität", „Zentralisierung" und „Größe" ganz allgemein unter Verdacht. Sie werden immer weniger akzeptiert. Jede stabile Kultur ist aber angewiesen auf ein Autoritätssystem.

Jedoch erzeugt der gegenwärtige Gesellschaftswandel eine Distanz gegenüber beidem: traditionellen Autoritäten und der Autorität des Staates. Darin drückt sich ein Verfall von Autoritätsvorstellungen im allgemeinen aus, ganz egal, ob diese kulturell, religiös oder staatlich begründet sind. Es schwindet der Glaube an hierarchische Institutionen. überall in den frühindustrialisierten Ländern sehen sich politische Führer einer schwindenden Zustimmung der Bevölkerung ausgesetzt, und zwar in einem Ausmaß, das in der Geschichte westlicher Demokratien nicht seinesgleichen kennt.

Dies ist allerdings nicht damit zu erklären, daß die Partei- und Regierungschefs heute weniger kompetent sind als die früherer Generationen. In diesem Zustimmungsverfall drückt sich vielmehr ein fundamentaler Wandel der Wert- und Wahrnehmungshaltungen aus: Es ist der Fokus auf Werte der individuellen Selbstentfaltung und Selbstverantwortlichkeit, der alle Hierarchieformen und ihre Repräsentanten, ganz unabhängig von ihren Leistungen und Fehlern, in Verruf gebracht hat. Wie Ronald Inglehart1 in seiner soeben vorgelegten vergleichenden Studie, die erstmals Daten aus 43 Ländern mit sehr unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und Modernisierungsgraden berücksichtigt, zeigt, ist die politische Öffentlichkeit in allen industriell hochentwickelten Ländern in einem Strukturwandel begriffen: überall wächst die Wahrscheinlichkeit, daß die Öffentlichkeit autonomer, politisch unkontrollierter, und zwar in einer Weise agiert, die genau umgekehrt politische Eliten herausfordert. Wenn man will, kann man sagen: Die Bürger werden aufmüpfiger mit der Folge, daß die Autorität und die Legitimität der Institutionen verfällt. Auf diese Weise verbinden und ergänzen sich zwei Entwicklungslinien, die sich scheinbar ausschließen: der Verfall der Autorität und die zunehmende Intervention der Bürger in die Politik.

In allen entwickelten Demokratien stagniert die Wahlbeteiligung oder fällt. Überall verlieren etablierte politische Parteien ihre Stammwählerschaft und ihre Mitglieder, teilweise in einem dramatischen Ausmaß. Wer aber aus diesen Befunden auf eine zunehmende politische Apathie schließt, verkennt die Entwicklung vollständig. Denn obwohl den alten politischen Oligarchien die Wähler und Mitglieder davonlaufen, ziehen sich diese nicht ins Private zurück, huldigen nicht einem politischen Fatalismus, sondern werden gleichzeitig aktiver als jemals zuvor, und zwar in einer weiten Spannbreite von Aktivitäten, die gerade umgekehrt Institutionen und Eliten kritisieren und herausfordern.

Überall gilt ein ähnlicher Befund: je mehr Ausbildung, desto aktiver in Öffentlichkeit und Politik. Überall gilt ebenfalls, daß jüngere Kohorten besser und länger ausgebildet sind und werden als ihre Eltern. Daraus folgt: In dem Maße, in dem die jüngeren, besser ausgebildeten Kohorten allmählich die älteren, weniger ausgebildeten verdrängen, ist damit zu rechnen, daß die Teilnahme an einem aktiven, selbstbestimmten Engagement wächst.

Viele verkennen also, daß mit dem Verfall traditionaler Sozialformen und –ordnungen, wie sie durch soziale Klassen, religiöse Gemeinschaften, die traditionale Familie vorgegeben wurden, keineswegs notwendigerweise Desintegration und Anomie um sich greifen. Vielmehr entsteht eine Ethik individueller Selbstentfaltung und Selbstverantwortung, die zu den machtvollsten Errungenschaften und Sinnquellen moderner Gesellschaften gehört. Das wählende, entscheidende, sich selbst inszenierende Individuum, das sich als Autor seines eigenen Lebens, Schöpfer seiner Identität versteht, ist die Leitfigur unserer Zeit. Für mehr und mehr Menschen wird ein „sozialer Fortschritt" daran gemessen, inwieweit Entfaltungschancen in den Wertbezügen und Dimensionen des „eigenen Lebens" dadurch ermöglicht werden. Helmut Klages macht am Beispiel gerade Deutschlands deutlich, daß es dieser viel verteufelte Individualismus ist – und nicht die traditionale Pflichtorientierung! – der einen bislang noch ungehobenen Schatz von Engagementbereitschaft, ein gewaltiges „soziales Kapital" verkörpert, das in unserer Gesellschaft schlummert. Dies gilt gleichermaßen für West- und Ostdeutschland.

Dieser Individualismus ist nicht zu verwechseln mit Konsumismus. Er ist zutiefst moralisch. Zugleich ist er auch auf sehr eigenwillige Weise sozial und politisch orientiert. In mancher Hinsicht leben wir in einer sehr viel moralischeren Zeit als in den 50er und 60er Jahren. Gerade junge Menschen haben oft heute sehr entschiedene moralische Vorstellungen für eine große Spannbreite von Themen; dazu gehören Fragen der Umweltzerstörung ebenso wie die hochsensiblen (hochexplosiven!) Fragen der Partnerschaft zwischen den Geschlechtern, auch die Fragen der Ernährung, der Menschenrechte, ethnischer Minderheiten und Armut überall auf der Welt. Gerade auch in dem Widerstand gegen existierende Institutionen und ihre Repräsentanten äußert sich dieses eigensinnig moralische Engagement der in vielem paradoxen ÈKinder der Freiheit", die ja Entbehrungen und Einbrüche an Sicherheit auf einem hohen Erwartungsniveau zu verkraften haben. Es äußert sich also gerade auch in dem Wegbleiben aus den politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen etc. Für viele Menschen, insbesondere jüngere, klingen die Argumente, daß wir einen Gemeinschaftssinn nach dem Muster alter Werte und Hierarchien wieder herstellen müssen zynisch, sentimental oder doppelmoralisch. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Alle Versuche, einen neuen Sinn für Gemeinschaft und Gemeinwohl zu stiften – also jene zivile Seele der europäischen Demokratie zu ermöglichen – müssen damit beginnen, den Grad der Diversität, des Skeptizismus und des Individualismus zu erkennen und anzuerkennen, die in unsere Zeit und Kultur eingeschrieben sind. Wiederum gilt der Refrain: Bürgerarbeit ist die institutionelle Antwort, ein entscheidender Vermittlungsschritt, der die entstandene anti-hierarchische, individualistische Kultur einbindet in neue, auf Eigensinn und Eigeninitiative gegründete soziale und politische Handlungs- und Arbeitszusammenhänge.

Die Markt- und Zivilgesellschaft, in der wir leben, ermutigt die einzelnen, ihre Interessen zu artikulieren und einen Sinn für ihre individuelle Besonderheit sowie für ihre Selbstverantwortlichkeit zu entwickeln. Jetzt, wo wir dieses Ziel so erfolgreich verwirklicht haben, wie das wohl kaum jemandem vor Augen stand, fehlen Institutionen, die es erlauben, diese hochgradig individualisierten Wünsche und Eigenarten sozial auszuhandeln und einzustimmen in die Bündelung und Etablierung politischer Interessen und Ziele.

Genau hierfür bietet das Modell Bürgerarbeit den Schlüssel. Es ermöglicht Individualismus in der Gestalt der Selbstorganisation, der Eigeninitiativen, experimentellen Politik, aber gleichzeitig in einer Form, die dies auf die Bedürfnisse und Anforderungen anderer – Mitarbeitender und Leistungsempfänger – einstimmt. In Experimenten der Bürgerarbeit können Modelle einer „aktiven Wohlfahrt" erprobt und umgesetzt werden, in der auch die Empfänger von Wohlfahrtsleistungen ermutigt werden, mehr Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. In diesen Modellen wird Wohlfahrt nicht mehr länger in einer Geldsumme gemessen oder als ein Leistungspaket angeboten. Statt dessen wird hier eine Philosophie erprobt, in der Wohlfahrt unauflöslich verbunden, gedacht und praktiziert wird mit der Erweiterung von Selbstkontrolle und Selbstvertrauen derjenigen, die diese Wohlfahrt empfangen. Auf diese Weise kann die individualistische Kultur ihre eigene Sozialethik entwickeln und erproben.

Transnationale Netzwerke und politische Entscheidung: Geteilte Risiken könnten eine machtvolle Grundlage politischer Gemeinschaftsbildung werden

Doch die Schlüsselfrage bleibt: Worin finden transnationale „Gemeinschaftsbindungen", die nicht mehr von dem Ort (Nachbarschaft) oder der Herkunft (Familie), der Nation (staatlich organisierte Solidarität der Bürger) getragen werden, ihre materielle Basis und Verbindlichkeit? Wie also werden zugleich postnational und kollektiv bindende Entscheidungen, das heißt: wie wird politisches Handeln im Zeitalter der Globalisierung möglich?

