Wie wollen wir wohnen?
Über architektonische Qualität und Bauherrngeschmack
„Wer immer in allen Jahrhunderten nur ein Notwendiges plante“, so formulierte es der Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels, „hat auch das Notwendige nicht erreicht. Die Menschheit bedurfte des emotionalen Bezuges zu ihren Wohnstätten, sie forderte die ästhetische Überhöhung, eine Kultur der Gestaltung, die dem Alltag mehr als allein Glanz verleiht.“
Nun, damit ist es heute scheinbar nicht mehr weit her. Man reibt sich mitunter die Augen, wenn man auf größere Wohnungsbauprojekte – zumal im städtischen Kontext – blickt: Was sich seinerzeit als veröffentlichtes Wettbewerbsergebnis ins Gedächtnis eingebrannt hat, offenbart sich nun, nach der Fertigstellung, bloß als vage Reminiszenz. Die gescheiterte Werkbundsiedlung in München ist insofern eher Regel denn Ausnahme, als ambitionierte Architektur beim Wohnungsbau, so er denn über einzelne Einheiten hinaus geht, auf der Strecke bleibt. Die Beispiele sind Legion: Zunächst ein hochmögendes und veröffentlichtes Planungsverfahren, und dann wird doch etwas ganz anderes gebaut.
Was klingt wie das übliche Lamento jenes Architekten, der sich hinterrücks seiner Gestaltungshoheit beraubt sieht, lässt zumindest zwei tiefergehende Ursachen erahnen. Die eine hat mit einem strukturellen Konservatismus der Bauherrenschaft, auch der großen Wohnungsbaugesellschaften, zu tun. Die andere mit den Wertvorstellungen der Nutzer. Die Architektur wird damit gleichsam in die Zange genommen. Einerseits von den Investoren: In der Regel sind sie – oder verstehen sich als – Teil eines Milieus, das Wohnen habituell buchstabiert. Sie folgen vermeintlich abgesicherten und tendenziell retroaktiven Vorstellungen von Behausung. Sie sind damit in den wenigsten Fällen die Träger von Innovation. Und da treffen sie sich, andererseits, mit den Bewohner und Nutzern: Mag man das bürgerliche Familien- und Wohnmodell auch als ein "hegemoniales‘ Kulturkonzept werten, so muss man doch sehen, dass die in diesem Modell implizierten Vorstellungen von Lebensqualität sich de facto bis heute als außerordentlich attraktiv erwiesen haben.
Glücklich aber scheint mit den gebauten Ergebnissen niemand recht zu sein. Offenbar wollen Menschen sich nicht nach Maßgabe von Grundrissen erziehen oder von der Architektur erklären lassen, wie sie wohnen sollen. Denn in der Regel sah man einfach großzügig darüber hinweg, dass das Haus ein Gebrauchsgegenstand, dass Architektur (auch) eine Dienstleistung ist. Als solche hat sie in erster Linie die Bedürfnisse der Bewohner zu erfüllen. Das meint mitnichten nur die elementaren. Vielmehr muss sie auch Unterstützung bei der eigenen Selbstverwirklichung gewähren: „Erlebnisansprüche“, so formulierte es der Soziologe Gerhard Schulze, „wandern von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Maßstab über Wert und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.“
Mittels Funktionalisierung wird jedoch das vielschichtige mentale und psychologische Phänomen menschlicher Wohnbedürfnisse noch immer auf objektivierbare und messbare Zweckkategorien reduziert. Mit dieser von Max Weber als "Entzauberung der Welt" bezeichneten Entwicklung verkümmert die Teilhabe des Menschen an seiner Wohnumwelt. Letztendlich wird aus dem "Bewohner" damit der "Nutzer", dessen vitale Ansprüche an den Wohnbereich in der Scheinobjektivität einer planungskonformen Bedürfnis-Interpretation verlustig gehen.
Spätestens mit den Großsiedlungsbau nahm das Gefühl der Vermassung und Anonymität, der Gleichförmigkeit und Isolierung greifbare Formen an; und folgerichtig hagelte es Kritik. Zwar gibt es in den letzten Jahren viele Gegenkonzepte, die auch prominent kommuniziert wurden: Etwa Werner Sobeks Glashaus am Hang (Stuttgart) oder Rem Koolhaas' „Maison à Bordeaux“. Auch Ben van Berkel wäre zu erwähnen, wenn er eine geometrische Form namens Möbius-Band zum Vorbild nimmt, eine Endlosschleife, eine Achterbahn aus Glas und blankem Beton. Aber solche Beispiele bilden entweder einen exklusiven Nischenmarkt oder eine Art architektonisches Reservat, in dem "das Wohnen" allenfalls eine symbolische Verwirklichung erfährt, auf die psychische und physische Geographie der Gegenwart jedoch kaum Einfluss ausübt. Warum ist die Binnendifferenzierung unserer heutigen Sozialbau- oder Mietwohnungen oder auch des Eigenheims in der Regel kaum weiter fortgeschritten als im Nürnberger Stadthaus der Dürerzeit oder ein Jahrhundert später in den Niederlanden? Und dass durch eine missverstandene Individualität am Bau gerade die geistlosesten und gleichförmigsten Gebäudehaufen entstehen, ist in nahezu jedem beliebigen Wohngebiet zu studieren.
