Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln
- Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln
- Verhandlungssache der Solidargemeinschaft
- "Kein geheimer Plan" - Diskussion
- Dokumentation: Palmers Aussage
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In der Corona-Berichterstattung werden von Anfang an Meinungen mit Fakten verwechselt. Deshalb war eine demokratische Diskussion sinnvoller oder notwendiger Maßnahmen nie möglich. Kommentar
Es gibt tatsächlich eine Corona-Lüge, die uns von Anfang an begleitet, und die von den Medien bereitwillig als Faktum genommen wurde, nicht aus Demagogie heraus, sondern schlicht mangels Recherche. Die Lüge - oder ohne unterstellten Vorsatz: die falsche Behauptung - lautet: Wir müssen alles tun, um Erkrankungen mit dem Corona-Virus zu vermeiden, und wir müssen alles tun, um Erkrankten zu helfen.
Diese Behauptung gibt es in zig Variationen, und sie ist die Grundlage sowohl für den staatlichen Infektionsschutz als auch für die bürgerliche Empörung über jeden, der irgendwo einen kritischen Gedanken, gar nur eine Frage kundtut: Wer nicht bereit ist, dem Schutz des Lebens alles andere unterzuordnen, ist ein "Mörder". Oder wenigstens ein gemeingefährlicher Egoist.
Einen Höhepunkt erlebt dieses Credo gerade mit der Erregung über Boris Palmer, der es wagte, ein Nachdenken darüber anzuregen, was der Corona-Schutz weit außerhalb der Pandemie bedeuten könnte, so rein vom Überleben her.
Diese falsche Behauptung gibt es keineswegs erst seit der "Corona-Krise". Ob Jungpolitiker etwas Kritisches zur Gesundheitspflege im Alter sagen oder jemand fragt, welche Flüchtlingspolitik unterm Strich am humansten ist: mit der Behauptung, der Lebensschutz sei nicht nur oberste, sondern auch im Ausmaß unverhandelbare Staatsaufgabe, wird jeder Zweifel als menschenverachtend geächtet (und zwar durchaus wörtlich, wenn wir uns anschauen, mit welcher verbalen Energie die zu Menschenfeinden erklärten Menschen von Menschenfreunden bekämpft werden).
Doch stimmt die Grundannahme überhaupt, die Behauptung, "der Staat" oder "die Gesellschaft" müssten alles tun, was irgendwie möglich ist, um Menschen vor einer Virusinfektion zu schützen?
1. Faktisch ist die Welt anders
Empirisch finden wir mit jedem Blick das Gegenteil. Denn es sollte unstrittig sein, dass auch in einem Land wie diesem längst nicht alles getan wird, damit alle Menschen möglichst gesund und lange leben (wobei schon diese beiden Ziele zusammenzubringen ein Kunststück ist). Schon bessere Ernährung würde vielen Einwohnern auf lange Sicht gesundheitlich helfen.
Kinder und Jugendliche wären fitter, müssten sie weniger sitzen und könnten sich mehr und vielfältig bewegen. Vorsorgeuntersuchungen könnten praktisch beliebig gesteigert werden (und die Ärztewirtschaft hätte ihre Freude daran, uns alle einmal wöchentlich von oben bis unten durchzuchecken).
Einzelzimmer statt Mehrbettzimmer im Krankenhaus (was jedes billige Hostel hinbekommt) würden selbstverständlich Infektionen verringern (und in sicherlich nicht wenigen Fällen auch die psychische Gesundheit fördern - neben Sterbenden zu genesen ist gar nicht so einfach; aber natürlich mag die Gesellligkeit für viele auch gewinnbringend sein, hier zählt allein: die teurere Option gibt es gar nicht).
Dass jetzt für COVID-19-Patienten alle Krankenhäuser umgebaut wurden ist ja nicht dem neuen Virus geschuldet, sondern der Tatsache, dass Krankenhäuser natürlich noch längst nicht gesundheitsfördernd maximiert sind, da ist noch jede Menge Platz nach oben, die vielen Krankenhausinfektionen, bei denen wir meist nur recht lapidar von den rund 20.000 Toten pro Jahr reden und nicht von allen überlebten Komplikationen, sind wohl ein schlagendes Indiz.
Jeder, der den Medizinbetrieb kennt, kann ein Buch mit Geschichten von Pfusch am Bett schreiben, von Fehlbehandlungen, Schlampereien, desaströser Unwissenheit, natürlich auch von Grabscher*innen, kurz: davon, wie hanebüchen weit entfernt wir in vielen Einzelfällen, aber auch strukturell von einer optimalen Gesundheitsversorgung sind.