Die Antwort, die hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden kann, ist zunächst nicht normativ, sondern empirisch gemeint. Ich will versuchen, in einer kurzen Argumentationsskizze den Blick zu öffnen und zu schärfen für die Enträumlichung des sozialen und politischen Lebens und Handelns, die längst Alltag und normal geworden ist. Insbesondere die Informations- und Kommunikationstechnologie, die Integration des Fernsehens in den Wahrnehmungshorizont und in das Selbstbild der Menschen überall auf der Erde haben – wie Joshua Meyrowitz, Arjun Appadurai, Roland Robertson, David J. Elkins, Martin Albrow, John Eade und viele andere mehr in komplexen theoretischen und empirischen Studien gezeigt haben – dazu geführt, daß soziale Gemeinschaften und darauf aufbauendes politisches Handeln nicht mehr aus einem Ort heraus verstanden werden können. In der Debatte über kulturelle und politische Globalisierung zeichnet sich in diesem Sinne eine neue Große Erzählung über die Enträumlichung sozialer und politischer Organisationen und Identitäten ab.

Oft wird unterstellt, daß durch kulturelle Globalisierung lokale Gemeinschaften zerstört werden. Dabei wird aber Globalisierung als Watschenmann konstruiert, mit dem man keine Mühe der Widerlegung hat. Tatsächlich behauptet wird nämlich, daß der Ort kein abgegrenztes, abgrenzbares Kommunikationssystem mehr ist, wie er das einmal war. „Wir sind heute nicht mehr im selben Maße wie früher auf die lokale Verortung als Quelle von Information, Erfahrung, Unterhaltung, Sicherheitsgefühl und Verständnis angewiesen."2 Dies gilt umgekehrt auch für Gemeinschaftsbildung, soziale und politische Bewegung, die Entfernungen töten und Nähe herstellen können in Realzeit über Kontinente hinweg – ähnlich wie die global-lokal agierenden Konzerne.

Es geht also gar nicht um die Frage, ob Gemeinschaften verlorengehen oder wie sie gerettet werden können, sondern darum, daß Gemeinschaftsbildung im globalen Zeitalter von der Ortsgebundenheit „freigesetzt" worden ist. Der entscheidende Punkt ist: Soziale Nähe als die Voraussetzung gemeinsamen Lebens und politischen Handelns kann nicht mehr auf geographische Nähe zurückgeführt werden. Man spricht davon, daß das Erleben und Handeln der Menschen von einem „generalisierten Anderswo" her verstanden werden muß. Das heißt, die Personen, die wir als signifikante Andere erleben, beschränken sich nicht mehr auf diejenigen, die wir aus direkter Begegnung innerhalb einer lokalen Gemeinschaft kennen. Gerade auch Personen, oder manchmal auch medial konstruierte und reproduzierbare Homunkuli, dienen den Menschen als Spiegel des Selbst.

Netwar

Politischen Bewegungen eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten, z.B. die weltweiten Echoeffekte, einschließlich der durch sie erzielbaren Solidarisierung, zum Zentrum ihrer örtlichen Provokationen zu machen. So sind etwa die lokalen Gewaltaktionen der Zapatistas, einer mexikanischen Guerillabewegung der 90er Jahre, nicht an ihrer physischen Aktion vor Ort zu verstehen, sondern nur dann, wenn man diese als Mittel zum Zweck der Erzeugung weltweiter Aufmerksamkeit zur Mobilisierung nationaler Macht entschlüsselt. »Mexico's Zapatistas are the first informational guerilla movement,« sagt Manuel Castells3, die das Internet und die neuen Medien systematisch für den Aufbau politischer Eigenmacht zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele nutzten. Rondfeldt spricht von »transnationalem Netzkrieg« – als neuem Prototyp einer sozialen Bewegung und des globalen Informationszeitalters, der in Mexiko erprobt und erfunden wurde.

Der Sozialanthropolge Appadurai, der transnationale Gemeinschaften erforscht, schreibt: „Auf der ganzen Welt betrachten mehr und mehr Menschen durch die Optik möglicher, von den Massenmedien in jeder nur denkbaren Weise angebotenen Lebensformen ihr eigenes Leben. Das bedeutet: Phantasie ist heute eine soziale Praxis geworden; sie ist in ungezählten Varianten Motor für die Gestaltung des öffentlichen Lebens vieler Menschen in vielerlei Gesellschaften..."4 Imaginationen, welche die Menschen anrühren, aufrühren, in denen sie ihr eigenes Leben aufspannen und bewerten, sind nicht mehr, wie Appadurai aufzeigt, lokal zu entschlüsseln. Was keineswegs bedeuten muß, die Welt sei nun ein glücklicherer Ort geworden. Vielmehr – argumentiert Appadurai – bedeutet dies, daß selbst die mittelmäßigste oder hoffnungsloseste Existenz, das selbst die brutalsten und unmenschlichsten Umstände, die schlimmste erfahrene und gelebte Ungleichheit heute dem Spiel massenmedial erzeugter Imagination offenstehen.

Eine »globale Familie«: Haßbewegungen gegen Globalisierung

Modernisierung kann nicht zuletzt durch Bewegungen herausgefordert werden, die auf einer scheinbaren Paradoxie beruhen, ja spielen: sie bedienen sich zur Durchsetzung ihrer militanten modernitätsfeindlichen Ziele der neuesten Errungenschaften der Moderne, ihrer kommunikativen Reichweiten und Resonanzen. Sie nutzen sozusagen die neue globale Ordnung aus, um ihrem Widerstand gegen die neue globale Ordnung maximale Wirkung zu verschaffen. Vielleicht zerbricht mit diesem Hinweis auf militante Widerstandsbewegungen gegen die Globalisierung endlich der Mythos, daß Bürgerbewegungen in der Weltrisikogesellschaft das »Gute« oder »die Fortschrittlichkeit« gepachtet haben.

Der Kopf einer militanten patriotischen Bewegung der USA, William Pierce, schreibt: »Kurz gesagt, die Neue Weltordnung ist ein utopisches System, in dem die US-Wirtschaft (genauso wie die Wirtschaft jeder anderen Nation) globalisiert ist; die Löhne aller US-amerikanischen und europäischen Arbeiter fallen auf das Niveau der Arbeiter der Dritten Welt; nationale Grenzen hören für alle praktischen Zwecke auf, zu existieren; eine zunehmende Flut von Dritte-Welt-Immigranten ergießt sich in die USA und nach Europa und erzeugen überall in allen ehemals von Weißen bewohnten und geprägten Wohngebieten Mehrheiten von Nichtweißen; eine Elite, zusammengesetzt aus internationalen Finanziers, den Herren der Massenmedien und den Managern der multinationalen Konzerne, wird das Sagen haben; und die Friedensarmee der UNO wird dafür sorgen, daß niemand über den Tellerrand des Systems blickt.«5

Das grüne Selbst: Die Umweltbewegung hat die Denklandschaften verändert

Die Provokationen und Akteure der weltweiten Umweltbewegung haben eine beispiellose Tellerwäscherkarriere durchlaufen: verteufelt, in aller Munde, Regierungspartei. In den 90er Jahren bezeichnen sich rund 80 Prozent der Amerikaner als Èenvironmentalists", und ebenso groß ist die Zahl der Europäer, die sich mit den Zielen des Umweltschutzes wenigstens als Lippenbekenntnis identifizieren. Jede Partei, jeder Kandidat, egal, wo er steht, muß sich »ökologisch korrekt« verhalten (egal, was er denkt), wenn er politisch nicht ins Abseits geraten will. Das heißt noch lange nicht, daß auch eine entsprechend ökologisch durchgreifende Politik verfolgt würde; oft hat man eher den Eindruck, daß im geheimen Einverständnis zwischen Regierenden und Regierten sogar das Gegenteil geschieht; womit auch Grenzen transnationaler Bewegungsmacht aufscheinen.

Transnationale Akteure können, auch im virtuosen Spiel mit den Widersprüchen, in die sich Politik und Wirtschaft in der Weltrisikogesellschaft verheddern, und mit den kulturellen Symbolen und Massenmedien, die weltmeinung auf ihre Seite ziehen, aber sie bevölkern vorläufig die Bühne der tatsächlichen Politik doch eher als potentielle Verlierer oder Statistenanwärter. Die Stunde der Wahrheit schlägt, wenn, wie in Deutschland, grüne Subpolitik zur Staatspolitik aufsteigt.

Die vielbeschworene ortsgebundene Gemeinschaft ist also nicht mehr der Ort des Politischen. Martin Albrow zeigt, daß der Zerfall von Gemeinschaften an einem Ort keineswegs gleichgesetzt werden darf mit dem Zerfall der Gemeinschaft. Vielmehr orientieren und organisieren Individuen ihre Bindungen und Netzwerke heute translokal, ja sogar über Kontinente hinweg, so daß Anomie an einem Ort sehr wohl einhergehen kann mit gelebter Nähe in „Soziosphären" (Albrow), die zwar immer wieder den Ort „berühren" müssen, aber eben nicht aus diesem heraus verstanden werden können.

Mit anderen Worten: Es gibt eine enträumlichte Struktur und Organisation sozialen und politischen Handelns, deren „Logik", deren Chancen und Gefahren überhaupt erst entfaltet und entschlüsselt werden müssen. Wer diese Richtung einschlägt, wird entdecken, daß auch Formen demokratischer Entscheidungsfindung, politischer Organisationen, Bürgerrechte und Bürgerarbeit transnational entwickelt, entworfen und rekonstruiert werden können. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich hier drei Idealtypen tätiger Solidarität – Familie, Erwerbsarbeit (beide im Rahmen territorialer nationalstaatlicher Solidarität) sowie transnationale politische Gemeinschaften – unterscheiden, und zwar entlang von drei Dimensionen: Arbeit, Versorgung, Mitbestimmung: Wie werden jeweils die Verteilung der Arbeit, die Zuteilung von Versorgungschancen sowie die Fragen der Mitbestimmung beantwortet beziehungsweise organisiert?