Hält man aus dieser Warte Ausschau, so bleibt die Rolle der Architektur seltsam indifferent. Aller Intensität und Kreativität zum Trotz, die namhafte Architekten seit einem Jahrhundert im Entwurf von Wohnungen und Wohnhäusern an den Tag gelegt haben, sind deren Grundkonstanten nicht aus den Angeln gehoben worden: Man will offenbar wohnen wie gewohnt. Und der "Bedürfnishaushalt" der Allgemeinheit deckte sich zu keiner Zeit mit den der Avantgarde.
Freilich aber ändert sich auch der. In immer neuen Umfragen sucht man heute den gewandelten Wohnwünschen der Nutzer auf den Grund zu kommen. Doch was dabei herauskommt, ähnelt dem Befund, den der Dichter Kurt Tucholsky schon 1927 in die sarkastische Erkenntnis gekleidet hatte: „Ja, das möchte'st de: Vorn die Ostsee, und hinten die Friedrichstraße.“ Tatsächlich stehen bei den Wohnwünschen befragter Familien so gegensätzliche Begehrlichkeiten gleichberechtigt nebeneinander wie „geringe Umweltbelastung durch Straßenverkehr/grünes Wohngebiet“ und „der PKW-Parkplatz muss in der Nähe sein“. Bei so unklaren oder gar widersprüchlichen Voraussetzungen bedeuten Konzepte insbesondere für "neues urbanes Wohnen" eine Quadratur des Kreises.
In der Vergangenheit – und längst nicht nur bei der IBA "87 in Berlin – wurde seitens der öffentlichen Hand eine Qualitätskontrolle (bis zu einem gewissen Maß) exekutiert. Diese vollzog sich indes weniger über die verbindliche Bauleitplanung als vielmehr über staatliche Subventionen. Und im gleichen Maße, wie die Wohnungsbauförderung zurückgefahren wurde, verliert die Politik an Einfluss – gerade auf die (städte)bauliche Gestaltung. Einem Investor, dem man kein Geld mehr zahlt, wird man noch schlechter als bisher die im öffentlichen Interesse liegenden Ziele der (Städte)Baupolitik diktieren können. Zudem muss man sehen: „Die Developer von heute sind nicht mehr Bewohner einer Stadt, sondern transnationale Korporationen, schweifende Kapitale. Sie erkunden“, so kritisierte Rem Koolhaas schon vor einiger Zeit, „in fast biologisch-instinkthafter Weise Anlage- und Profitmöglichkeiten jeder Art, auch auf vulgärster Ebene“. Selbst die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften sind gezwungen, „marktkonform“ zu agieren, mitunter auch eine gewisse Rendite ans kommunale Säckel abzuführen. Auch haben die einst wichtigen technischen Geschäftsführer, meist gelernte Architekten, zugunsten der kaufmännischen an Einfluss verloren.
Der Qualität von Architektur – auch unserem Erlebnishunger nach einem stimmigen Stadtbild – sind all diese Tendenzen wenig förderlich. Wie aber könnte man sich aus diesen Dilemmata befreien? Wenn man weiß, dass es stets gefährlich ist, sich bei Investitionen, die auf lange Frist Geltung behalten, auf einen abgeschlossenen Kanon von Funktionen und Bedürfnissen zu beziehen – dann lässt sich ableiten, dass "Neutralität" der Bau- und Siedlungsstruktur künftig ein zentrales Kriterium darstellt. Sie mag auf dem ersten Blick den immer wieder geäußerten Bedürfnissen der Menschen nach konkreten, figürlichen, gut verständlichen architektonischen und städtebaulichen Zeichen, nach Vertrautheit, Wärme und Gefühl widersprechen. Doch gerade indem sie sich der unmittelbaren sinnlichen Aneignung entzieht, befreit sie das Bauen von der Einengung einer besonderen Aussage für eine besondere Kundschaft in einem besonderen historischen Augenblick. Den Bauträgern und Wohnungsunternehmen aber wird damit einiges abzuverlangen sein: Dass nicht nur angeboten wird, was gewünscht ist. Niemand wird behaupten, dass dies einfach ist. Aber notwendig!