Diese Probleme sind alle bekannt. Doch setzt "der Staat" nun all "seine Kraft" daran, jedes Defizit zu beheben, auf dass die maximal mögliche Gesundheitsversorgung und damit ein gesundes und langes Leben für jeden gewährleistet ist?
Nein, natürlich nicht. Schon die "vorhandenen Mittel" müssten ja anders verteilt werden, es dürfte keine steuerfinanzierten Theater geben und keine Blumenrabatten in der Stadt. Lehrer, Polizisten und Politiker müssten weniger verdienen, um die öffentlichen Finanzen nicht ihrer privaten Prioritätensetzung anheimzustellen, sondern jeden möglichen Cent dem Lebensschutz zuzuführen. Jeder kann das selbst weiter karikieren. Es ist so fürchterlich offensichtlich, dass der Lebensschutz de facto nicht über allem steht. Die Tatsachenbehauptung ist also Riesenunsinn.
2. Auch juristisch steht die Gesundheit nicht über allem
Bleibt zu prüfen, ob die unübersehbar sehr diverse Prioritätensetzung des Staates (bzw. demokratischer: der Gesellschaft) zulässig ist, oder ob wir gerade einen eklatanten Rechtsbruch entdecken, mindestens einen Verstoß gegen die humanistisch begründeten Menschenrechte?
Dazu müssen wir "der Staat" zunächst mal mit "wir" übersetzen, denn "der Staat" ist und kann ja gar nichts. Es können nur wir Menschen etwas tun - ob nun freiwillig oder von anderen dazu gezwungen.
Auch hier schleichen sich Lüge oder Dummheit ständig in die öffentliche Diskussion. Die FAZ etwa sieht es als Nachhilfe im Verfassungsrecht, wenn der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt: "Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht. In einer Pandemie treten andere Grundrechte dahinter zurück. Und wenn man eine Pandemie nicht überlebt, ist es mit den Freiheitsrechten auch vorbei." (Original)
Nach Kretschmanns Nachhilfeunterricht müsste der Staat all seine Kraft in ein tendenziell unendliches Leben seiner Bürger stecken. Das ist wohl eindeutig eine Meinung, keine Tatsache.
Es besteht eine gesellschaftliche Beistandsvereinbarung, die besagt: Weil Krankheiten und Unglücke jeden treffen können, stehen wir für Abwendung und Behebung gemeinsam ein und können so in jedem Einzelfall viel mehr leisten, als das der Einzelne alleine könnte. Das ist das Solidarsystem, u.a. in Form der gesetzlichen Krankenversicherung und der steuerfinanzierten Gesundheitsleistungen.
Dieses Solidarsystem funktioniert nach festen Sätzen: man vereinbart (jedenfalls ideal-demokratisch), wie viel einem diese Risikoversicherung wert ist. Sie ist jedenfalls nie grenzenlos, weil sie dann selbstverständlich nicht funktionieren würde: jeder Mensch könnte dann fast beliebige Ansprüche stellen, um seine individuelle Gesundheit zu optimieren, seine Lebensspanne zu verlängern, Krankheits- und Sterberisiken weiter zu senken.
Dieses System basiert auf einer mehrheitlich gewollten Unfreiwilligkeit: Ärzte, Pfleger, Forscher werden nicht per Crowdfunding finanziert, sondern durch Steuern und Pflichtbeiträge. Welche Leistungen zu finanzieren sind, ist genau geregelt (u.a. in SGB V) - und im übrigen Gegenstand unzähliger Gerichtsverfahren. Im Zuge der Dauerberichterstattung zur Coronakrise ist immer wieder zu vernehmen, das deutsche Gesundheitssystem sei "kaputt gespart" worden, was sich nun bitter räche.
Das ist zwar eine zulässige Meinung, mit Blick auf die Kostenentwicklung jedoch eine reichlich wirre: jeden Tag fließt mehr als eine Milliarde Euro ins deutsche Gesundheitssystem. So oder so: Es gibt keine Pflicht "des Staates", alles Denkbare für die Gesundheit jedes einzelnen Bürgers zu tun.
Und es gibt für niemanden die Pflicht, Jesus gleich das Leid eines anderen auf sich zu nehmen, beispielsweise einem Kranken ein Organ zu spenden und dafür an seiner statt zu sterben, ja es ist bisher Konsens, dass die Organspende auch dann nicht erzwungen werden kann, wenn sowohl Geber als auch Nehmer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit überleben werden. Der Spendebedürftige muss eben sterben, wenn niemand freiwillig ein Organ zur Verfügung stellt.