Das Arbeits- und Solidaritätsschema Familie: konkrete, verwandtschaftlich begrenzte, hierarchisch festgelegte Solidarität mit Schwachen

Familienformen als spezifische Organisationseinheit von Arbeit, Versorgung und Mitbestimmung zu sehen, ist ungewohnt – und aufschlußreich. Im Unterschied zur Erwerbsarbeit ist Familienarbeit auf konkrete andere – Familienmitglieder – und deren Bedürfnisse bezogen und folgt gerade nicht dem Marktprinzip, das Leistung und Gegenleistung (in Geldwerten) nach €quivalenzregeln zueinander in Beziehung setzt, sondern ermöglicht nicht-äquivalente Beziehungs- und Leistungsformen, im Grenzfall Leistungen ohne jegliche Gegenleistung.

Darin liegt zugleich das zentrale Problem und die große Chance dieser Arbeitsform. Im Rahmen von Familien wird die Versorgung eines jeden selbstverständlich und ohne Rückversicherung etwa in dessen zu erwartende Gegenleistung sichergestellt. Insofern kann man die familiale Arbeits- und Versorgungsweise als eine Solidaritätsform betrachten, in der gerade Schwache ein selbstverständliches Anrecht besitzen, ohne Gegenleistung versorgt zu werden. Die tätige Familiensolidarität kann also als eine geradezu ideale Möglichkeit entschlüsselt werden, einen solidarischen Versorgungsausgleich zugunsten jener zu erzielen, die aus eigener Kraft – sei es aus Jugend, Krankheit oder Alter – dem „Survival of the Fittest", dem täglichen Konkurrenzkampf der am Markt siegreichen, „flexiblen Egoisten" nicht gewachsen sind.

Umgekehrt bedeutet dies allerdings auch, daß sowohl die Arbeiten als auch die Leistungen der Familien radikal ungleich verteilt werden können; und daß die Personen, denen diese Pflichten zugewiesen werden, daraus keinerlei Rechte ableiten können, weder innerhalb noch außerhalb des Mikrokosmos der Familie. Ja, diese Verteilung der Lasten nach dem Anti-€quivalenzprinzip, nämlich die gleichsam „natürliche" Zuweisung von Pflichten ohne Rechte, bedeutet auch, daß diejenigen, nämlich zumeist die Frauen, qua sozialer Rollendefinition zu einem Pflicht-Wesen ohne eigene Rechte – auf Selbstentfaltung, eigenen Raum, eigene Zeit, eigenes Geld etc. – werden. Diese fehlende Erzwingbarkeit von Gegenleistung verstärkt und bestätigt immer wieder aufs neue die „Natürlichkeit" extrem hierarchischer Arbeitsteilung und Autorität. Umgekehrt gilt: Nichts-Tun, Versorgt-Werden und doch Alles-bestimmen-Wollen, diese radikale, ungleiche, „männliche" Autorität kann sich auf diese Weise – selbst in den traditionsdünnen, areligiösen, hochindividualisierten Milieus des Westens – immer wieder aufs Neue einspielen.

Ist das Markt-Muster – Arbeit und Versorgung in Form von Erwerbsarbeit auszugleichen – generalisierbar, das heißt auf eine unbegrenzte Anzahl von Personen, Gegenständen und Beziehungen anwendbar und stellt es dementsprechend Arbeits- und Versorgungsbeziehungen zwischen einander völlig Fremden dar, so gilt für die Familienform in allen diesen Punkten genau das Gegenteil: Das Prinzip des nicht-äquivalenten, spontanen Bedürfnisausgleichs ist nicht generalisierbar, vielmehr an einen engen Kreis der durch Verwandtschaft umgebenen Sozialbeziehungen gebunden und schließt Fremde aus. Tätige Solidarität wird hier mit innerfamilialer Solidarität gleichgesetzt, also praktische Humanität auf die Face-to-face-Beziehung des familialen Binnenraums begrenzt, und kann insofern durchaus mit Gleichgültigkeit, ja Gewalt und Mitleidlosigkeit gegenüber Fremden einhergehen. Die Forderung „Liebe deine Brüder" wird in der Familie wörtlich genommen und nicht verallgemeinert zu dem christlichen Gebot: „Alle Menschen sind Brüder". Das Leid der Kinder der anderen wird durch die enge und scharfe Innen-außen-Differenz, welche die Familie zieht, fremdes Leid, etwas, das sich außerhalb der eigenen Wahrnehmung vollzieht und demgegenüber Mitleid aufzubringen ebenso möglich ist wie Ignoranz und Schadenfreude.

Um diese Skizze der familialen Arbeits- und Solidaritätsform abzuschließen, sei darauf verwiesen, daß Familien-Solidarität (im Sinne Emile Durkheims) traditionell als „mechanische", das heißt kollektive Solidarität praktiziert wird, in der Individualisierungen nur sehr begrenzt möglich sind. Die Entfaltung der Person, Rollenwechsel und Identitätswechsel, sozusagen als Moslem zu Bett zu gehen und als Katholik aufzuwachen, diese Freiheits-Räume widersprechen zutiefst dem auf Zuweisung gegründeten Rollengefüge der Familie. Die Kehrseite dieses Anti-Individualismus, der eben gerade nicht auf Austauschbarkeit, Vertrag und entsprechenden einklagbaren Rechten gegründeten Familienform ist deren generationenübergreifende Verläßlichkeit. Jedenfalls dort und solange die Familien-Clans ihre Macht über das Handeln und Denken der Menschen ausüben, stiften sie auch Tätigkeits-, Verpflichtungs- und Versorgungszusammenhänge auf Dauer, also über Individuen und Generationen hinweg.

Erwerbsarbeit: Individualisierung und abstrakte, staatlich organisierte Solidarität

Die Frage, wie Arbeit, Versorgung und Mitbestimmung im Schema der Erwerbsarbeit aufeinander bezogen werden, läßt sich fast in jeder Dimension genau gegenbildlich zum Solidaritätsschema Familie begreifen. Erwerbsarbeit ist marktvermittelt organisiert; hier werden also Leistung und Gegenleistung nach (sozial konstruierten) Äquivalenzmaßstäben ausgetauscht; deren Regeln sind (jedenfalls in formalisierter Arbeit) in Vertragsform gegossen, insofern auch einklagbar. Das Subjekt der Arbeit und der Versorgung ist nicht etwa das Familienkollektiv, sondern das „freigesetzte" Individuum. Erwerbsarbeit ermöglicht, erzwingt daher Individualisierung, ebenso wie umgekehrt Individualisierung Erwerbsarbeit voraussetzt.

Damit wird die Solidarität der erwerbstätigen Individuen prinzipiell problematisch; diese beruht einerseits eben auf der stillschweigend vorausgesetzten Familien-Solidarität, auf der die Erwerbsarbeit aufruht; andererseits definiert Erwerbsarbeit einen fachspezifischen Raum sozialer Gleichheit – sei es durch entsprechende Bildungsabschlüsse (oder ihr Fehlen), Lagen am Arbeitsmarkt, Stellungen in der Kooperation, der Betriebshierarchie etc. Dieser Horizont bindet tätige Solidarität an nun berufliche Innen-außen-Definitionen bindet, begrenzt diese und macht sie insofern organisierbar. Es entstehen – möglicherweise! –, gebunden an Erwerbsarbeit, nationale, ja sogar transnationale Systeme zunächst fachlicher Solidarität. Der Experte ist transnationaler Akteur par excellence.

Im Unterschied zur Familien-Solidarität ist diese grenzübergreifende, fachliche Gleichheit nicht zu verwechseln mit sozialer Solidarität. Diese ist – bestenfalls – national durchgesetzt worden und gilt dann nicht individuell, nicht konkret, nicht personenbezogen, sondern anonym. Sie zeichnet einklagbare soziale Rechte aus und kann insofern auch nach dem Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung instrumentalisiert werden (Trittbrettfahrer-Effekte). An die Stelle von Barmherzigkeit und Spontaneität tritt einklagbares Recht. Die Folge ist: Diese Solidarität tendiert dazu, die Schwachen, die sie eingrenzen soll, auszuschließen, während die Starken, die über das Wissen und die Hebel zur Durchsetzung ihrer Eigeninteressen verfügen, begünstigt werden.

Was die Dimension der Mitbestimmung betrifft, so wird mit dem Arbeitsvertrag die Verfügung über die Zielbestimmung der Arbeit an den „Käufer" des menschlichen Arbeitsvermögens abgetreten. Der Arbeitsvertrag ist also – politisch gesehen – ein Unterwerfungsvertrag. Die Ziele, Inhalte, Zwecke der Arbeit liegen nicht mehr in der Hand der Arbeitenden selbst, sondern in der Hand derjenigen, die Arbeitsprozesse meist (unter ökonomischen Prinzipien) organisieren. Dies schließt korporatistisch ausgehandelte, begrenzte Formen der Mitbestimmung, meist über Arbeitsbedingungen, Belastungen, Kooperationsformen etc., nicht aus.

