"Wir haben die Fragen, nicht die Antworten"

Die Protestierenden versuchen, den Park (hier ein Blumenbeet) zu schonen. Sonst wird der Park mit Gewalt geräumt. Bild: C. Morris

Eindrücke vom Occupy Wall Street im Zuccotti-Park in New York City

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Der Zuccotti Park befindet sich mehrere Straßen von der Wall Street entfernt, dafür direkt schräg gegenüber vom Ground Zero, wo der neue World Trade Center gerade entsteht. Dort protestiert man im Namen der unteren 99% gegen die obere 1%. Man erkennt den belagerten Park zuerst an den vielen Polizisten - und am ununterbrochen dröhnenden Schlagzeug, das jede Diskussion innerhalb 100 Meter erschwert. Dabei ist der Park vielleicht nur 200 Meter lang. Aber wir sind doch zum Reden da, oder?

"Ich kenne J.P. [Morgan] persönlich", sagt ein Protestteilnehmer hinter der Barrikade, der wie ein Rastafari aussieht. Auf der anderen Seite stehen ein paar Anzugträger, die frisch aus der Bank oder Kanzlei sind. Der Rasta-Mensch versucht ihnen gerade klarzumachen, dass er ein reicher Künstler ist, der auch zu dem reichsten 1% gehört. "J.P. Morgan ist schon seit 100 Jahren tot", weiß ein Banker zu erwidern, und die Schlipsträger lachen sich alle kaputt über diesen schrägen Vogel, der in alle Klischees passt, die sie wohl für die Occupiers haben: ungewaschen, realitätsfern, verlogen. Ein paar Schritte weiter verteilt einer, der sich dringend die Zähne putzen sollte (gibt es hier kein fließendes Wasser?), die Occupy-Zeitung. Ich erkläre ihm meine Sorge, dass werktätige Menschen und jene mit Familie bei einer solchen ständigen Belagerung schlicht nicht mitmachen können. "Die Tea Party macht es besser mit ihren gelegentlichen Treffs", meine ich. "Im Gegensatz zur Tea Party sind wir aber nicht politisch", wechselt er das Thema und fügt hinzu: "Wir wollen nur Gerechtigkeit."

In der Bildmitte will einer "student loan justice". Kostenlose Bildung fällt hier niemandem ein. Man will bessere Darlehen. Bild: C. Morris

"Aber wir haben hier viele, die in der Mittagspause vorbeischauen und dann wieder zurück zur Arbeit gehen", weiß er dann doch zu berichten, als ich auf eine Antwort dränge. Dann schaue ich mich weiter um - es ist 13 Uhr: Mittagspause.

Tatsächlich ist es nicht schwer, arbeitstätige Leute zu finden - man erkennt sie sogar von weitem, denn sie sind fürs Büro gekleidet. Andere tragen eher Halloween-Kostüme und protestieren gegen Fracking oder sind vom Kopf bis Fuss tätowiert und protestieren gegen "Zombie-Banken."

Nicht jeder musste sich für den Halloween-Umzug am Abend umziehen. (Ich selbst hatte einen dreiteiligen Anzug vom Geschäftstreffen noch an und konnte den stilvoll kostümierten Halloween-Gespenstern stolz verkünden: "I'm dressed as a banker. I'm scarier than all of you put together."). Bild: C. Morris

Drei Frauen halten einige Poster aus Pappe hoch, sie protestieren gegen die auseinanderklaffende Bezahlung von Arbeitern und Vorstandsmitgliedern. Eine von ihnen ist Anwältin, die immer in ihrer Mittagspause vorbeischaut. Eine andere arbeitet für eine NGO, die sie nicht nennen will. Sie teilen meine Sorge, dass eine Dauerbelagerung vielleicht nicht die richtige Methode ist, sind aber nicht beunruhigt, dass die Themen so weit zerstreut sind. "Ich weiß noch nicht, wo das alles hinführt", sagt eine, "aber es könnte positiv sein."

Warum der Protest sich nicht darauf beschränkt, die Steuern zu erhöhen, will ich von ihnen wissen. "Unter dem Republikaner Eisenhower lag der Spitzensteuersatz bei über 90%. Heute wollen wir alles haben, ohne zu zahlen", argumentiere ich. Aber die Frauen ziehen nicht mit. "Wir wollen der Bewegung nicht vorschreiben, wo sie hingehen soll, aber du kannst zur Vollversammlung hingehen und deinen Vorschlag unterbreiten, wenn du willst", sagt eine.

