Wir brauchen Öko-Punks!
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Aktivisten der Letzten Generation pfeifen auf die Vernunft der Mehrheitsgesellschaft und sind damit vielleicht auf der Spur einer wichtigen kulturellen Innovation. Ein Einwurf zur Debatte.
Eine neue Welle des Ökoaktivismus hat die Schwelle des noch vernünftig Rechtfertigbaren überschritten – so ein scheinbar breiter Konsens in der medialen Debatte.
Wenn Aktivist:innen der Letzten Generation sich zu Stoßzeiten an Hauptverkehrsadern kleben, und besonders wenn sie Tomatensuppe gegen klassische Kulturschätze von Picasso und Van Gogh schmeißen, dann ist der Bogen überspannt, und selbst der deutsche Bundespräsident fühlt sich gehalten, diese Aktionen als "nicht hilfreich" zu verurteilen.
Zwar sei er "wirklich froh darüber, dass es eine wachsende Sensibilität in Umweltfragen gibt", doch solle man vernünftig bleiben, denn sonst leide "die breite gesellschaftliche Unterstützung für mehr und entschiedeneren Klimaschutz".
Zu selben Zeit flogen die Repräsentant:innen von Staaten und Großkonzernen mit Hunderten von Privatjets zum COP27, um dort über Klimafragen zu diskutieren. Einen wirklichen Fortschritt erwartete sich niemand, aber man war froh, zumindest im Dialog zu bleiben.
Die Veranstaltung wurde unter anderem von Coca Cola gesponsert und auch über 600 Lobbyist:innen der fossilen Industrie finden sich im Luxusressort von Scharm El-Scheich ein – womit sie die Vertreter:innen der zehn am stärksten vom Klimawandel betroffenen Staaten zahlenmäßig übertrumpfen.
Was ist, wenn die Aktionen der Letzten Generation auf eine entscheidende Entwicklung innerhalb der ökologischen Bewegung hindeuten? Eine, die die Last der Vernunft von ihren Schultern abwirft? Was ist, wenn das eine gute und wichtige Entwicklung ist?
In einer Welt, in der die ökonomische, politische und soziale Vernunft sehenden Auges in den Abgrund rast, ist es vielleicht eine Art des kommenden Öko-Punk oder Öko-Dada, die gerade durch ihre objektiv verrückten Aktionen die objektive Verrücktheit unseres Systems am effektivsten aufzeigt.
Dadurch wäre nebenbei auch endlich ein großer blinder Fleck vieler bisheriger öko-aktivistischer Bewegungen adressiert: dass "Natur" immer schon ein kulturelles Produkt war und als solches politisch zu bekämpfen ist.
Die Natur ist ein Kulturprodukt
"Natur" ist, wie ökologische Philosoph:innen wie der kürzlich verstorbene Bruno Latour nicht müde wurden zu betonen, kein neutrales und unschuldiges Konzept, sondern an sich schon Teil des Problems. Der Begriff der "Natur" hat sich in seiner heutigen Bedeutung erst im Laufe der früheren Neuzeit entwickelt und findet auch kein semantisches Äquivalent in anderen Kulturräumen.
"Natur" ist etwas dem Abendland eigenes und entstand zeitgleich wie unser ökologisch katastrophales Verhältnis zur Umwelt. Ein Zufall? Keineswegs! Denn "Natur" als etwas zu beschützendes, dem Menschen Äußerliches macht erst nach den frühen philosophischen Weichenstellungen eines René Descartes oder Francis Bacon Sinn, die den Menschen als von Gott privilegiertes, primär geistiges Wesen begreifen, denen – qua ihrer Vernunft – die Erde gegeben ist, um sie sich zum Untertan zu machen.
Es ist kein Wunder, dass sich z.B. Bacon direkt vom Vokabular der Hexenverbrennung und der Inquisition inspirieren lässt, wenn er empfiehlt, die Natur "auf die Folterbank zu binden", da sie ihre Geheimnisse nicht von sich aus hergibt.
