"Wir brauchen dringend einen Systemwechsel"

Seite 4: "Im Bundestag wird endlich wieder debattiert und gestritten. Wir stellen unbequeme Fragen. Wir setzen die Regierung unter Druck"

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Freuen Sie sich darüber, wenn Kollegen aus anderen Parteien mit emotionalen Reden auf die Provokationen der AfD reagieren?

Jörg Schneider: Ich denke, da ist auch viel politisches Getöse dabei. Für mich ist es gar nicht so entscheidend, dass die anderen offiziell nicht mit uns reden wollen oder unsere Vorschläge empört ablehnen, nein, mir ist es wichtiger, dass wir Diskussionen anstoßen und dabei am Ende etwas Gutes herauskommt für Deutschland. Da muss dann nicht unbedingt AfD drunterstehen.

Für einen solch bescheidenen Ton ist Ihre Partei nicht bekannt. Ist das Teil einer neuen Strategie?

Jörg Schneider: (Lacht) Wenn wir weiter Erfahrungen sammeln, Debatten anstoßen und uns breiter aufstellen, werden wir irgendwann Regierungsverantwortung übernehmen, da bin ich mir sicher. Dann werden wir unsere Konzepte umsetzen. Bis dahin geht es auch darum, jene Leute in der Union, die spüren, dass etwas gewaltig schief läuft im Land, und die so richtig unzufrieden sind mit Angela Merkels Kurs, ja, dass wir diejenigen stärken.

Inwiefern?

Jörg Schneider: Wenn wir denen durch den einen oder anderen Anstoß die Möglichkeit geben, in ihrer eigenen Fraktion Gehör zu finden, sodass die nötige Mehrheit für bestimmte Kurswechsel zustande kommt, dann reicht mir das. Ich weiß, die wollen mit uns zurzeit nichts zu tun haben. Ich weiß, dass es in den kommenden Jahren keine gemeinsamen Projekte geben wird. Aber so funktioniert nun mal zurzeit die Politik in Deutschland. Sie können den tollsten Antrag stellen, der wird abgelehnt. Und zwei Wochen später kommt ein ähnlicher Antrag von derselben Partei, die uns dafür getadelt hat. Da steht dann aber nicht AfD, sondern CDU/CSU drauf.

Ähnliches werfen Mitglieder anderer Fraktionen Ihrer Partei vor. FDP-Chef Christian Lindner zum Beispiel sagte kürzlich, seine Partei habe einen Gesetzesentwurf vorgelegt, dass der Soli 2020 entfallen müsse. Binnen weniger Stunden habe die AfD ein Plagiat vorgelegt, mit dem Unterschied, dass der Soli sofort abgeschafft werden sollte. Ihr Kommentar dazu?

Jörg Schneider: Bei uns werden Anträge in den Arbeitskreisen erarbeitet - und in der Fraktionssitzung diskutiert und abgestimmt. Mal kurz einen Antrag der FDP kopieren und selber einreichen - so läuft das bei uns nicht. Und das Thema "Abschaffung Soli" ist ja nun nicht so exotisch, da kann es sicherlich durchaus vorkommen, dass etwa zeitgleich mehrere Parteien auf die Idee kommen.

Abgeordnete anderer Fraktionen sagen außerdem, viele AfD-Politiker träten in den Ausschüssen anders auf als auf der Bühne Bundestag, viele arbeiteten konstruktiv mit, heißt es. Herr Schneider, liefert die AfD gern eine Show ab im Bundestag?

Jörg Schneider: Würde ich das bestreiten, wäre das eine Lüge. Natürlich sind die Bundestagsdebatten, die auch auf Phoenix übertragen werden, für uns eine prima Gelegenheit, unsere Botschaften zu transportieren. Nur nebenbei: Die Einschaltquoten sind auch dank der AfD zuletzt ordentlich gestiegen. Im Bundestag wird endlich wieder debattiert und gestritten. Wir stellen unbequeme Fragen. Wir setzen die Regierung unter Druck. Und wer der AfD vorwirft, sie trete im Bundestag aggressiv oder unfair auf, der sollte sich die Debatten der vergangenen Wochen noch mal genauer anschauen. Speziell der Ton der Grünen uns gegenüber ist oft unterirdisch, geradezu peinlich.

"Wir als Partei disziplinieren uns da gerade ganz hervorragend"

Herr Schneider, sehen Sie die Gefahr, dass die AfD sich aufgrund von Führungs- und Flügelkämpfen selbst zerstört?

Jörg Schneider: Klar gibt es ein paar Kollegen, die sich persönlich nicht mögen, aber insgesamt haben wir eine tolle Atmosphäre in der Fraktion. Entgegen anderslautender Berichte gibt es keine Gräben in der Fraktion.

Wie würden Sie den Konflikt zwischen der Alternativen Mitte und dem nationalkonservativen Flügel Ihrer Partei beschreiben?

Jörg Schneider: Programmatisch und inhaltlich gibt es da kaum Differenzen. Es ist vor allem eine Frage des Auftretens und der Umsetzung: Die AM steht eher für moderate Töne und die Bereitschaft, in einer Regierung als ein Partner auf Grundlage notwendiger Kompromissen zumindest Teile unseres Programms durchzusetzen. Die Nationalkonservativen sind da kompromissloser, sowohl in der Sprache als auch in der Umsetzung.

Stellen die nationalistischen Aussagen einiger Ihrer Parteikollegen nicht eine Gefahr dar für die AfD?