Postnationale Risikogemeinschaften: gewählte, konstruierte, wertorientierte, grenzenübergreifende Verantwortungsgemeinschaft auf Widerruf

Diese kurze Skizze, wie in der Familienform im Unterschied zur Berufsform tätige Solidarität praktiziert wird, diente vor allem dem einen Zweck: vor diesem Hintergrund die Sozialform tätiger Solidarität in transnationalen, politischen Gemeinschaftsnetzwerken zu kennzeichnen. Wer die Frage stellt, wie moderne Gesellschaften, die alles Vorgegebene, also auch die Sicherheit der Tradition und der Natur auflösen und in Entscheidungen verwandeln, mit der selbsterzeugten Unsicherheit umgehen, stößt auf eine zentrale Erfindung der Neuzeit: die Vergemeinschaftung durch geteilte Risiken.

Wie insbesondere François Ewald in historischen, rechts- und politikgeschichtlichen Studien gezeigt hat, setzt die Kategorie des Risikos die selbsterzeugte Unsicherheit der Moderne voraus. Der Risikobegriff tritt an die Stelle traditionaler Sicherheit und Sicherheit vorgegebener Natur. Risiken setzen Entscheidungen und Entscheider voraus. Risiken erlauben Individualisierung. Sie sind konkret, auf Einzelfälle hier und jetzt bezogen. Zugleich aber geben sie ein Organisationsschema formalisierbarer „Gemeinschaftsbildungen und -bindungen" vor, das von Einzelfällen ablösbar ist; einerseits sogar mathematisierbare Wahrscheinlichkeiten und Szenarien, andererseits aushandelbare Normen gemeinsamer Rechte und Pflichten, Kosten und Ausgleichszahlungen festzulegen erlaubt.

In der entfalteten Moderne gibt es keine „natürliche" Gemeinschaft der Nachbarn, der Familie, der Nation. Es gibt nur die Legende ihrer „Natürlichkeit" (die allerdings äußerst wirkungsvoll sein kann). Das Prädikat „natürlich" ist verräterisch, steht für vergessen. Vergessen oder verdrängt wurde nämlich, daß diese „natürlichen" Gemeinschaften sozial konstruiert und „erfunden" wurden. Was aber entsteht, wenn die Familie als Versorgungs- und Identitätsbasis verblaßt, wenn die Kombination von Erwerbsarbeit und nationaler Bürgeridentität zerbricht? Eben – möglicherweise – Risiko-Gemeinschaften.

Die These, die ich hier entwickeln möchte, lautet: Das Risikoregime beinhaltet auch eine verdeckte, gemeinschaftsbildende Seite und Kraft. Wenn die Anrainerstaaten der Nordsee sich als eine Risikogemeinschaft angesichts der laufenden Gefährdung von Wasser, Mensch, Tier, Tourismus, Wirtschaft, Kapital, politischem Vertrauen etc. verstehen, dann bedeutet dies: Über alle nationalen Grenzen und Gräben hinweg wird mit der konstruierten und akzeptierten Gefährdungsdefinition ein gemeinsamer Wert-, Verantwortungs- und Handlungsraum geschaffen, der, analog zum nationalen Raum, tätige Solidarität zwischen Freunden stiften kann. Dies ist dann der Fall, wenn die akzeptierte Gefährdungsdefinition zu verbindlichen Absprachen und Gegenaktion führt. Akzeptierte Risikodefinition bildet und verbindet also – über nationale Grenzen hinweg – kulturelle Werthorizonte mit Formen mehr oder weniger ausgleichenden, verantwortlichen, solidarischen Gegenhandelns. Sie beantwortet auf transnationale Weise die Schlüsselfrage tätiger Solidarität: Von wem kann ich Im Falle des Falles Hilfe erwarten und wem habe ich beizuspringen, wenn er in Not oder Gefahr ist? Risikogemeinschaften kombinieren also, was sich auszuschließen scheint: Sie beruhen auf

  1. kulturell geteilten Werten und Wahrnehmungen,
  2. sind wählbar, ja mathematisierbar;
  3. können informell oder vertraglich geregelt werden;
  4. sie bilden Gemeinschaftsdefinitionen ab, oder stellen diese her;
  5. die nicht in der Unverbindlichkeit von Wertüberzeugungen verbleiben, sondern materiell folgenreich tätige Solidarität einschließen können;
  6. in kulturell geteilten, sozial konstruierten Risikodefinitionen wird über Distanzen hinweg, also auch transnational, sozial verpflichtende Nähe hergestellt;
  7. Risiko-Gemeinschaften sind nicht total, sondern aspekthaft, an bestimmte Themen und Prioritäten gebunden;
  8. sie bilden einen moralischen Raum wechselseitiger Verpflichtungen über Grenzen hinweg. Dieser Raum wird durch Antworten auf die Frage definiert: Von wem kann ich Hilfe erwarten? Wem muß ich helfen, wenn dieses oder jenes eintritt? Welcher Art ist die Hilfeleistung, die ich erwarten kann, die ich geben muß?

Die Wirklichkeiten, die als riskant wahrgenommen und gewertet werden, sind zvilisatorische Zweitwirklichkeiten; sie sind kein Schicksal, sondern Folgen des zivilisatorischen Experimentes. Risiko-Gemeinschaften entstehen insofern gerade nicht als Schicksalsgemeinschaften, die hingenommen werden müssen, sondern als untergründig politische Gemeinschaften, die auf Entscheidungen und Fragen beruhen, die anders getroffen und beantwortet werden können: Wer ist verantwortlich? Was muß im Kleinen und Großen, lokal, national und global getan, verändert werden, damit das, was droht, nicht eintritt?

Risiko-Gemeinschaften sind also ähnlich wie Familien Verantwortungs-Gemeinschaften. Ganz anders als diese ist in jenen allerdings nichts vorgegeben und zugewiesen. Sie beruhen nicht auf engen, verwandtschaftlichen Innen-außen-Beziehungen, sondern schließen (möglicherweise) grenzenübergreifend wenige oder sehr viele, vielleicht zahllose ein. Risiko-Gemeinschaften unterscheiden sich danach, wem gegenüber, für was und für wen man verantwortlich ist. Zugleich wird dieses Wem-gegenüber, Für-was und Für-wen spezifiziert und über Distanzen und Grenzen hinweg in Verhandlungen konkretisiert. Hier wird erkennbar: Risiko-Gemeinschaften sind weder Zwangsgemeinschaften noch Konsensgemeinschaften.

Ich kann mich zwar nicht dagegen wehren, daß andere Risiken eingehen, deren Folgen mein Leben bedrohen (beispielsweise durch den Bau eines Kernkraftwerkes oder einer Chemiefabrik jenseits der Grenze, aber in meiner unmittelbaren Nachbarschaft oder, abstrakter, die globale Veränderung des Klimas). Aber inwieweit dies für mich bedeutsam und handlungsrelevant wird, entscheide ich. Ebenso wie die Frage, ob ich trotz des Rinderwahnsinns an meiner Steak-Leidenschaft festhalte oder zum Vegetarier konvertiere.

Da Risiken sozial konstruiert und kulturell wertbezogen anerkannt werden, aber immer auch auf (wissenschaftlichem) Wissen über technische Möglichkeiten, Gefahren und wie diese gebändigt, verringert werden können, beruhen, sind Risiko-Gemeinschaften in sich kontrovers, müssen eine Pluralität von Perspektiven, Fragen, divergenten Ausgangspunkten aushalten, verbinden, ausgleichen. Sie verneinen nicht Gemeinsamkeiten, sondern bejahen Unterschiede. Ihre tätige Solidarität ist nicht vorgegeben, sondern muß immer wieder über Grenzen von Kulturen, Kontinenten und Meinungen hinweg erfahren, ausgehandelt und bekräftigt werden.

Globale Risikoregulation: Ozonpolitik

Die zur Zeit meistdiskutierte globale Umweltgefahr ist die Klimaänderung. In der internationalen Ausdeutung dieses Großrisikos in allen seinen Dimensionen, Nebenfolgen, Mehrdeutigkeit und Werthorizonten sowie an rückschlagsreicher Geschichte transnationaler Vereinbarungen und deren stockender Umsetzung läßt sich, wie in einem Bilderbuch, die (des)integrierende Kraft des Risikoregimes studieren. Dabei sind wissenschaftliche Diagnose, kulturelle Bewertung und politische Folgen direkt ineinander verzahnt. Der nun herrschenden Deutung (»Konstruktion«) nach sind es klimawirksame Spurengase, die den Wärmehaushalt der Erde stören, indem sie die Wärmestrahlung in den Weltraum zum Teil blockieren. Dabei ist das CO2-Risiko insbesondere ein Nord-Süd-Problem, weil sein Niveau stark mit dem Bruttosozialprodukt korreliert. Die CH4-Emissionen (die ca. 18 Prozent des Treibhauseffekts ausmachen) stellen dagegen eher ein Süd-Nord-Problem dar – insofern große Mengen diesen Gases in der Landwirtschaft in den Ländern des Südens erzeugt werden.

