Wieso der ukrainische Vorstoß bei Kursk Putin kalt lässt
Kiew verfolgt mit der Invasion politische Ziele. Doch Russlands Strategie bleibt unverändert. Die Popularität des Präsidenten ist weiterhin stabil.
Als die ukrainische Armee ihre Invasion in das russische Gebiet Kursk begann, verfolgte sie neben dem militärstrategischen Ziel, die russischen Angriffstruppen aus dem Donbass zu vertreiben, auch politische Ziele. Einerseits sollte die Moral der eigenen Truppen und der eigenen Bevölkerung, gestärkt werden, was kurzfristig gelang.
Zudem wollte man die Moral des Kriegsgegners durch die Besetzung seines eigenen Territoriums mit fremden Truppen schwächen – so etwas hatte es in Russland schließlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.
Folglich nannte es Putin in dieser Woche eine "heilige Pflicht", "die ukrainischen Streitkräfte wieder aus der Region Kursk zu vertreiben". Ist dieser Pathos ein Zeichen dafür, dass das Ansehen des Systems Putin wackelt oder gar die Stabilität durch den Angriff erschüttert ist? Führende Experten stellen das in Abrede.
Verbale Aufrüstung statt Truppenabzug aus dem Donbass
Die beiden US-Experten für internationale Sicherheit, Michael Kofman und Rob Lee, sehen in der Fachzeitschrift Foreign Affairs den militärischen Erfolg der Ukraine-Offensive als begrenzt an. Es gebe "kaum Anzeichen dafür", dass Russland nennenswerte Kräfte von anderen Fronten abgezogen habe, um die Offensive abzuwehren.
Vielmehr begegneten die Russen den einfallenden Ukrainern mit einer "bunt zusammengewürfelten Gruppe von Wehrpflichtigen aus dem Landesinneren und regulären Einheiten, die von weniger wichtigen Frontabschnitten innerhalb der Ukraine abgezogen worden waren".
Wie passt diese eher zweitklassige Antwort zu Putins alarmierenden Worten? Die Analysten des Fachportals Re:Russia vermuten hinter solchen Reden eine im August beschlossene Kreml-Strategie. Man habe entschieden, die Offensive im ostukrainischen Donbas unter keinen Umständen zu stoppen oder zu verlangsamen, sondern mit Blick auf Kursk "das Schlachtfeld in die Informations- und Propagandasphäre zu verlagern".
Zunächst geschah dies, indem die Bedeutung der Ereignisse heruntergespielt wurde. Putin sprach von einer "Situation" in Kursk, von "eingedrungenen Banditen", als handele es sich um einen kurzfristigen Überfall. Nun, da die ukrainische Besetzung nachweislich nicht so kurzfristig ist, rüstet er verbal auf, spricht von einer "heiligen Pflicht".
Tatsächlich aber ist auf dem Schlachtfeld keine Änderung der bisherigen Strategie erkennbar, möglichst keine starken Truppen aus dem Donbass nach Kursk abzuziehen. Re:Russia sieht dahinter das Kalkül des Kremls, dass ein erfolgreicher Durchbruch im Donbas "die Auswirkungen der Kursker Invasion fast vollständig neutralisieren" würde.
Fragwürdige Umfragen in Russland
Generell ist die Bedrohung der Stabilität von Putins Herrschaftssystem durch Kursk nicht so groß, wie es sich manch westlicher Journalist wünscht. In vielen deutschsprachigen Presseartikeln wird auf einen Rückgang der Popularität Putins in den Umfragen der staatsnahen Forschungsinstitute FOM und WZIOM seit Beginn des Angriffs auf Kursk verwiesen.
Dem ist entgegenzuhalten, dass die dort ausgewiesene Unterstützung von einem sehr hohen lediglich auf ein immer noch hohes Niveau gesunken ist (um 5,1 Prozent auf 75,7 Prozent bei WZIOM).
