"Wir brauchen ein stärkeres Europa"
Nach dem Brexit sieht man in Deutschland und in der EU in einer gemeinsamen Rüstungs- und Verteidigungspolitik das Heil
Nach dem britischen Referendum zum Brexit, von dem in Frage steht, ob und wie es überhaupt umgesetzt wird, gibt es von Politikern, die an der EU festhalten wollen, eine Flut von Vorschlägen. Man darf vermuten, es ist viel heiße Luft dabei und wird schnell wieder vergessen.
Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault hatten schnell ein vorbereitetes Papier vorgelegt, in dem sie auf ein Kerneuropa setzten, das die Vereinigung zu einer "Politischen Union" beschleunigen sollte. Das stieß gleich bei dem im Anschluss angesetzten Treffen der Visegard-Gruppe auf Ablehnung. Auch auf dem Krisengipfel war von einer stärkeren Vereinigung nicht groß die Rede.
Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel suchte vielmehr die sozialen Aspekte, der Abbau der Arbeitspolitik und ein Ende der von der deutschen Regierung vertretenen Sparpolitik in den Vordergrund zu rücken, schlug aber neben einer Konzentration auf das Wesentliche für die EU-Kommission gleichzeitig die Schaffung einer "wahren europäischen Regierung" vor. Hier setzte sein Parteikollege, der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, am Wochenende noch einmal nach und forderte weiterhin eine "echte europäische Regierung", die vom Europaparlament und einer zweiten Kammer mit Vertretern der Mitgliedsstaaten kontrolliert wird. Europa also als Bundesstaat.
Mitstreiter auf europäischer Ebene wird es dafür kaum geben, daher ist interessant, dass gestern Finanzminister Wolfgang Schäuble, der starke Mann in der CDU, klar machte, an der Sparpolitik und den "Regeln" festzuhalten, aber auch einen Vorschlag ins Spiel brachte, der einen Vorstoß von Steinmeier und Ayrault und von der EU-Außenbeauftragten Mogherini (EU: "Eine schlagkräftige europäische Verteidigungsindustrie schaffen") aufgriff und verstärkte: eine größere Einheit der EU durch eine gemeinsame Rüstungspolitik und letztlich durch eine europäische Armee. Auch Schäuble spielte wieder auf ein Kerneuropa an (Schäuble: EU-Kommission in den Hintergrund rücken), was möglicherweise zu der gemeinsamen Rüstungs- und Verteidigungspolitik gehören soll. Allerdings setzte sich Schäuble von Steinmeier ab, der vor wenigen Tagen eine andere Russlandpolitik und ein Ende des "Säbelrasselns" der Nato gegen Russland forderte. Natürlich wäre es dumm, für eine Verstärkung der europäischen Rüstungs- und Verteidigungspolitik zu werben und gleichzeitig für Entspannung einzutreten.
Schäuble betonte die Krisen an den europäischen Grenzen und die Gefahr des islamistischen Terrors, um zu demonstrieren, dass ein geeintes, wehrhaftes Europa notwendig wird, in dem wiederum auch nur wenige Länder in der gemeinsamen Rüstungs- und Verteidigungspolitik vorpreschen könnten/sollten. Bezieht man die von Mogherini ins Spiel gebrachte "Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik" mit ein, so ist bemerkenswert, dass sich die Argumentation der EU-Befürworter derzeit umzukehren scheint.
Bislang wurde gerne argumentiert, die EU habe dafür gesorgt, dass aus Europa eine Friedensregion wurde und sich kein Krieg mehr zwischen den Staaten ereignet hat. Deswegen müsse sie auch bewahrt und womöglich vertieft werden. Heute wird nach dem Brexit argumentiert, dass die EU in einer "konfliktreichen Welt" ringsum bedroht ist und Gemeinsamkeit militärisch und sicherheitspolitisch gegen diese Bedrohungen vom Terrorismus über Migration und die Wirtschaft bis hin zu Bedrohung aus dem Osten, auch "hybride Bedrohungen" genannt, herstellen müsse:
Eine stärkere Union erfordert auch Investitionen in alle Dimensionen der Außenpolitik. Insbesondere sind Investitionen in Sicherheit und Verteidigung dringlich. Das gesamte Spektrum der Verteidigungsfähigkeiten ist erforderlich, um auf externe Krisen zu reagieren, die Kapazitäten unserer Partner aufzubauen und die Sicherheit Europas zu gewährleisten.
