"Wir lernen aus Erfahrung"
Ist Brunsbüttel tatsächlich besser auf einen Störfall abgesichert als das AKW in Forsmark, das nahe an einem Unfall vorbeischlitterte?
Nein, in Deutschland ist ein AKW-Störfall wie der, der sich am 25. Juli in Schweden ereignete, vollkommen unmöglich. Hier werde die Notstromversorgung mit Gleichstrom betrieben. Das hatte auch der Pressesprecher von Vattenfall Deutschland gegenüber Telepolis mit dem Brustton der Überzeugung versichert (siehe: "Forsmark ist der Normalfall"). Jetzt stellt sich heraus: Stimmt nicht ganz. Im AKW Brunsbüttel, an der Unterelbe in Schleswig-Holstein gelegen, wird sehr wohl ein Teil der so genannten Notstromschiene mit Wechselstrom betrieben. Betreiber des AKWs ist: Vattenfall.
Schon Mitte August hatte die Deutsche Umwelthilfe darauf hingewiesen, dass man ihrer Ansicht nach in Brunsbüttel sogar wesentlich schlechter auf einen Störfall wie in Forsmark vorbereitet ist. Dort hatte, wie berichtet, am 25. Juli ein Kurzschluss im Netzt zu einer Kette von Pannen geführt. Die beiden Kraftwerksturbinen fielen aus und auch zwei der vier Notstromaggregate sprangen nicht an (Fast-GAU in Schweden).
„Die Schutzeinrichtungen zur Trennung des 400-kV-Netzanschlusses reagierten auf den Kurzschluss nicht spezifikationsgerecht. Die Netztrennschalter öffneten später als vorgesehen“, heißt es in einer sehr detaillierten Zusammenfassung der Vorgänge, die das Freiburger Ökoinstitut gemeinsam mit der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit inzwischen für das Bundesumweltministerium erstellt hat. Das Ergebnis dieser zu spät getrennten Verbindung zum Netz war, dass verschiedene, zum Teil sensible Bauteile im AKW beschädigt wurden, darunter vermutlich die Ölpumpe einer der Turbinen, was zu deren Ausfall führte, so wie auf jeden Fall zur Beeinträchtigung zweier Wechselrichter im Notstromsystem, was zum zeitweisen Ausfall der Notstromdiesel führte. Hätten diese nicht noch manuell gestartet werden können, wäre es mit ziemlicher Sicherheit zur Kernschmelze gekommen. Auch in Forsmark heißt der Betreiber übrigens Vattenfall.
In Brunsbüttel stehen statt der üblichen vier nur drei Notstromaggregate zur Verfügung. Außerdem war vor vier Jahren mehr zufällig bekannt geworden, dass in dem Siedewasserreaktor das ganze Steuerungssystem und vor allem die Notsysteme derart unübersichtlich und komplex sind, dass den Technikern und Ingenieuren gleich eine ganze Reihe von Konstruktionsfehlern entgangen war. Fast ein Jahr lang haben sich 2002 und 2003 zahlreiche Spezialisten mit den Problemen beschäftigt, während der Reaktor stillstand. Ende Februar 2002 hatte nämlich das seinerzeit zuständige Kieler Ministerium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz das Herunterfahren erzwungen. Schon am 14. Dezember 2001 war im Reaktordruckbehälter eine Zuleitung zum Deckelsprühsystem auf einer Länge von zwei Metern zerborsten. Offensichtlich war es zu einer Explosion gekommen, und zwar von Wasserstoff, das in AKWs diesen Typs durch radioaktive Bestrahlung des Wassers entsteht, aber eigentlich durch Katalysatoren neutralisiert werden sollte. Die Bedienungsmannschaft hatte lediglich den Austritt von Kühlmittel registriert und zwei Ventile geschlossen. Die Ursache konnte man im Betrieb nicht feststellen. Erst massiver Druck der Aufsichtsbehörden führte dazu, dass der Reaktor heruntergefahren wurde, damit eine Inspektion durchgeführt werden konnte. Dabei stellte sich auch heraus, dass um ein Haar der Kühlwasserkreislauf derart Leck geschlagen wäre, dass man ihn nicht mehr hätte abdichten können. Die Explosion hätte nur wenige Meter versetzt stattfinden müssen.