Durch das Ausmalen der Folgen – Abschmelzen des Eises, Anstieg des Meeresspiegels, Gefährdung von einem Drittel der Weltbevölkerung, das in Küstennähe lebt – wurde eine globale Risikogemeinschaft herausgebildet. Mit der Konferenz von Rio (1992) und der Nachfolgekonferenz von Kioto (1997) wurde diese globale Risikogemeinschaft gegen alle immer auch noch vorhandenen Zweifel und Zweifler in dem Sinne etabliert, daß die Rolle von Außenseitern und Dominierenden umgekehrt wurde. Wer jetzt noch die Gefahr anzweifelt, gerät international ins Abseits. Zugleich wurden Risikoregulationen (Reduzierung der Emissionen, Zeitvorgaben, Berichtsverpflichtungen usw.) in dramatischen Mammutkonfliktsitzungen verbindlich beschlossen. Diese Normen werden entgegen den nationalen Egoismen und ohne die Zentralmacht einer Weltregierung in Gestalt mehr oder weniger löcheriger Strategien einer weltweiten Drosselung der entsprechenden Gase (und damit Konsumchancen und Märkte) zur Zeit durchzusetzen versucht. In Ansätzen ist hier erkennbar, daß Risiko- Verantwortungsgemeinschaften sind, in denen nationale Gruppen und Akteure wenigstens in Ansätzen zur Umsetzung transnationaler Prioritäten veranlaßt werden können.

Netzwerke der Vielfalt: lokale und transnationale Macht

Territoriale Gemeinschaften sind im allgemeinen multiple oder Allzweck-Gemeinschaften; und sie sind „kongruent", das heißt, die Grenzen und der Radius, innerhalb derer die Zwecke gelten, sind deckungsgleich. Genau dies gilt für selbstgewählte Risiko-Gemeinschaften nicht. Diese bilden multiple Netzwerke, die nicht dem Entweder-oder-Prinzip unterworfen sind, sondern sich ergänzen, überlappen und auf diese Weise eine Multiplizität von Netzwerken bilden, die zugleich individualisieren und Gemeinsamkeiten festlegen, aber eben nicht nach einem integralen, alle und alles einschließenden Wert- oder Herrschaftsprinzip, sondern eben enträumlicht, zweckspezifisch und doch moralisch verpflichtend. Auch der Sozialstaat kann als Dialektik von Risiko- und Versicherungsgesellschaft entschlüsselt werden.

Diese Arten verantwortlicher Risiko-Teilung müssen nicht, können aber auch explizit politisch gemünzt und organisiert sein. Dies läßt sich an Menschenrechts- und transnationalen Frauen-Netzwerken zeigen.

Respekt vor der Vielfalt und tätige Solidarität, die ermutigt, beisteht, hilft, auch zur Selbsthilfe, sind Prinzipien, die vielen dieser tätigen Netzwerken ihre Glaubwürdigkeit und Anerkennung auch durch beispielsweise demokratische Regierungen verleihen, die, wenigstens ihrer Verfassung nach auf diese Prinzipien festgelegt sind. Die indische Feministin Kumar-D'Fouza spricht von „unerwarteten Verbindungen, die möglich werden durch einen Dialog unter dem Paradigma der Vielfalt".6

Gerade auch die Erfahrung der Unterschiedlichkeit, Vielschichtigkeit und Ambivalenz erduldeter, aber auch mittätiger Unterdrückungsverhältnisse von Frauen stiftet transnationale Gemeinsamkeiten und Gemeinschaften. „Neben dem Geschlecht spielt Rasse, Klasse, Kaste, Sexualität, Nationalität, Religion, Alltag, Behinderung eine Rolle, um nur einige zu nennen. Die Kategorie 'Frau' als ausschließliche wird dieser Wirklichkeit nicht gerecht. Vielmehr sollen sich mannigfaltige Feminismen, die sich als kaleidoskopartige Fragmente um die Kategorie 'Frau' herum gruppieren," Gemeinsamkeiten, Koalitionen, Ermächtigungs- und Ermutigungsgemeinschaften bilden.

Auf diese Weise entstehen – über alle Fragmentierungen und Gegensätze hinweg – erprobte, transnationale Unterstützungsnetzwerke, die Unterschiede nicht fürchten und verleugnen, sondern aus ihnen ihre Glaubwürdigkeit, ja lokale, nationale Macht gewinnen. Was hier praktiziert, erstritten, eingeübt wird, ist die Tätigkeit des „Übersetzens" im metaphorischen und im wörtlichen Sinne. Der †bersetzer spricht mehrere Sprachen, gehört mehreren Welten an, erlebt und erleidet die falschen Fremdstereotypen, mit denen sich die Lebenswelten gegeneinander und damit auch vor sich selbst verschließen. Schon innerhalb nationaler Räume entstehen und bestehen Gespräche aus beziehungsweise vor Übersetzungsproblemen. Im Alltag des Transnationalen wird das Übersetzen, das Hin und Her zwischen den Ordnungen und Unordnungen zu einer permanenten Balance, zu einem kunstvollen Umgang mit Widersprüchen, der oft genug scheitert. Wir sind das Experimentierfeld, aus dem die transnationale Bürgergesellschaft entsteht!, lautet das Selbstverständnis der Netzwerkler und Netzwerklerinnen aller Kulturen, Hautfarben, Religionen, politischer †berzeugungen. Vielleicht haben sie ja sogar recht.

Grenzen und Stärken transnationaler Bürgerarbeit

Im Gegensatz zur Familienarbeit und Erwerbsarbeit bleibt auch transnationale Bürgerarbeit, selbst wenn sie grundfinanziert und auf Basis eines an der Person festgemachtem Bürgergeldes praktiziert wird, materiell unselbständig, auf andere Einkommensquellen angewiesen. Dies hat beispielsweise zur Folge, daß Bürgerarbeit nie in der Lage sein wird, Erwerbsarbeit in dem Maße zu verdrängen, wie historisch Erwerbsarbeit Familienarbeit verdrängt hat. Sie wird ergänzend, aber nicht ersetzend orientiert und organisiert sein und insofern auf Tätigkeitsfeldern eingeschränkt bleiben, die von Erwerbsarbeit und von Familienarbeit nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden können.

Dies hat allerdings gerade für den politischen Gehalt von Bürgerarbeit eine wesentliche Konsequenz: Stellt Erwerbsarbeit gleichsam eine aufgrund des Arbeitsvertrags „politisch kastrierte" Praxisform dar, in der Mitbestimmung eigentlich mehr den Sinn eines vorwegeilenden Gehorsams annimmt, so ist Bürgerarbeit genau umgekehrt dadurch gekennzeichnet, daß ihr ein direkter Hebel der Außensteuerung und Außenkontrolle praktisch nicht gegeben ist.

Erwerbsarbeit kann immer nur dort geleistet werden, wo finanzkräftige Kunden bereit sind, für diese Arbeit zu zahlen. Familienarbeit setzt die zugewiesene Zugehörigkeit zu dem kleinen Kreis der verwandtschaftlichen Gruppe voraus; darauf gibt es kein Anrecht. Die Ziele der Familienarbeit jedoch beruhen (jedenfalls der Möglichkeit der vorherrschenden Realität nach) auf den fixierten Autoritätsverhältnissen, für die gerade der Ausschluß von Mitbestimmung typisch ist.

Ganz anders liegt der Fall in der freiwilligen, selbstorganisierten Bürgerarbeit. Hier kann nicht der Anstoß zur Bearbeitung eines bestimmten Problems von Außenstehenden ausgehen. Vielmehr liegt die Initiative zum Aktivwerden in einem bestimmten Problemfeld sowie die Auswahl des Problems, des Aktivitätszieles, seine Definition und die Art und Methoden der praktischen Organisation zunächst allein und ausschließlich auf Seiten der in der Gruppe Arbeitenden selbst. Hier ist wieder allein das konkrete Problem, das sichtbare Ärgernis, die erfahrene Solidarität Anlaß und Triebkraft des Tätigwerdens. Eine sich mehr oder weniger spontan zusammenfindende oder durch ein gemeinsames Problem, eine gemeinsame Lage und ihre transkulturelle „Übersetzung" vermittelte Gruppe kann in dieser Form nahezu jedes ihr wichtig erscheinende, sie bedrängende Problem aufgreifen und in einer ihr richtig erscheinenden Weise bearbeiten; sie braucht dazu im ersten Schritt keinen Mäzen, keinen Bildungsabschluß, keinen Meisterbrief, keine Satzung, ja, noch nicht einmal, wie zum Feuermachen im Wald, eine behördliche Genehmigung.

Mit anderen Worten: Während in der Erwerbsarbeit (aber auch in der vom politischen Mandat des Wählers abhängigen Tätigkeit von Abgeordneten, Parteitagsdeligierten etc.) wesentliche Impulse und Kontroll-, Steuerungsmöglichkeiten auf der Seite der Nichtarbeitenden (der Geldgeber, der Wahlberechtigten, der Parteiorganisationen etc.) liegen, ist im Fall der Bürgerarbeit dieses Verhältnis geradezu umgekehrt: Alle Initiative liegt zunächst auf Seiten der Aktiv-Werdenden selbst, und alle anderen können nur indirekt, ja letztlich nur insofern Einfluß auf die Arbeit dieser Gruppen gewinnen, wie die Gruppe selbst ihnen dazu die Möglichkeit eröffnet, gleichsam die „Genehmigung" dazu erteilt. Es sei denn, das Projekt der Bürgerarbeit ist kostspielig und bedarf erheblicher Fremdfinanzierung. Bürgerinitiativen können entsprechend nicht durch Geldgeber „ins Leben gerufen" und nicht „abgewählt" werden; man kann sie nicht dadurch steuern, daß man ihren Mitgliedern die Subsistenzmöglichkeiten entzieht, und nicht dadurch kontrollieren, daß man sie das nächste Mal nicht mehr „auf die Wahlliste" setzt. Sie „existieren" vielmehr solange, wie diejenigen, die sie ins Leben gerufen haben, dafür die notwendige Zeit, Energie aufbringen und in ihnen eine Quelle für Selbsttätigkeit, Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung – im Dienste Dritter – sehen.