Jörg Schneider: Wir sind da auf einem guten Weg: Die einen halten sich zurück und schaffen keine Gründe mehr für Distanzierungen, und die anderen haben aufgehört, sich bei jedem aus dem Zusammenhang gerissenen Halbsatz zu distanzieren. Und wenn dann immer noch Diskussionsbedarf besteht, dann klären wir das untereinander - beziehungsweise die zuständigen Vorstände sprechen ein Machtwort. Da haben wir gerade im letzten Jahr viel dazugelernt.

Haben Sie nicht manchmal das Bedürfnis, Politiker wie Björn Höcke und André Poggenburg deutlicher zu kritisieren?

Jörg Schneider: Der Vorgang Poggenburg hat doch wunderbar gezeigt, wie gut unsere Partei inzwischen funktioniert. Da wurde konsequent vorgegangen. Herr Poggenburg sitzt nicht mehr für die AfD im Bundesvorstand. Wir haben im Bundestag drei Kollegen aus Sachsen-Anhalt. Nur so viel: Fraktionssitzung nach der Aschermittwochsrede: Nur einer von denen war anwesend. Ich habe ihn gefragt: "Wo sind denn deine Kollegen?" Antwort: "Die sind in Sachsen-Anhalt, die klären das gerade." Und: Sie haben es geklärt. Wir sehen, diese Prozesse funktionieren mittlerweile auch bei uns.

Die Nachfolger Poggenburgs stehen ihm politisch nahe. Ist das aus Ihrer Sicht kein Problem?

Ich glaube, inzwischen haben alle Kollegen begriffen, dass es Grenzen gibt, die alle respektieren müssen. Ich gehe davon aus, dass die Aussetzer, die es in Einzelfällen gab, in Zukunft nicht mehr vorkommen. Wir als Partei disziplinieren uns da gerade ganz hervorragend.

Die Kritik aus Ihrer Fraktion nach solchen "Aussetzern" hält sich meist in Grenzen.

Jörg Schneider: Nein, bei uns findet seit geraumer Zeit ein positiver Prozess statt. Das nehme ich ganz deutlich wahr.

"Abschottung ist nicht wünschenswert, das wäre ja Nordkorea"

Und wie halten Sie es dann mit Herrn Höcke?

Jörg Schneider: Ich bin mit Sicherheit kein Höcke-Fan.

Warum nicht?

Er hat uns in der Vergangenheit mit dem einen oder andere Auftritt Schwierigkeiten bereitet. Aber auch dazu möchte ich klar sagen: Bei Herrn Höcke ist eine absolut positive Entwicklung erkennbar.

Glauben Sie allen Ernstes, Bjön Höcke hat seine politische Einstellung geändert?

Jörg Schneider: Er hat gemerkt, dass das, was er in der Vergangenheit sagte, vielleicht bei seinen Parteifreunden in Thüringen gut ankommt, ihm vielleicht sogar noch ein paar Prozentpunkte bringt. Aber dass wir mit dieser Art des Auftretens im Westen massiv Wähler verlieren. Es bringt doch nichts, wenn wir in Thüringen tausend Wählerstimmen gewinnen, aber zugleich in Nordrhein-Westfalen 20.000 Stimmem verlieren. Das wird inzwischen auch in weiten Teilen des Flügels verstanden, dem Herr Höcke nahe steht.

Ein grundsätzliches Problem mit diesen Kollegen haben Sie aber nicht?

Jörg Schneider: Darum geht es nicht. Jeder Einzelfall ist anders. Ich sehe derzeit eher die Chance, dass diese Grabenkämpfe der Vergangenheit angehören. Wir müssen zusammenarbeiten und uns nicht durch Aussagen, und die darauf folgenden Distanzierungen, gegenseitig das Leben schwer machen.

Die Anhänger von Björn Höcke und seinen Freunden machen nicht mehr als ein Drittel der Parteimitglieder aus. Wären Sie nicht erleichtert, wenn Herr Höcke aus Ihrer Partei ausgeschlossen würde?

Jörg Schneider: Nein, unsere Partei braucht die verschiedenen Flügel. Dadurch sind wir eine lebendige Partei, bei uns gibt es noch echte Debatten und vor allem auch bei allen Wahlen personelle Alternativen.

Herr Schneider, Sie waren früher in der Jungen Union und später Mitglied der FDP. Christian Lindner sagte im eingangs erwähnten Interview, die AfD wolle an die Stelle der Liberalität unserer Gesellschaft völkisches Denken setzen. Sie gehe von der ethnischen, religiösen und kulturellen Einheit des Volkes aus." Und weiter: "Das Volk solle abgeschottet werden gegenüber Einflüssen von ausßn." Was antworten Sie dem Chef Ihrer früheren Partei?

Abschottung ist doch gar nicht machbar und auch nicht wünschenswert, das wäre ja Nordkorea. Aber wenn wir Wandel zulassen, dann müssen die Menschen eine Chance haben, da noch mitzukommen. Und wenn sie im Ruhrgebiet mittlerweile ganze Stadtteile haben, die sich innerhalb einer Generation so verändert haben, dass sich die dort lebenden Deutschen fremd fühlen, dann überfordern wir die Menschen.

Was ist liberal an der AfD?

Jörg Schneider: Freiheit ist ein hohes Gut. Für uns gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Wer verantwortlich handelt, der soll alle Freiheiten genießen. Wer aber nicht bereit ist, für sein eigenes Tun die Verantwortung zu übernehmen, dessen Freiheit und dessen Rechte müssen - natürlich angemessen - eingeschränkt werden

Was müsste passieren, was müssten AfD-Kollegen sagen oder tun, dass Sie wiederum sagen: Das war's, ich trete aus der Partei aus?

Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die Grundlage, auf der unsere Politik stattfinden muss. Damit sind für mich die roten Linien klar definiert, aber eben auch die Spielräume, die jeder haben muss.