Wir leben in einem Staat ohne nennenswertes Parlament

Seite 2: Geschacher mit Stimmen der Abgeordneten

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Nichts anderes war geplant bei den Jamaika-Sondierungen und nichts anderes wird herauskommen, wenn CDU/CSU und SPD demnächst wieder die Abgeordneten aus der Parlamentarischen Vereinigung im Reichstagspräsidentenpalais jagen.

Und da ja die Abgeordneten nach Art. 38 GG "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, wird folglich dort deren Gewissen verhandelt, hin- und hergeschoben, verrechnet oder von "Experten der Fachministerien" nachjustiert. Man muss sich das in etwa vorstellen wie in einem Dostojewski-Roman, wo adelige Grundbesitzer hunderte leibeigene Seelen im Kartenspiel über den Tisch schieben. Statt Seelen werden hunderte Gewissen bei künftigen Parlamentsreden und Abstimmungen verhandelt.

Imre Balzer schrieb neulich in der ZEIT über die Legionen der Berliner Lobbyisten bei den Sondierungsgesprächen, "Wer jetzt gut arbeitet, hat für die nächsten vier Jahre Ruhe." Und wir wunderten uns nicht und werden uns auch nicht wundern, wenn die Tagesschau Sätze formuliert wie: "Das Bundeskabinett hat heute die Novellierung des Kündigungsschutzgesetzes beschlossen."

Marionettentheater

Alles, was später kommt, ist Theater, Marionettentheater: Im Bundestag dürfen Abgeordnete der Regierungskoalition weder in Debatten die Grenzen des Koalitionsvertrages überschreiten, noch sich etwa von Argumenten der Gegenseite überzeugen lassen. Abweichendes Verhalten wird streng geahndet, denn alle wissen: Nicht der Wähler entscheidet über ihr Abgeordnetenschicksal, sondern der von den Parteispitzen kontrollierte Wahlparteitag für die nächste Runde.

Und der Jubel ist groß und alle klatschen, wenn die Frau Bundeskanzlerin etwa bei Abstimmungen über In-Vitro-Fertilisation oder über gleichgeschlechtliche Ehe die Fraktionsdisziplin aufhebt und den Abgeordneten erlaubt, ausschließlich ihrem Gewissen zu folgen. Das Wort Fraktionsdisziplin steht nicht im Grundgesetz, nicht im Abgeordnetengesetz, noch nicht einmal in der Geschäftsordnung des Bundestages. Aber alle sind ihr unterworfen.

Die eben geplatzten Jamaika-Vertragsverhandlungen, genannt "Sondierungsgespräche, waren Geheimverhandlungen hinter verschlossener Tür auch gegenüber den eigenen Abgeordneten, wenngleich ihre Akteure anschließend in TV-Talkshows über dies und jenes aus den Verhandlungen plauderten - wie immer ohne Gewähr und unverbindlich.

Und das ist eine der großen Innovationen unseres parlamentarischen Systems: Die Debatten der Abgeordneten verkommen zur Ersatzdebatten-Show - mit vorgegebenen Einordnungsmustern, geschickt inszeniert, moderiert, kontrolliert und selten live. Hier diskutieren die Wort- und Stimmführer selbst. Sie dürfen und wollen frei reden, also eher kein Marionettentheater. Und wir alle goutieren die süffigen Sprüche des Steuerstrafverteidigers Kubicki bei Maischberger oder Lanz.

Aber deswegen haben wir halt im Moment auch kein Parlament: Ohne Koalitionsvertrag keine Ausschüsse und keine Fraktionsdisziplin, ohne Fraktionszwang keine Debatten und Abstimmungen - außer über Bundeswehreinsätze im Ausland.

Wenigstens dürfen die Abgeordneten im Moment wieder in die Räume der Parlamentarischen Gesellschaft im Reichstagspräsidentenpalais, dürfen dort am Kamin sitzen und auf bessere Zeiten hoffen. Schließlich hatte beim Bau des Palais 1899 der Reichstagspräsident auch nichts zu melden.