Glück im Unglück hatten die Betreiber und mehrere Millionen Menschen im Großraum Hamburg auch damit, dass in den bis dahin bereits 26 Jahren Betriebszeit nie die diversen Konstruktionsmängel der Notsysteme zum Tragen kamen. Nach zahlreichen Beratungen, Untersuchungen und Sitzungen der Reaktorsicherheitskommission (RSK) genehmigte die Kieler Landesregierung schließlich acht Änderungen der Anlage, und die RSK gab ihren Segen zum Wiederanfahren, in dem sie bestätigte, dass „die Abweichungen vom Sollzustand der Anlage erkannt und beseitigt worden sind und somit die Erfüllung der sicherheitstechnischen Anforderungen zur Einhaltung der Schutzziele gegeben ist. Weiterhin stellt die RSK fest, dass im KKB (Kernkraftwerk Brunsbüttel) ein Anlagenkonzept vorliegt, das nicht mehr in allen Anlagenmerkmalen dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht“ (zitiert nach einem lesenswerten Hintergrundpapier der Deutschen Umwelthilfe).
Das war nicht einmal ein Freispruch zweiter Klasse. Und die Zweifel daran, ob die unterdimensionierte und überkomplexe Sicherheitstechnik an der Elbe einen ernsten Zwischenfall ähnlich dem, der sich Ende Juli im schwedischen Forsmark ereignete, ordnungsgemäß überstehen würde, sind erheblich. Nach Einsicht in die internen Protokolle der diversen Expertenzirkel ist klar, dass die Fachleute das Notstromkonzept des Forsmark-Reaktors für ausgereifter halten, als das in Brunsbüttel.
Stellungnahme der Deutschen Umwelthilfe
Auch in der RSK haben sich nach dem Vorfall in Forsmark offensichtlich einige an die langen Diskussionen über Brunsbüttel erinnert und noch einmal nachgehakt. Dabei musste Vattenfall offenbar zugeben, dass es mit ihren vollmundigen Versicherungen nicht allzu weit her war:
In den Beratungen in der Reaktorsicherheitskommission (RSK) zur Auswertung der schwedischen Erfahrungen haben sich Fragen zur Notstromversorgung im Atomkraftwerk Brunsbüttel ergeben. Dabei geht es um den theoretischen Fall des Ausfalls der Notstromdiesel. In diesem Fall würde das Kraftwerk und vor allem die Überwachung auf einen Batteriebetrieb zurückgreifen müssen. In Brunsbüttel besteht dabei jedoch – anders als in anderen Atomkraftwerken – eine technische Regeleinrichtung, die auf Wechselstrom angewiesen ist. Käme es zum Ausfall dieser Regeleinrichtung, stünde die Stromversorgung für die Steuerung der Anlage nur noch eingeschränkt zur Verfügung. ... Es könnte damit ein ähnliches Problem wie in Forsmark auftreten, obwohl in Deutschland eine andere Technik genutzt wird.
Mitteilung des Bundesumweltministeriums.