Es gibt keine Verrechnung von noch zu erwartenden Lebensjahren (alter Zwangsspender, junger Empfänger), selbst die "Systemrelevanz" wird hier nicht angeführt - wir vertrauen wohl alle darauf, dass auch für die Lebenserhaltung oberster Repräsentanten unseres Staates kein Bürger sein Leben lassen muss (den Sonderfall Kriegsdienst mal ausgeblendet). Was banal klingt, ist für die Corona-Debatte äußerst wichtig.
3. Recht auf Risiko und Selbstgefährdung
Neben dem falschen Narrativ, dem Lebensschutz einzelner müssten sich alle andere mit ihren Interessen und Bedürfnissen unterordnen, ist die Corona-Politik von einer weiteren Behauptung geprägt, die zumindest in Demokratien unhaltbar ist: Dass nämlich der Staat ermächtigt sei, Bürger auch gegen ihr Einverständnis vor einer Gesundheitsgefahr zu schützen.
Dieser Paternalismus ist zwar weit verbreitet, wird jedoch wenigstens formal meist mit dem Schutz Dritter gerechtfertigt (so auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, es gebe "kein Recht auf Rausch").
Jeder hat das Recht auf Selbstgefährdung, Selbstschädigung und Selbsttötung. Das ist philosophisch wie juristisch eindeutig, zuletzt vom Bundesverfassungsgericht mit dem Recht auf Suizidbeihilfe bestätigt: " Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen."
Jeder andere Ansatz ist per definitionem totalitär (was allerdings immer eine beachtlich große Minderheit im Land attraktiv findet). Strittig ist nur, wie weit der paternalistische Trick gehen darf, jemandem die Möglichkeit zur freien Willensbildung abzusprechen und ihn deshalb zu entmündigen.
Gerade weil es so selbstverständlich ist, muss man sich wundern, wie wenig Empörung Politiker auslösen mit ihren Phantasien und Praktiken, Menschen gegen ihren Willen zu schützen, besonders offensichtlich bei allen Zwangsmaßnahmen für sog. Risikogruppen.
Denn für die "Schutzhaft", für den bevormundenden Freiheitsentzug zur Eindämmung der Pandemie, gibt es nur einen legitimen Grund, der auch ständig proklamiert wurde, als wir noch im Freiwilligkeitsmodus waren: Wer aus freier Entscheidung das Risiko einer Erkrankung eingeht, beansprucht im Fall einer Großschadenslage mutwillig Hilfsressourcen der Solidargemeinschaft, die damit ggf. denen nicht mehr zur Verfügung stehen, die sich nicht freiwillig dem Risiko der Infektion ausgesetzt haben.
Das war die Parole "flatten the curve". Es ging angeblich nicht darum, mit staatlicher Repression das freiwillige Eingehen von Gesundheitsrisiken in der Bevölkerung zu unterbinden, es ging darum, nicht an die Kapazitätsgrenze zu kommen. Dieser Ansatz ist völlig richtig, weil in der Abwägung von Freiheitsrechten zwingend: Meine eigene Entscheidungsfreiheit stößt immer dort an Grenzen, wo ich mit ihrer Ausübung die Entscheidungsfreiheit eines anderen beschränke.
Allerdings sind Zwangsmaßnahmen keineswegs die einzige mögliche Antwort der Gesellschaft auf eine leichtfertige Inanspruchnahme der Solidarität. Nur als Satire wurden Formulare verbreitet, mit denen der Unterzeichner im Falle einer COVID-19-Erkrankung auf jegliche medizinische Hilfe verzichten sollte, um sich fortan auf eigene Verantwortung potentiell selbstgefährdend zu verhalten. Dass solche Erklärungen bisher in keiner Situation möglich sind, wäre einmal an anderer Stelle zu diskutieren.
Ein Sonderfall sind natürlich diejenigen, die keine (freien) Entscheidungen für ihren eigenen Schutz treffen können, ihrer Situation also ausgeliefert sind. Die Möglichkeit, dass sich z.B. Alten- und Krankenpflegepersonal freiwillig in Quarantäne begibt, ist nie vernünftig diskutiert und erprobt worden.
Ein gesellschaftliches Verbot von Selbstgefährdung und -verletzung ist auch nicht mit den dadurch für die Gemeinschaft entstehenden Kosten zu begründen (womit immer wieder Einzelverbote oder Sanktionen begründet werden, etwa gegen das Rauchen).
Denn wenn solches Ansinnen nicht willkürlich sein soll (was es in einer Demokratie nicht sein darf), dann wäre das Resultat eine staatliche Komplettregulierung des Lebens, die zudem die gesellschaftlichen Gesamtkosten betrachten und folglich also auch zu langes Leben auf Kosten der Solidargemeinschaft (Rente) ahnden und Leistungen wie Ansprüche individuell berechnen müsste - eine hoffentlich absurde Vorstellung.