Besonderes Kennzeichen der Bürgerarbeit ist es, daß beim Entstehen derartiger Praxis- und Solidaritätsformen – eben aufgrund des Prinzips der Eigeninitiative, auf dem Bürgerarbeit aufruht – nicht auf vorgegebene Formen und Bearbeitungsmethoden zurückgegriffen werden kann. Diese müssen vielmehr in eins mit dem Inhalt, dem Ziel der Bürgerarbeit zugleich „mitgeschaffen" werden. Das heißt: Auch die Struktur der Bürgerarbeitsgruppen ist nicht vorgegeben; es gibt ihre Arbeitsform und Funktionsweise nicht unabhängig von dem konkreten Projekt; die Strukturen ihrer Tätigkeit werden auch nicht von außen diktiert, sondern die Gruppe bildet sich in ihrer Arbeitsform durch ihre Ziele selbst heraus. Bildlich gesprochen muß sich Bürgerarbeit also sozusagen an ihrem eigenen Schopfe aus dem Sumpf ihrer Nichtexistenz ziehen und dabei ihren Arbeitsgegenstand, die Methode der Bearbeitung und die Organisationsstrukturen, in den die Kooperation abläuft, konkret „herstellen". Kein Zweifel: In diesem „Münchhausen-Problem" liegt zugleich das Prekäre, das Anfällige dieser selbstbestimmten politischen Praxisform begründet.

Oft geht es in der Arbeit von Bürgerinitiativen und transnationalen Netzwerken ja nicht darum, bestimmte Aufgaben an sich zu ziehen – sondern gerade umgekehrt darum, anderen bestimmte, in ihren Kompetenzbereich fallende Aufgaben und Probleme sichtbar zu machen und sie zu einer Bearbeitung dieser Probleme zu veranlassen. Bürgerarbeit – anders als Erwerbsarbeit – tendiert also nicht zur Monopolisierung von Aufgaben, sondern genau umgekehrt, zielt oft auf eine Mobilisierung anderer, deren Untätigkeit oder fehlerhafte oder ungerechte Praxis angeprangert und öffentlich skandaliert werden soll. Bürgerarbeit kann also auch verstanden werden und organisiert sein als eine die starre Kompetenzgliederung der Verwaltung und Politik überlagernde, zu ihr parallel verlaufende, mit ihr inhaltlich konkurrierende und sie (ihrer Absicht nach) korrigierende Arbeitsweise und Praxisform; sie beruht gerade nicht wie die berufliche Erwerbsarbeit auf einer Exklusivität der Arbeitsteilung.

Die Stärke transnationaler Netzwerke und politischer Bewegungen beruht also darauf, daß sich weltweit ganz gewöhnliche Menschen aufgrund eigener Initiative mit ihrer überschüssigen Zeit und Energie aus freien Stücken für eine Sache einsetzen. Diese Bewegungen verfügen normalerweise weder über viel Geld noch über umfangreiche andere Ressourcen. Aber sie verfügen über das, was den offiziellen institutionalisierten Handlungszusammenhängen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft oft fehlt: kulturelles Glaubwürdigkeitskapital. Sie nutzen das Engagement für bestimmte Werte, profitieren von Kenntnissen und Fähigkeiten, die weder vom Staat noch von Unternehmen oder religiösen Führern gegängelt werden und auch nicht für den privaten Konsum aufgewendet werden müssen.

Transnationale Bewegungen sind daher von gewissen Produktions-, Konsum- und Arbeitsbedingungen des heutigen Kapitalismus abhängig, insofern diese nämlich die Verbreitung neuer Kulturpraktiken fördern und neue Formen der Identität ermutigen. Transnationale Bürgerbewegungen können daher dort erfolgreich operieren, wo Konsumgesellschaft und politisches Engagement zusammentreffen. Sie widerlegen die schlichte Prämisse der Interessenhomogenität von Staat und Kapital, weil sie ein keimendes Weltbürgertum repräsentieren, das auch nationale Regierungen nicht einfach ignorieren können. Wie unter anderem an dem transnationalen Käuferboykott, den Greenpeace um die Ölbohrinsel „Brent Spar" im Juni 1995 und die französischen Atombombenversuche im Herbst 1995 verdeutlicht, können massenmedial vermittelte Bürgerbewegungen durchaus als neue Konfliktparteien und Verhandlungspartner gegenüber Staat und Wirtschaft in die politische Arena eintreten.

Von der nationalen zur kosmopolitischen Demokratie: Wie wird die Regulierung transnationaler, transreligiöser, transkultureller Konflikte möglich?

Aber ist der Schritt in den transnationalen Gesellschaftsraum nicht dennoch illusionär? Mehr noch: unpolitisch, weil undemokratisch, ja Demokratie gefährdend? Denn die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen ist letztlich immer nur im Rahmen des Nationalstaates und seiner politischen Arenen – Parteien, Parlament, Öffentlichkeit – möglich.

Ein klares, doppeltes Nein. Der Ort des Politischen ist im Zeitalter der Globalisierung unscharf geworden, jedenfalls sprechen die formellen, ausgeschilderten Zuständigkeiten und Klingelknöpfe nicht mehr für sich selbst. Dies läßt sich an einer Parabel verdeutlichen. Was geschähe wohl, wenn die Europäische Union einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellen würde? Die Antwort ist klar: wird abgelehnt. Denn die Europäische Union erfüllt nicht die Demokratieanforderungen, die sie an die Mitgliedschaft knüpft.

Diese Parabel läßt sich jedoch weiterspinnen: Einige Wochen nach dieser Antwort erhalten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen Bescheid, dem sie zu ihrem Erstaunen entnehmen müssen, daß die EU sich leider gezwungen sieht, ihnen allen die Mitgliedschaft aufzukündigen. Warum? Die Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Großbritannien und alle anderen erfüllen nicht länger die für die EU-Mitgliedschaft vorausgesetzten Demokratiekriterien, weil mehr und mehr Entscheidungen autonom von der Europäischen Union getroffen und von den Mitgliedstaaten nur noch exekutiert werden.

Hier zeigt sich das Demokratie-Dilemma im Zeitalter der Globalisierung: Während im Rahmen der demokratisch konstituierten, nationalstaatlichen Politik zunehmend das Verharren im Status des Nichtentscheidens politisch legitimiert wird, werden im transnationalen Rahmen der scheinbaren „Nichtpolitik" Entscheidungen großer Reichweite getroffen, denen jede demokratische Legitimation fehlt; das „Regieren ohne Regierung" (James Rosenau) in internationalen Organisationen ist ebenso notwendig wie demokratisch nicht legitimiert.

Warum hat es in diesem Sinne nie ein europaweites Referendum über die Einführung des Euro gegeben? Das hätte Europa politisch beflügeln können, indem für ein nun wahrlich europäisches Thema eine europäische Öffentlichkeit und Identität gestiftet worden wäre.

In der Paulskirche wurde vor 150 Jahren um die Transformation von der religiös begründeten Feudalordnung in die nationalstaatliche Demokratie gerungen; heute müssen wir über den †bergang von der nationalstaatlichen in die transnationale, in die kosmopolitische Demokratie debattieren.

Die Logik institutionalisierter Konflikte

Die vielen, miteinander konkurrierenden und streitenden Modernen der Zukunft werden sich durch vieles unterscheiden – beispielsweise dadurch, wie sie zwischen Gemeinschaftswerten und Freiheitswerten des Individuums vermitteln; ob sie weiterhin daran glauben, daß aus technologischen Neuerungen Schritt für Schritt ein Paradies auf Erden entsteht, oder ob sie den absolut gesetzten technologischen Wandel ihrerseits mit demokratischen und ethischen Prinzipien zähmen wollen usw. Eine oder vielleicht sogar die Schlüsselfrage wird es daher sein, mit welcher Konsequenz und in welchen Formen sie Institutionen transnationaler Konfliktregulierung entwickeln und ob bzw. wie sie diesen eine eigene Rationalität und Autonomie zuerkennen und einräumen.

In der ersten Moderne wurde dies in der Arena des Nationalstaates entworfen, erkämpft und in politische Routinen übersetzt. Dies geschah zunächst vor allem dadurch, daß die Konfliktparteien entwaffnet und auf die diskursive Auseinandersetzung in Parlament und Öffentlichkeit verpflichtet wurden. Der Staat setzte seinen Anspruch auf das Gewaltmonopol durch und öffnete zugleich den Wettkampf um politische Ziele und Zustimmung in den demokratischen Institutionen des aktiven und passiven Wahlrechts, der Versammlungsfreiheit, der Freiheit zur Gründung politischer Parteien, den Rechten und Pflichten des Parlaments usw. Konflikt-Institutionalisierung setzt also voraus: soziale und politische Konflikte werden nicht verteufelt und unterdrückt, sondern anerkannt. Die Konfliktparteien werden allerdings auf Gewaltfreiheit verpflichtet und die Austragung der Konflikte in bestimmten Foren und Verfahren gebunden, in diesem Fall nämlich die der parlamentarischen Demokratie.