Die Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag sind angesichts dieser Informationspolitik Vattenfalls wahrscheinlich nicht als Einzige der Ansicht, dass die Betreiber Brunsbüttels – neben Vattenfall hält E.on eine Minderheitsbeteiligung – die Öffentlichkeit wochenlang an der Nase herumgeführt haben. Das wirft einmal mehr die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit dieser Konzerne auf, die vom Atomgesetz als Voraussetzung für die Betriebsgenehmigungen gefordert wird. Die schleswig-holsteinischen Grünen haben daher die CDU-SPD-Landesregierung aufgefordert, „die sofortige Abschaltung des Reaktors zu verfügen, bis alle technischen Fragen abgearbeitet und gegebenenfalls alle notwendigen Nachrüstungen umgesetzt sind.“
So ganz abwegig ist das nicht. Immerhin wurden auch in Schweden nach dem Forsmark-Unfall alle mit vergleichbarer Technik ausgerüsteten AKW vorläufig vom Netz genommen und sind bisher nicht wieder angefahren. Nach Informationen der schwedischen Aufsichtsbehörde SKI (Statens Kärnkraftinspektion) betrifft das vier von zehn schwedischen AKW, und zwar Forsmark 1, Oskarshamm 1 und 2, sowie Ringhals 4. Ein weiteres AKW, Forsmark 2, war zum Zeitpunkt des Unfalls aufgrund einer Routine-Revision runtergefahren und wurde bisher noch nicht wieder freigeben.
Bei Vattenfall versteht man derweil die ganze Aufregung nicht. Die Brunsbüttel-Betreibergesellschaft Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH (VENE) ging am Montag in die Offensive: „Wir haben belegt, dass Brunsbüttel besonders gut auf mögliche Störungen in der Stromversorgung vorbereitet ist“, meinte VENE-Geschäftsführer Bruno Thomauske. Untersuchungen hätten gezeigt, dass selbst ein gleichzeitiger Ausfall aller Wechselrichter zu keinen größeren Problemen führen werde. Das habe man der Kieler Aufsichtsbehörde am Montag mitgeteilt.
CDU will Kernkraft rehabilitieren
Derweil zeigen sich Christdemokraten vollkommen unbeeindruckt von der Beinahekatastrophe und dem Mangel an Seriosität hiesiger Kraftwerksbetreiber. Schon vor dem schwedischen Unfall hatte man eine Kampagne gestartet, die auf die Rehabilitierung der AKW-Industrie zielte. Im März war bereits der Wirtschaftsrat der Union vorgeprescht und wollte „ideologische Tabus“ brechen: „Damit die Kernenergie eine Brückenfunktion für Zukunftstechnologien übernehmen kann, müssen die Laufzeiten der Kernkraftwerke noch in dieser Legislaturperiode auf international übliche 60 Jahre verlängert und die politische Blockade der Endlagerungsfrage aufgehoben werden“, hieß es (http://www.wirtschaftsrat.de/data/presse/pkenergie.pdf) in einem Positionspapier der strammen Wirtschaftslobby. Die „Ideologiefreiheit“ des Papiers zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass man zum wiederholten Male behauptete, China und Indien hätten das Kyoto-Protokoll nicht unterschrieben, jenen internationalen Klimaschutzvertrag, der die unterzeichnenden Industriestaaten zu einer äußerst bescheidenen Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Der Hinweis auf die gewünschte „Brückenfunktion“ der Kernenergie verweist hingegen darauf, welche Vorstellungen man beim CDU-Wirtschaftsrat von der künftigen Energieversorgung hat: Möglichst großtechnische Anlagen wie die Kernfusion, die nur gegen erheblichen gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen sein werden, und gleichzeitig schon allein wegen der Unsummen notwendigen Kapitals die Verfügungsgewalt in der Hand sehr weniger übermächtiger Unternehmen konzentrieren. Ganz „ideologiefrei“, versteht sich.
Die Mär, dass China und Indien das Kyoto-Protokoll nicht unterschrieben hätten, war in letzter Zeit des öfteren zu hören. Unter anderem hatten die Vorsitzenden der Gewerkschaften ver.di und IGBCE, Frank Bsirske und Erhard Ott, in einem Brief zur Energie- und Umweltpolitik an die Vorsitzenden von SPD und CDU gefordert, die beiden Staaten sollten zur Unterzeichnung der Klimaschutzverträge bewegt werden. Dabei kann sich jeder durch einen Blick auf die Seite der Klimarahmenkonvention davon überzeugen, dass die beiden asiatischen Großmächte die Verträge längst ratifiziert haben. Wie alle Entwicklungsländer sind sie allerdings von der Verpflichtung zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen ausgenommen, was im übrigen nicht heißt, dass sie ganz ohne Verpflichtungen wären. Unter anderem sind sie zu einer Bestandsaufnahme verpflichtet und haben vertraglich zugesichert – salopp gesagt – die Fehler der Industriestaaten nicht zu wiederholen. Das heißt sie sollen versuchen einen energiesparenderen Entwicklungsweg einzuschlagen.