Diese die moderne Wissenschaft entscheidend prägende Vernunft folgt einer patriarchalen Logik, die "Natur" als etwas Weibliches und zu Dominierendes begreift. Im Namen der "Natur" wurden so im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche rassistische und sexistische Ausschlüsse und Verbrechen legitimiert.
Schwarz und weiblich gelesene Personen wurden als der "Natur" näher und so als von der Vernunft des weißen Mannes zu beschützen und zu beherrschen verstanden. Wenn wir diesen Paternalismus auf die gesamte Natur unseres Planeten ausdehnen, weiten wir nur den patriarchalen Kontrollzwang auf planetare Dimensionen aus, ohne etwas an den katastrophalen Konsequenzen dahinter zu ändern.
Öko-Aktivismus gegen die Natur?
Der bisherige Öko-Aktivismus, besonders jener aus dem weißen Mittelstand, krankte oftmals an einem oftmals naiven Verhältnis zu dieser Natur. "Wir wollen die Natur retten", ist zwar von der Intuition her richtig, doch kauft man sich mit dieser Aussage einen Rattenschwanz an kolonialem und misogynem Erbe ein, der bislang die Anschlussfähigkeit an andere Emanzipationsdiskurse wie etwa die der anti-imperialistischen, feministischen, schwarzen oder Refugee-Bewegungen erschwerte.
Doch da das ökologisches Problem ohne die unterdrückerischen, kolonialen Ungleichheitsregime des globalen Extraktivismus nie entstanden wäre, braucht es diese intersektionale Perspektive notwendigerweise, um Lösungen zu finden. Durch ihre Ablehnung der Vernunft könnten die mutigen Aktivist:innen der Letzten Generation es schaffen, damit auch unser Verständnis von "Natur" zum politischen Problem zu erheben.
Bisher hielten die meisten öko-politisch Motivierten am wissenschaftlichen Diskurs als oberste und kaum hinterfragte Autorität fest. "Follow the science" ist eine zentrale Forderung der meisten Aktivist:innen. Dass "follow the science" vor 150 Jahren z.B. auch bedeutet hätte, schwarze Menschen als aufgrund ihrer Schädelform und Physiognomie (also ihrer "Natur") minderwertig anzusehen, wird heute zu oft vergessen.
Wissenschaften laufen stets intern kontrovers ab und bilden nie eine Einheit, der man so einfach als "the science" folgen kann. Die Forderung "der" (welcher?) Wissenschaft zu folgen, ist also an sich essentiell unwissenschaftlich. (Ich erinnere mich lebhaft an den engagierten Aufschrei einer befreundeten jamaikanischen Aktivistin, die sich neulich auf einem Berliner Diskussionspanel vor versammeltem weißen Bildungsbürgertum entrüstete: "Lasst mich in Ruhe mit Eurer Wissenschaft! Seit vielen Jahrhundert warnen Euch meine indigenen Vorfahr:innen vor dem katastrophalen Kurs, den ihr einnehmt. Jetzt erzählen euch ein paar weiße Dudes mit Doktortiteln dasselbe und plötzlich macht ihr Euch Sorgen?")
Die gegenwärtige Vernunftordnung produziert im wissenschaftlichen Betrieb zwar mehr als genug Information und Evidenz über die ökologische Katastrophe. Was fehlt sind realistische Szenarien, daran etwas zu ändern. Denn gleichzeitig ist es in derselben Gesellschaft weiterhin vernünftig, in fossile Brennstoffe zu investieren – ihre Kurswerte waren dieses Jahr um einiges volatiler als jene von "nachhaltigen Energiequellen".
Genauso ist es in Deutschland vernünftig, sich einen möglichst dicken Firmenwagen zu besorgen – denn so erhält man große Steuervorteile und wird von großen Teilen der weißen und männlichen Elite als ihresgleichen angesehen.
Mit der Vernunft alleine ist einem also in der gegenwärtigen stark ausdifferenzierten Gesellschaft des Spätkapitalismus nicht geholfen.