Ich ziehe weiter und finde einen, der Dollarscheine faltet. "Hier siehst du die Twin Towers, und auf dem Zwanziger den Absturz", glaubt er. Seine Zuhörer sind fasziniert - vom Ein-Dollar-Schein bis zum 50er (wo übrigens nichts mehr zu sehen ist, denn die Türme sind zerstört) kann man die Ereignisse am 11. Sep. 2001 bildlich nacherzählen, wenn man die Scheine nur richtig faltet. Warum die Regierung bzw. der Fed ausgerechnet diese Botschaft versteckt erzählen will, möchte ich von ihm wissen. "Die Leute sind vom Okkult begeistert", zuckt er mit den Schultern, und meint natürlich nicht sich selbst.

Und was soll uns die Falt-Geschichte sagen? "Kuck dir mal dieses halbverfallene Gebäude aus morschem Stein und faulen Holzbalken am Eck da an - direkt gegenüber vom alten World Trade Center. Willst du mir erzählen, dass Building 7 in sich zusammenbrach, und diese alte Kiste bleibt bestehen?"

9/11 als Geldscheinfaltkunst. Was aussieht wie ein Baum auf einem Gebäude soll die Staubwolke beim Anschlag sein.Bild: C. Morris

Ich will ihm nichts erzählen und ziehe weiter. Ein Mann Mitte 20 macht mit einem Plakat auf seine Webseite aufmerksam. Ob er arbeitet? "Nein, ich war einige Monate bei einem Verlag, war echt scheiße. Ich sollte mit den Kollegen nicht reden, sondern skypen - auch wenn sie daneben saßen." Wurde er gefeuert? "Nein, ich bin gegangen. So was gefällt mir nicht - obwohl die Bezahlung nicht schlecht war: 24.000 Dollar im Jahr. Ich komme aus Buffalo, da fühlt man sich reich, wenn man 15.000 im Jahr verdient. Man kauft halt bei Wal-Mart und Aldi ein." Ob er weiß, dass Aldi deutsch ist? "Ja klar! Ich war auch einmal in München. Die Brezen im Hofbräuhaus schmecken super!"

Schaut mal vorbei - Mark erwartet euch auf seiner Webseite. Bild: C. Morris

Es gibt auch eine ältere Frau, die Pullis für die Occupiers strickt, sowie eine mit einem Plakat: "Letzte, die wohl in Rente gehen kann." Man kann der Gruppe nicht gerecht werden, wenn man sie irgendwie beschreibt. Fast jede Kategorie Mensch ist vertreten. Aber es sind so wenige. Vor allem gibt es ungeheuer viele Journalisten vor Ort. Und mein Verdacht bestätigt sich, als ich mich mit einem Fernsehteam vom kanadischen CBC unterhalte: "Wir sind seit dem Anfang immer wieder hier, und der Park füllt sich zusehends mit Obdachlosen."

Angeblich wird der Park sauber gehalten, und doch manche Ecken sehen recht unaufgeräumt aus. Bild: C. Morris

Später treffe ich mich mit einem alten Freund, der tatsächlich an der Wall Street arbeitet (als Web-Designer). Die Wall Street ist selbst blockiert, kein Normalsterblicher kommt an die Gebäude heran, seit protestiert wird. Hier findet man allerdings lediglich 5 Trommler, die Krach machen - und Dutzende Polizisten, die aufpassen. "New York ist in den letzten Wochen viel sauberer geworden, weil die Obdachlosen nicht mehr überall verteilt sind, sondern geballt am OWS [Occupy Wall Street] hocken", sagt mein Freund. Aber immerhin ist eine Debatte in Gang gekommen, oder? Themen, die im Sommer nicht salonfähig waren, bestimmen die Tagesthemen, und das ganze Land redet über 99% gegen 1%? "Na ja, im Prinzip sind die meisten Menschen eher gespannt zu sehen, ob die Leute den ganzen Winter durchhalten." Zynisch war mein alter Kumpel schon immer.

Am Ende meines Aufenthalts in New York spaziere ich durch den Central Park, den schönsten und größten Stadtpark, den ich je gesehen habe. Der Marathon findet am Wochenende statt, und das Ziel steht schon - mitten im Park. Einige Musiker spielen hier und da für vergnügte Touristen und bummelnde Einheimische, und auch ich lege mir eine CD von einem Country-Trio zu. Keine Spur vom Protest. Und als ich das unvergleichlich schöne Herbstlaub und die romantisch rollenden Rasen zwischen geschliffen, dunklen Steinformationen und stillen Teichen vor der bebauten Wolkenkratzerkulisse aus Glas und Stahl bewundere, kann ich einen Gedanken nicht unterdrücken: Wenn man diesen Park mit Protestierenden vollkriegen könnte…