Die Ausnahme der Entwicklungsländer von den Reduktionsverpflichtungen hat mehrere unmittelbar einleuchtende Gründe: Erstens hatten sie keinen Anteil an dem historischen Aufbau der gegenwärtigen Treibhausgaskonzentration, die beim CO2, dem wichtigsten der Gase, rund 40 Prozent über dem vorindustriellen Niveau liegt. Zweitens liegen ihre pro-Kopf-Emissionen noch immer weit unter denen der Industriestaaten: USA (20,5 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr); BRD (10,1), China(1,9), Indien (1,0). Zahlen von 2000 (Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2001). Etwa zwei Tonnen pro Kopf und Jahr werden von Ozeanen und Biosphäre aufgenommen, der Rest reichert sich in der Atmosphäre an und erhöht die Treibhausgaskonzentration. Drittens brauchen die Entwicklungsländer einen größeren Spielraum, um sich durch aufholende Entwicklung aus der Armutsfalle befreien zu können. (Davon abgesehen gibt es in Indien und China neben der Förderung fossiler Energieträger und dem Bau neuer AKWs auch erhebliche Anstrengungen zum Aufbau erneuerbarer Energiegewinnung, die sich mit hiesigen, vom CDU-Wirtschaftsrat heftig angefeindeten Bemühungen durchaus messen können.)
Mitte August unternahmen dann neun CDU-regierte Bundesländer einen Vorstoß gegen den im Jahre 2000 vereinbarten langfristigen Ausstieg aus der Atomwirtschaft. Zum Wortführer machte sich einmal mehr Hessens Ministerpräsident Roland Koch. Auch aus der CDU-Bundestagsfraktion meldete sich mit der stellvertretenden Vorsitzenden Katherina Reiche eine prominente Stimme zu Wort, die den Koalitionsvertrag mit der SPD in Frage stellte. In diesem hatten sich Union und Sozialdemokratie im letzten Jahr darauf geeinigt, dass der Ausstiegs-Beschluss von 2000 bestand haben sollte. Der Koalitionsvertrag sei „keine Aufforderung für ein Denkverbot“, holpert Reiche. „Ohne längere Laufzeiten stehen wir vor der Wahl neue fossile Kraftwerke zu bauen, was den Klimaschutzzielen zuwiderläuft.“ Natürlich erwähnte Reich in ihrem Pro-Atomplädoyer weder die Obstruktion der Stromkonzerne gegen die Nutzung der Windenergie, die künftig einen Teilersatz für die Atomkraftwerke bieten kann, noch ging sie mit einer einzigen Silbe auf den Unfall in Schweden und etwaigen Folgerungen für die Sicherheit hiesiger AKWs ein.
In Schweden geht man bei der SKI unterdessen davon aus, dass das Trial-and-Error-Prinzip, das die AKW-Betreiber bei den Sicherheitsvorkehrungen anwenden, etwas vollkommen Normales ist:
Just as in the field of aviation, we learn from experience, and newly gained insights are used to improve the safety of present and future installations. The activities following upon the incident at Forsmark 1 exemplify this process.
Ein explodierender Reaktor, der weite Landstriche im dicht besiedelten Mitteleuropa über Generationen hinaus unbewohnbar macht, ist also so etwas Ähnliches wie ein Flugzeugabsturz. Eine Mentalität, die auch hiesigen Kraftwerksbetreibern und Atomlobbyisten nicht fremd zu sein scheint.