Wir leben in einem Staat ohne nennenswertes Parlament
- Wir leben in einem Staat ohne nennenswertes Parlament
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In Koalitionsverhandlungen wird nur über das Abstimmungsverhalten der von den Parteien über den Fraktionszwang kontrollierten Abgeordneten für die nächsten vier Jahre geschachert
Der Deutsche Bundestag hatte 2017 gerade einmal 12 Sitzungswochen - diese Woche eingerechnet. Immerhin schreiben wir die 47. Kalenderwoche. Acht Wochen seit der Wahl mussten vergehen, bis Bundestagspräsident Schäuble am vergangenen Dienstag zur ersten Plenarsitzung des neuen Bundestages lud. Vielleicht kommt der Bundestag noch auf gerade einmal 45 Sitzungstage dieses Jahr im Vergleich zu 70 im vergangenen Jahr.
Und jetzt gibt es zwar keinen Verteidigungsausschuss, den wollte keiner außer den LINKEN, aber im Schweinsgalopp wurden am Dienstag im 40-Minuten-Takt die Bundeswehreinsätze im Mittelmeer (SEA GUARDIAN), gegen den IS in Syrien und im Irak (COUNTER DAESH), in Afghanistan (Resolute Support), in Darfur (UNAMID), in Mali (MINUSMA), im Irak und im Südsudan (UNMISS) verlängert.
Danach wurde noch über dies und das geredet und schließlich wurden die Parlamentarier an diesem Mittwoch bis Mitte Dezember nach Hause geschickt. Geplant war eigentlich viel mehr.
Und die Führungsriegen der Jamaika-Parteien trafen sich wie zum Hohn wochenlang ausgerechnet bei der Parlamentarischen Gesellschaft, wo Parlamentarier eigentlich nach britischem Vorbild am knackenden Kaminfeuer über Themen tuscheln sollten, die nicht an die große Glocke gehängt werden - was natürlich auch bedeutete, dass während der Sondierungen das Fußvolk der Abgeordneten dort draußen bleiben musste wie Hasso vor der Metzgerei. Vielleicht war diese weitere Demütigung Teil eines Initiationsritus für die 40 Prozent neuer MdB-Jungspunde mit der Botschaft: "Was ihr hier zu melden habt, bestimmt nicht ihr."
Denn eigentlich ist es erste und vornehmste Aufgabe eines neuen Bundestages eine neue Bundeskanzlerin zur Chefin der Ausführenden Gewalt zu wählen. Das ist bei gutem Willen in wenigen Tagen im Bundestag zu erledigen: Die Fraktionen, die gemeinsam eine Regierung bilden wollen, einigen sich auf die groben Grundzüge ihrer Regierungspolitik und die Verteilung der Ministerposten. So hat man das zumindest im Reichstag der Weimarer Republik gemacht.
Marktkonforme Republik
Doch hier beginnt heute eine fast unfassbar ungeniert in aller Öffentlichkeit vorgeführte Obszönität: Die Führer einer zukünftigen gemeinsamen Regierung verhandeln ausschließlich über das Abstimmungsverhalten der von ihnen kontrollierten Abgeordneten für die nächsten vier Jahre.
Denn Inhalt der inzwischen üblichen Koalitionsverträge ist keineswegs die künftige Regierungspolitik, sondern die geplante Gesetzgebung, die eigentlich Aufgabe des Parlaments ist.
Das zeigt ein Blick in die vorangegangenen Koalitionsverträge bis zurück in die 60er Jahre. 1961 löste der CDU-CSU-FDP-Koalitionsvertrag noch einen Skandal aus, weil man die Beschneidung der Rechte der übrigen Verfassungsorgane fürchtete. Aus gutem Grund!
Und erst die SPD-Grüne-Koalition von 1998 nahm diese unselige Praxis wieder auf. Unselig deswegen, weil demokratisches Verfassungsrecht durch das Instrument des privatwirtschaftlichen Vertragsrechtes ersetzt wurde. Marktkonforme Demokratie eben.
Der Koalitionsvertrag 1998 "Aufbruch und Erneuerung" liest sich noch wie ein Regierungsprogramm mit sehr allgemeinen Bezügen zur Gesetzgebung. Dieselben Partner werden 2002 in "Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit" dann doch recht spezifisch in der geplanten Gesetzgebung zur Umsetzung der Agenda 2010 - der gigantischste Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik. Und der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von 2005 "Gemeinsam für Deutschland" ist fast nur noch eine Auflistung der geplanten Gesetzesvorhaben.
In den Verträgen seitdem 2009 "WACHSTUM. BILDUNG. ZUSAMMENHALT" und 2013 "Deutschlands Zukunft gestalten" ist das nicht anders. Zukünftige Gesetze werden haarklein definiert.