Diese „Logik", Konflikte zu bejahen, indem man sie gleichzeitig in institutionell gegossene Verfahrensregeln der Konfliktaustragung einbindet, hat sich auch bewährt im Umgang mit dem industriellen Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital. Die entsprechend der Marxschen Diagnose auf Verelendung oder Revolution hin angelegte frühkapitalistische Klassengesellschaft im Europa des 19. Jahrhunderts wurde gezähmt und zivilisiert in dem Maße, in dem es im Feuer sozialer Konflikte der Arbeits- und Gewerkschaftsbewegung gelang, institutionalisierte Formen der Konfliktaustragung in Gestalt der Tarifautonomie zu formen und durchzusetzen. In diesen handeln Gewerkschaften und Unternehmerverbände in eigener Regie, ohne staatliche Intervention, die Konditionen von Arbeitsverträgen auf der Grundlage der Wirtschaftsdaten einer Branche und in festgelegten Zeitrhythmen kollektiv aus. Selbst das Recht zu streiken bzw. auszusperren wird, gebunden an bestimmte Verfahren (zum Beispiel Urabstimmung), von beiden Konfliktparteien einander prinzipiell zugestanden.

Auch hier hat sich also das Prinzip bewährt: Nur die Anerkennung des Konflikts und das heißt: die rechtlich gebändigte Konfliktaustragung ermöglicht beides: daß gesellschaftlich angelegte und notwendige, letztlich produktive Konflikte nicht gesellschaftsgefährdend wirken, sondern zur Quelle gesellschaftlicher und politischer Neuerungen werden. Man kann sehr wohl sagen, daß der politisch bewußt vollzogene Übergang von der Leugnung und Verteufelung zu der Anerkennung und verfahrenstechnischen Zivilisierung sozialer und politischer Konflikte einen wesentlichen Wertmaßstab dafür bildet, wie es mit der „Modernität" sogenannter moderner Gesellschaften tatsächlich bestellt ist.

Notwendigkeit und Schwierigkeit transnationaler Konfliktregulierung

Ein Geburtsfehler der Ersten Moderne, der in der Zweiten Moderne zu einem dramatischen Mega-Problem werden wird, ist nun darin zu sehen, daß Verfahren und Formen der Konfliktinstitutionalisierung bislang fast nur innerhalb von Nationalstaaten entwickelt und umgesetzt wurden, nicht aber dort, wo im globalen Zeitalter hochexplosive Konflikt-Quellen entstehen werden, nämlich aus der Gemengelage protektionistischer Reaktionen, den Zwängen zur Kooperation und den überdimensionalen Fragen, die gleichwohl konkret und einschneidend nach Veränderungen in Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Alltag verlangen.

Sicher, auch das Globale und Transnationale hat in unserer Welt seine Adressen und Selbständigkeiten: die Vollversammlung der Vereinten Nationen, den Weltsicherheitsrat, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, oder auch – auf Europa bezogen – die supranationale Institution der Europäischen Union. Und doch ist die Feststellung nicht schwer zu belegen, daß ein eklatantes Mißverhältnis besteht und entsteht zwischen den sich neu auftuenden und verschärfenden Konflikt-Quellen zwischen Nationen, Religionen, Kulturen einerseits und den wenigen, eher unverbindlichen, relativ machtlosen, irgendwie im Überreich der ebenso moralisch anspruchsvollen wie politisch unverbindlichen schwebenden Institutionen transnationaler oder sogar globaler Konfliktaustragung andererseits.

Die alt-neuen Konflikt-Quellen sind schneller genannt als gebannt. An erster Stelle muß wohl die Durchsetzung freier Weltmärkte selbst genannt werden, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Innerhalb der Nationalstaaten läuft sie dort, wo starke Arbeiterparteien sozialstaatliche Sicherungssysteme und Formen gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht erkämpft haben, auf eine De-Institutionalisierung des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital hinaus. Die in aller Munde befindliche Forderung nach „Flexibilität" bedeutet ja nichts anderes, als daß die Regeln, kollektive Arbeitsverträge, Mitbestimmungs-Normen oder Standards des Arbeitsschutzes auszuhandeln, gelockert oder abgeschafft werden. Zugleich zielt die neoliberale Revolte inner- und international auf eine Minimalisierung des Staates. Diese schlägt aber leicht um in eine Militarisierung inner- und interstaatlicher Konflikte.

Weitere, neue und in ihren Folgen ebenfalls gar nicht absehbare Konflikt-Quellen können hier nur erwähnt werden: ökologische Krisen, Katastrophen und Zusammenbrüche (durch chemische oder nukleare Unfälle, direkte und indirekte Folgen der sich abzeichnenden Klimakatastrophe, Kampf um knappe, überlebenswichtige Ressourcen); auch werfen heute schon die Konflikte der divergenten Modernen im Streit um neue oder alte Fundamentalismen ihre tiefen Schatten voraus.

Gerade im Öffnen und Zusammengedrängtwerden der Welt im entfernungslosen Raum der Massenmedien, den neuen Grenzen und Kontinente übergreifenden Produktions- und Arbeitsweisen transnationaler Konzerne entstehen schwer abschätzbare Konflikt-Quellen, deren Wirksamkeit in einer neuen Überschneidung und Verbindung von Virtualität und Realität gesehen werden müssen. Gemeint sind die globalen Risiken und Gefahren – der möglicherweise kurz bevorstehenden Völkerwanderungen von den armen in die reichen Regionen und Länder der Welt; vielleicht in tausend Jahren oder morgen explodierenden Atomkraftwerken; der verschwiegenen und versteckten neuen Internationale des organisierten Verbrechens und des Terrorismus usw. Charakteristisch für diese globalen Bedrohungen ist, daß sie gerade auch dann und dort, wo sie (noch) nicht eingetreten sind, eine gesellschaftsverändernde Kraft entfalten können, die den politischen Hintersinn der Risiko-Dramaturgie in die Tat umsetzen, nämlich zu handeln, bevor es zu spät ist.

Ganz wesentlich werden auch in Zukunft diejenigen transnationalen Konflikte den Alltag der Wirtschaft, der Politik und der Menschen prägen, die aus dem Siegeszug neoliberaler Politik hervorgehen und damit ihre politische Nervigkeit entfalten: In den vergangenen Jahre sind regelungsintensive Industrien liberalisiert worden; Telekommunikation, Energie, Nahrungsmittel und Finanzen. Die dadurch freigesetzte weltweite Konkurrenz hat nationale Normierungsinstanzen miteinander in Konflikt gebracht. Mit dem freien Warenverkehr ist das Problem inzwischen global geworden. Und dies alles ist erst der Anfang. Schon heute zeichnen sich weitere Konflikt-Quellen ab, Absprachen zu globalen Umwelt- oder Arbeitsmarkt-Normierungen etwa, also Regelungen in Handlungsfeldern, in denen die Konflikte noch schwieriger zu handhaben sind, weil sie politisch hochsensibel sind.

Die erste Welle nationaler Deregulierungen erzwingt eine zweite Welle transnationaler Reregulierungen. Damit wird aufgewertet, was in den 80er Jahren abgewertet wurde: Staat und Politik. Erforderlich ist das pure Gegenteil neoliberaler Dekonstruktion, nämlich starke Staaten, damit transnationale Marktregulierungen nach innen und außen durchgesetzt werden können. Indem solche Absprachen gefunden, erfunden, ausgehandelt werden, wird Globalität zum Thema, zur Konfliktachse eben nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch im Alltag der Menschen rund um den Globus.

Aus alledem folgt: Die Aufgabe politischen Handelns in einer entfernungsloser und damit enger und konfliktreicher werdenden Welt ist es, mit aller nur möglichen menschlichen Schöpferkraft und politisch-institutionellen Phantasie transnationale Foren und Formen einer geregelten, das heißt anerkannten und gewaltfreien Austragung sich ausschließender und oft befeindender nationaler, religiöser und kultureller „Egoismen" zu schaffen und zu erproben und mit aller verfügbaren Anstrengung und Macht in die Tat umzusetzen. Dies wird – soviel ist sicher – nicht von selbst kommen. Damit diese Idee transnationaler Institutionen, transnationaler Konfliktanerkennung und -austragung, ein Herzstück kosmopolitischer Demokratie, politisch Gestalt und Macht gewinnt, bedarf der Begründung und Gründung eines neuen politischen Subjektes: nationaler Bewegungen und Parteien der Weltbürger. Dazu aber können transnational agierende und orientierte Bürgerinitiativen und zu schaffende Bürgerarbeitszusammenhänge entscheidende Anstöße, Grundlagen und praktikable Modelle entwickeln.

Orte und Ansatzpunke transnationaler Konfliktregulierung

Auf der Hand scheint eine Politik zu liegen, die sich an dem Gulliver-Prinzip orientiert: Viele politische Zwerge fesseln die nationalstaatlichen Riesen. Aber genau das wäre zu kurz gedacht und gesprungen. Vielmehr muß das Doppelprinzip der Konfliktregulierung neu ausbuchstabiert werden: Anerkennung der Gegensätze, Unterschiede und Konflikte (deren Entmilitarisierung in Taten und Worten, also Gewaltfreiheit) sowie das politische Ziel, legitime Orte und verfahrenstechnische Regeln der Konfliktaustragung zu schaffen. Dabei stellen sich viele Fragen:

Wo können solche transnationalen Experimente mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden? Sicherlich in Europa. Das Zurück zur nationalstaatlichen Demokratie ist pure Illusion. Es gibt keine Demokratie mehr in Europa – es sei denn ein transnational erweiterte. Gerade nach der Einführung der Währungsunion muß Europa mit neuen politischen Ideen gestärkt werden. Denn nur ein starkes Europa ist in der Lage, die absehbaren sozialen und politischen Folgeprobleme des Euro und die sich daraus ergebenden Turbulenzen abzufedern und zu bewältigen. Auch ist nur ein starkes Europa in der Lage, seine Erfindung des Politischen für die globale Epoche neu ausbuchstabieren. Und zwar in einem Sinne, daß beispielsweise möglich wird, als Brite, Pole oder Italiener in den deutschen Wahlkampf einzugreifen, weil man Mitglied einer europäischen Partei ist, die in allen europäischen Staaten präsent ist – einzugreifen, weil in diesem deutschen Wahlkampf europäische und eben auch globale Politik betrieben wird, nur unter falschen, nämlich bloß nationalem Vorzeichen.