Unpolitische Bevölkerung und selbstbewusster Kreml
Das bedeute nicht, so der Moskauer Soziologe Grigori Judin, dass die Bevölkerung tatsächlich "oppositionell" sei. Viele Russen seien kaum an politischen Themen interessiert, hätten zu konkreten Fragen keine Meinung. Es herrsche die Meinung vor, dass die eigene Meinung ohnehin keinen Einfluss auf die reale Politik habe.
"Hört Putin damit auf, Zar zu sein? Oder wird der Krieg aufhören? Niemand glaubt das, und das zu Recht", ist Judin überzeugt. "Russland ist ein extrem entpolitisiertes Land und sobald das Gespräch auf Politik kommt, wird der Gesprächspartner sicher versuchen, das Thema zu wechseln, weil er sich unwohl fühlt." Das führe auch zu vielen Abbrüchen und Verweigerungen, wenn sich persönlich Unbekannte von Meinungsforschungsinstituten melden.
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Der Journalist und Kremlkenner Andrej Perzew glaubt auch, dass die Umfrageergebnisse nicht ohne vorherige Rücksprache mit dem Kreml selbst veröffentlicht wurden.
Dieser sei nach wie vor von der eigenen Popularität in der Bevölkerung überzeugt und halte sie derzeit nicht für gefährlich. Solange die russische Kriegswirtschaft läuft, ist in einem solchen Klima eine Protestbewegung von unten allein wegen der Invasion eines Teils einer für die meisten Russen weit entfernten Region äußerst unwahrscheinlich.
Die Ohnmacht der russischen Kriegskritiker
Ähnlich wie in der Bevölkerung ist auch eine Destabilisierung von Teilen der russischen Eliten selbst bei einem weiteren erfolgreichen Verlauf der Kursker Offensive sehr unwahrscheinlich. Die russische Politologin Tatjana Stanowaja glaubt, dass militärischer Druck mit Unterstützung des Westens "Putins Entschlossenheit, die Ukraine in ihrem jetzigen Zustand zu zerstören, nur noch verstärken wird". In der politischen Elite des Landes sei das zwar nicht unumstritten. Aber die Andersdenkenden seien derzeit vollkommen machtlos:
Diejenigen, die wirklich wollen, dass der Krieg aufhört und die bereit sind, über Zugeständnisse nachzudenken, sind nicht einmal in der Lage, ihre Meinung zu äußern. Geschweige denn, etwas zu tun. Politisch existieren sie nicht, zumindest im Moment nicht.
Tatjana Stanowaja, russische Politologin
Ultrapatrioten im Würgegriff des Kremls
Wenn Putin Friedensangebote mache, so Stanowaja, dann aus einer Position der Stärke heraus, mit dem Kalkül einer Niederlage der Ukraine, eines russischen Vormarsches und eines schwachen Westens.
Ein weiterer Erfolg der ukrainischen Offensive würde dieses Bild trüben und vor allem den Zorn der Ultrapatrioten in der russischen Politik hervorrufen. Das Gesamtsystem wäre dadurch aber nicht gefährdet.
Die Unzufriedenheit und die Kritik der "wütenden Patrioten" waren ein ständiger Bestandteil des Krieges, und seit der Kreml Prigoschins Meuterei niederschlug und sich mit Prigoschin selbst auseinandersetzte, konnte dieser "patriotische" Zorn besser unter Kontrolle gehalten werden. Heute hindert den Kreml nichts mehr daran, seine Loyalisten notfalls zum Schweigen zu bringen.
Tatjana Stanowaja
Somit ist die ukrainische Offensive bei Kursk, unabhängig von ihrem weiteren militärischen Verlauf, in keiner Weise geeignet, die politische Situation in Russland über eine gewisse Beunruhigung hinaus zu beeinflussen.
Weder in der Bevölkerung noch in den politischen Eliten gibt es eine reale Kraft, die diese Besorgnis über die Besetzung eigener Gebiete durch den Kriegsgegner in eine Erschütterung der politischen Macht ummünzen könnte. Selbst dann nicht, wenn die Offensive der Kiewer Truppen weiterhin erfolgreich sein sollte, was auf längere Sicht keineswegs sicher ist.