"Wir bauen uns unser eigenes Gefängnis"

Seite 2: "Die Gefahr der Technik ist, das wir nur noch technisch denken"

A propos Theologie: Historiker Yuval Noah Harari spricht in Homo Deus (2019) – wie Skinner – auf Grundlage der (neuesten) wissenschaftlichen Erkenntnisse dem Menschen ebenfalls seine Autonomie – man könnte auch pathetisch sagen: seine Seele – ab.

Durch die technischen Möglichkeiten – bis hin zum Internet of Bodies und dem Internet of Bio-Nano-Things – wird der enträtselte Mensch zur optimierbaren Biomasse, zum "hackable animal", sagt Harari. Damit steht der Historiker in der Tradition des von Julian Huxley geprägten Philosophie des Transhumanismus, letztlich: der Eugenik.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Ja, "Homo Deus" habe ich auch gelesen. Der hätte sich besser mal mit Sartre beschäftigen sollen (lacht). Egal, ob der Mensch von einem Algorithmus komplett durchleuchtet werden kann, was ihn ausmacht, ist der Widerstand, das was sich der Kontrolle entzieht. "Technik lässt uns denken", hat [Martin] Heidegger gesagt. Die Gefahr der Technik ist, das wir nur noch technisch denken.

Wir denken die Welt in Kilometern, Flugstunden, in Uhrzeiten. Dazu bekommen wir immer mehr technische Bilder geliefert. In einer Weise, wie man es sich vor 200 Jahren noch nicht vorstellen konnte.

[Philosoph Walter] Benjamin hat das in seinem Kunstwerk-Aufsatz [Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)] ja deutlich gemacht: Die Fotografie hat die Wahrnehmung unserer Welt verändert. Heute haben wir eine durchgestylte Bilderwelt, die uns in die entlegensten Winkel der Alpen verfolgt. Wir erleben die Welt schon gar nicht mehr, wir schicken nur noch Bilder.

Wir funktionieren also nach Skinners Reiz-Reaktions-Muster?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau, und der technokratische Staat tut auch alles, dass wir diesem Bild immer mehr entsprechen. Am Ende gibt das Harari Recht: Die Menschen wollen das.

"Wer sich nicht fürchtet, für den gibt es eine Pflicht zur Furcht"

Ist der technokratische Staat alternativlos? Klima-Aktivistin und Grünen-Parteimitglied Luisa Neubauer hat im Oktober mit der Aussage für Irritationen gesorgt, man habe im Notstand eben nicht mehr die Wahl zwischen Zeit und Demokratie. Halten Sie Nachhaltigkeit in der oben beschriebenen Form noch für vereinbar mit demokratischen Prinzipien?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Die Frage ist schon falsch gestellt, weil das Problem ein anderes ist. Vor kurzem hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, dass einer von den Fridays-For-Future-Leuten in Lützerath Das Prinzip Verantwortung [Hans Jonas, 1979] dabei gehabt hätte.

Das war eben auch jene Luisa Neubauer.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Ach was. Ja dann trifft sich das ja gut. Jedenfalls: Das Interessante daran ist: Der Diskurs der Verantwortung geht mit Max Weber los. Der sagt die Verantwortung liegt bei den obersten Politikern und den Managern.

Der Bürokratische Rationalismus steuert, der Politik-Betrieb lenkt.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau. Dann kommen Sartre und Levinas und sagen: Jeder ist frei. Und dann kommt Jonas, und der sagt nein, es braucht den Staatsmann, es braucht die Verantwortung.

Dabei unterstellt er, dass nur die Staatsmänner der Verantwortung gerecht werden, das tumbe Volk ist nicht dazu in der Lage. Bei seiner Friedenspreisrede [1987] ist Jonas dann zurückgerudert: Er habe ja nicht einer Diktatur das Wort reden wollen, sondern nur davor warnen, dass es bald einmal zu spät sein wird.

...so wie Frau Neubauer.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Anscheinend. Was Jonas wider Willen gezeigt hat, ist, wie das apokalyptisches Denken funktioniert. Wer sich nicht fürchtet, für den gibt es eine Pflicht zur Furcht. Das ist das Modell [des italienischen Fürsten Niccolò] Machiavelli: "Du kannst dein Volk nicht zur Liebe zwingen, aber es durch Furcht lenken." Jonas hat – ohne es zu ahnen – dieses Modell entlarvt, mit der drohenden Apokalypse Politik zu machen. Und die Leute verstehen es als Anleitung.

Der Weltuntergang ist eine Ideologie, die ihren Ursprung im Alten Testament hat. [Historiker] Johannes Fried hat [in Dies Irae – Geschichte des Weltuntergangs (2016)] gezeigt, dass das Thema ab dem 16. Jahrhundert aus der christlichen Religion verschwindet. Und wohin wandert es aus? In die Wissenschaft, wo es bald hinter jedem scheinbar unbeherrschbaren Phänomen lauert. Und so kehrt auch die Medizin schließlich in die Theologie zurück.


Hans-Martin Schönherr-Mann
Die Lebenskünstlerin und ihr Herr: Über die Medizinisierung der Welt
‎ Matthes & Seitz Berlin, 15,– Euro
ISBN: ‎ 978-3751805612

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