Strategie für eine Außen- und Sicherheitspolitik
Jetzt wird gesagt, dass letztlich die Ziele der EU bereits erfüllt, aber gefährdet seien: "Unser europäisches Projekt, das uns in beispielloser Weise Frieden, Wohlstand und Demokratie gebracht hat, ist in Frage gestellt." Die Vision von Europa ist kein Fortschrittsprojekt mehr, sondern es wird durch Angst zu einem Verteidigungskonzept der Bewahrung, mit Schwerpunkt auf "Verteidigung, Cybersicherheit, Terrorismusbekämpfung, Energie und strategische Kommunikation":
Wir brauchen ein stärkeres Europa. Das sind wir unseren Bürgern schuldig, das wird weltweit von uns erwartet. Wir erleben gegenwärtig eine existenzielle Krise, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Unsere Union ist bedroht.
Strategie für eine Außen- und Sicherheitspolitik
Der Schwenk ist leicht durchschaubar. Nur mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik könnten möglicherweise die Erosionsprozesse gestoppt und die baltischen und osteuropäischen Länder womöglich eingebunden werden. Die transatlantische Geschlossenheit, die der Ukrainekonflikt mit der vielfach beschworenen "russischen Aggression" zustandegebracht hat, soll nun ausgenutzt werden, um eine "strategische Autonomie" der EU mit oder ohne UK zu erreichen, was allerdings auch bedeuten würde, eine größere militärische und rüstungstechnische Unabhängigkeit von den USA.
Sollte Großbritannien tatsächlich aus der EU ausscheiden, so hätte Washington einen wichtigen Partner in der EU verloren, sofern die baltischen und osteuropäischen Länder mitspielen und sich nicht weiter als das "neue Europa" auf den großen transatlantischen Bruder stützen. Der hat zwar über die Ukraine wieder den Kalten-Kriegs-Feind Russland reaktivieren können, um die europäischen Nato-Länder hinter sich und Erweiterungspläne vorantreiben zu können, eigentlich aber sucht Washington eine höhere militärische Kapazität und Bereitschaft Europas, um sich stärker aus Europa, dem Nahen Osten und Afrika zurückziehen zu können, da der zentrale Konflikt spätestens seit George W. Bush mit dem Konkurrenten China gesehen wird.
Ob freilich das Spiel, Geschlossenheit der EU durch Bedrohung und Feind aufgehen wird, ist fraglich, zumindest so lange es keinen direkten militärischen Konflikt zwischen Nato und Russland gibt. Allerdings ist das Säbelrasseln auf beiden Seiten so aggressiv und provozierend, dass durchaus Angst bestehen muss, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden. Erst einmal käme es Deutschland durchaus gelegen, wenn mit dem Ausscheiden von Großbritannien einer der weltweit größten Rüstungsproduzenten ins Hintertreffen geraten könnte, was den europäischen Markt betrifft.
Die größten Waffenexporteure sind die USA, gefolgt von Russland und China. Frankreich und Deutschland kommen an vierter und fünfter Stelle, Großbritannien an sechster, danach kommen Spanien und Italien. Frankreich und Deutschland haben somit zusammen mit Spanien und Italien ein Interesse an einer gemeinsamen Verteidigungs- und Rüstungspolitik. Die ist, wie man aus den USA und Russland weiß, auch immer eine Wirtschaftsförderungs- und Beschäftigungsmaßnahme, also ein staatliches Konjunkturprogramm.
Und da scheint Schäuble, der seiner Parteifreundin von der Leyen 2017 schon mehr Geld für die Bundeswehr zusicherte, bei aller Sparsamkeit mitzuziehen und forderte gleich schon mal, die Richtlinien für die die deutschen Waffenexporte zu senken, um Deutschland europatauglich zu machen. Von der Leyen brachte 130 Milliarden Euro für die nächsten Jahre ins Spiel, allein schon der Nato-Beschluss, dass 2 Prozent des BIP für die Rüstung investiert werden müssten, würde bedeuten, dass viele Milliarden mehr für die Bundeswehr und ihr marodes Material gezahlt werden müssten.