Es stellt sich auch die Frage der Vermittlungsebene: Wo sollen die Konflikte institutionalisiert werden – transnational, global oder national und lokal? Schließen sich diese verschiedenen Vermittlungsebenen und Orte aus? Die Lehre, die aus den Erfahrungen transnationaler Bewegungen gezogen wird, lautet im allgemeinen: Aktivitäten auf den verschiedenen Ebenen ergänzen und verstärken sich wechselseitig. Aber vielleicht sind das Erfahrungen, die aus der relativen Machtlosigkeit dieser Bewegungen herrühren und dann nicht mehr gelten, wenn machtvolle Egoismen machtvoll zum Ausgleich gezwungen werden sollen? Dann vor allem die Frage: Wie läßt sich das große politische Ziel einer Institutionalisierung transnationaler Konflikte kleinarbeiten? Wie sähe – übertragen gedacht – die »Tarifautonomie" zwischen Türken und Deutschen in Berlin aus, die es erlaubt, beiderseitige Konfliktperspektiven auszutragen?

  1. Orte der Begegnung schaffen und für diese Öffentlichkeit herstellen;
  2. für die Anerkennung und Durchsetzung von Grundrechten streiten und kämpfen; neue machtvolle Akteure dafür gewinnen, entsprechende Koalitionen schmieden und auf Dauer stellen; in diesem Sinne hat kürzlich Amnesty International einen Vorstoß unternommen, um die Akteure der Wirtschaft – Unternehmen und Banken – dafür zu gewinnen, sich aktiv für Schutz und Förderung der Menschenrechte einzusetzen – einerseits um diesen Grundsätzen in ihrem eigenen, unmittelbaren Handlungsrahmen Geltung zu verschaffen (etwa für ihre Mitarbeiter den Schutz vor Diskriminierung, das Recht auf Leben und Sicherheit der Person, den Schutz vor Sklaverei, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Kritik usw. durchzusetzen). Zugleich wird aber auch die Wirtschaftswelt dazu aufgefordert, ihre moralische und rechtliche Verantwortung in einem darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Raum und Rahmen wahrzunehmen (beispielsweise die Einhaltung von Menschenrechten zum Bestandteil von Investitionsentscheidungen in einem Land zu machen). Noch immer werden Todesstrafe, Folter, politische Gefangene und andere Verletzungen der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Kauf genommen, wenn es dem Geschäft nicht schadet; diese Praxis zu beenden, liegt sehr wohl im Machtbereich der Konzerne. Ein entsprechender Wandel der betrieblichen Politik könnte eine – durchaus werbewirksame – Glaubwürdigkeit erzeugen, die sich ein Konzern unter Einsatz seines gesamten Werbeetats niemals kaufen kann.
  3. Transnationale Interessenorganisationen und politische Parteien gründen oder die bestehenden entsprechend reorientieren und reorganisieren; also Formationen schaffen, welche die noch gegeneinander abgeschotteten nationalen …ffentlichkeiten und Politikarenen für transnationale Konflikte, Themen, Werte öffnen und aktivieren. Ohne eine solche Erprobung transnationaler Konfliktregulierungen im Zentrum der nationalstaatlichen Interessenorganisationen, Parteien, aber auch in den Parlamenten selbst, droht die vor uns liegende Phase in eine nachpolitische Ära der Hochtechnokratie einzumünden. Die Bedeutung und Macht entsprechender transnationaler Netzwerke und politischer Organisationen liegt im Aufdecken, Transparentmachen und Austragen der kulturellen und politischen Gegensätze und „Egoismen" begründet. Doch auch die Schwierigkeiten, mit denen sich diese transnationalen und inner-nationalen Organisationen konfrontiert sehen, sind riesig. Schon jetzt scheinen beispielsweise die Gegensätze zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union in Fragen der Qualität und der Sicherheit von Nahrungsmitteln kaum noch zu überbrücken zu sein. Und derartige Schwierigkeiten werden um so größer sein, je gegensätzlicher die kulturellen Hintergründe, Einkommenslagen und politischen Systembedingungen zwischen den beteiligten Ländern und Regionen sind, etwa zwischen Afrika, Südamerika oder Asien. Transnationale oder kosmopolitische Parteien müssen nicht nur diese Gegensätze in sich austragen und aushalten, sie müssen auch die dafür nötige politische Kraft in identitätsbildenden Konflikten mit, also: gegen Re-Nationalisierungsbewegungen gewinnen. Mit anderen Worten, sie müssen die Eigenständigkeit einer Ethik und Rationalität transnationaler Konfliktregulierung in ihrem jeweiligen national-kulturellen Milieu erkämpfen und entfalten.
  4. Das neue Machtspiel mehrörtiger Politik eröffnen, ein- und ausüben; transnationale Bürgerbewegungen und Parteien ziehen damit mit den Konzernen gleich und brechen aus der territorialen Falle nationalstaatlicher Politik aus, indem sie hier wie dort tätig werden und so am Ende Nationalstaaten gegeneinander ausspielen können. Nach dem Motto: Von der Wirtschaft lernen, heißt siegen lernen!
  5. Neue Institute der geregelten Konfliktaustragung zwischen Staaten schaffen; Mediatoren, Schiedsrichter und Schlichtungsverfahren entwickeln und erproben. Das aber heißt, es muß Weltbürgerbewegungen und -parteien französischer, nordamerikanischer, polnischer, deutscher, japanischer, chinesischer oder südafrikanischer Provenienz geben, die im Zusammenspiel miteinander in den unterschiedlichen weltgesellschftlichen Nischen und Blickwinkeln um das Durchsetzen transnationaler Institute der Konfliktaustragung ringen.

Doch wer kommt als Träger einer solchen transnationalen Bürgerbewegung überhaupt in Frage? Dort, wo Globalität zum Alltagsproblem oder zum Gegenstand der Kooperation wird – in den Metropolen, den global cities und in transnationalen Organisationen –, dort bilden sich Milieu und Selbstbewußtsein einer Bürgerschaft der Weltgesellschaft heraus, mit einem postnationalen Verständnis von Politik, Verantwortung, Staat, Gerechtigkeit, Kunst, Wissenschaft, öffentlichem Austausch. In welchem Ausmaß dies heute schon absehbar der Fall ist oder in Zukunft sein wird, ist ein allerdings empirisch und politisch völlig offenes Problem. So viel ist klar: Der Internet-Anschluß allein erzeugt noch keinen Weltbürger.

Auch darf die multi-ethnische Weltgesellschaft nicht verklärt werden. Sie ist weniger mit dem Bild des Schmelztiegels, eher mit dem der Salatschüssel zu beschreiben, in der die kulturellen Identitäten farben- und konfliktreich neben- und gegeneinander existieren7 - doch nicht nur Toleranz und Freude an widersprüchlicher Vielfalt, auch Abschottung und Fremdenhaß wachsen. Diese Reaktionen zeigen keineswegs an, daß das multi-kulturelle Experiment gescheitert sei, wohl aber, daß bislang noch nicht die geeigneten Foren und Formen transnationaler Konfliktregulierung vorhanden sind.

Die Erwerbsgesellschaft neigt sich ihrem Ende zu, je mehr die Menschen durch den Einsatz intelligenter Technologien ersetzt werden. Muß dies in eine Katastrophe einmünden? Nein, im Gegenteil: Nur wenn es gelingt, alles passive Schuften und alles aktive Bewirken auf Maschinen abzuschieben, werden die menschlichen Schöpferkräfte frei, um sich den großen Fragen der zweiten Moderne zuzuwenden und diese kleinzuarbeiten. Ob dies gelingt, kann niemand – weder positiv noch negativ – voraussagen. Warum also nur entweder pessimistisch oder optimistisch sein und nicht beides zugleich? Denn die Frage, ob eine europäische Weltbürgerbewegung wirklichkeitsmächtig wird, kann nur dort eine Antwort finden, wo sie hingehört, also im politischen Raum, mithin praktisch. Und zwar als Experiment: Weltbürger aller Länder vereinigt Euch!

Der Auszug aus dem Beitrag "Modell Bürgerarbeit" wurde mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlags dem zweiten Band der Buchreihe "Expo2000 - Visionen für das 21. Jahrhundert" entnommen.

Ulrich Beck: Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft. Campus Verlag 1999. 255 Seiten. DM 36.-

Ulrich Beck: Die Bedeutung von transnationalen Institutionen
Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft. Ein Gespräch mit Ulrich Beck.
Von der Politik zur Subpolitik, vom Nationalstaat zum Transnationalstaat. Ein Gespräch mit Ulrich Beck.