"Wir brauchen dringend einen Systemwechsel"

Seite 3: "Wir wollen nicht so enden wie die Linkspartei, die ausschließlich über Soziales spricht"

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Herr Schneider, die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Alexander Gauland haben die Flüchtlings- und die Europapolitik als die zentralen Punkte genannt, auf die sich die Partei konzentrieren werde. Hat Sie die Schwerpunktsetzung enttäuscht?

Jörg Schneider: Nein, wieso?

Ihr Feld, die Sozialpolitik, spielt eine untergeordnete Rolle. Wünschen Sie sich da nicht mehr Engagement?

Jörg Schneider: Sozialpolitik ist meist verbunden mit langen Zahlenkolonnen und komplizierten Berechnungssystemen. Das alles eignet sich nicht sonderlich gut für Schaufensterpolitik.

Sie stimmen also all jenen zu, die sagen, die AfD widme sich nur den Themen, die laut Umfragen am meisten polarisieren?

Jörg Schneider: Nicht nur, aber eben verstärkt, na klar. Wir wollen nicht so enden wie die Linkspartei, die ausschließlich über Soziales spricht. Sie verzwergt sich selbst. Damit gewinnt man keine Wahlen. Anders gesagt: Es ist nicht unser Anspruch, eine Nischenpartei zu sein, wir wollen mit unserer Politik die Mehrheit der Deutschen erreichen.

Weshalb verbindet Ihre Partei dann fast jedes Thema mit der Flüchtlings- und Migrationspolitik?

Jörg Schneider: Noch mal ganz deutlich: Wir haben bereits einige kluge Konzepte erarbeitet, weitere werden folgen, keine Sorge. Im Gegensatz zur Linkspartei stellen wir nicht alle Konzepte sofort ins Schaufenster. Ein Beispiel: Unser Rentensystem funktioniert nur bis zum Jahr 2031. Das ist ein Riesenthema. Aber wenn sie darüber mit den Bürgern sprechen, dann sagen die: "Ach, das ist doch noch lange hin." Kurz: Sie können mit solchen Themen nicht punkten.

Die Flüchtlings- und Migrationspolitik ist ein solches "Schaufensterthema"?

Jörg Schneider: Eindeutig ja, Das interessiert die Leute, damit sind sie besonders unzufrieden, sie haben Sorgen und Ängste. Dass die anderen Parteien all die Fragen mit schwammigen Sätzen beantworten, ist deren Problem. Es kommt uns entgegen, dass den Herrschaften das Thema immer wieder auf die Füße fällt.

Wir halten fest: Sie haben Konzepte, wollen den Wähler darüber aber nicht informieren, weil er sich aus Ihrer Sicht nicht dafür interessiert, richtig?

Jörg Schneider: Natürlich informieren wir über alle Themen. Das Thema "Zuwanderung" beispielsweise ist aber besser darstellbar, plakativer, ja greifbarer als komplexe Vorschläge für eine Reform der Sozialversicherungen. Und mit unseren Reden im Bundestag wenden wir uns schließlich an das gesamte Volk, nicht an ein Expertenkomitee. Im Gegensatz zu so manchen Abgeordneten der Altparteien wollen wir verstanden werden.

Hinzu kommt, dass ein Wechsel in der Flüchtlings- und Migrationspolitik viel schneller herbeizuführen ist als eine Änderung des Sozialsystems, das einem wie so ein Ozeantanker vorkommt, der für einen Kurswechsel einige Kilometer braucht. Fakt ist: Wir in der AfD beschäftigen uns sehr intensiv mit der Sozialpolitik, auch wenn das viele Journalisten nicht glauben. Für die Außendarstellung der Partei ist das allerdings nicht das wichtige Thema.

Betreibt die AfD eine Art Dauerwahlkampf?

Jörg Schneider: Nennen Sie es, wie Sie wollen.

Haben dann nicht diejenigen recht, die sagen, der AfD gehe es nicht darum, Probleme zu lösen, sondern Stimmungen zu verstärken und Ängste zu schüren?

Jörg Schneider: Einige Ansätze fallen zurzeit noch ein bisschen hinten runter, das gebe ich zu. Und ja, ich finde das schade. Aber ich habe Ihnen ja bereits erklärt, woran das liegt. Geben Sie uns Zeit. Wir wollen, gerade bei den sensiblen Themen, keine Anfängerfehler begehen. Wir wollen keine Anträge einbringen, die argumentatorische Schwächen aufweisen oder handwerklich schlecht gemacht sind. Wir wollen uns nicht blamieren.

Da drängen sich zwei Fragen auf: Erstens: Gehört das Flüchtlingsthema aus Ihrer Sicht etwa nicht zu den sensiblen Themen? Zweitens: Was antworten Sie denen, die der AfD vorhalten, sie bringe handwerklich schlecht gemachte Anträge ein und blamiere sich damit im Parlamentsalltag?

Jörg Schneider: Zu Frage eins: Mit "sensibel" meine ich hier Themen, die komplexe rechtliche Fragen berühren oder umfangreiche Berechnungen verlangen. In der Flüchtlingspolitik sehe ich uns dort gut aufgestellt, da ja viele Vorschläge - Aufnahmezentren in Nordafrika, Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild - schon von anderen Parteien aufgegriffen wurden.

Zu Frage zwei: Ich sehe es genau umgekehrt: Wenn wir zum Beispiel die Abschaffung des Doppelpasses fordern und die anderen Parteien rein emotional argumentieren, die Union gar sagt, der Antrag wäre ja in Ordnung, nur wegen der Begründung stimme sie nicht zu, dann haben unsere Mitbewerber wohl die wesentlich größeren Defizite.