Wird Russland durch Sanktionen zum "schwarzen Loch" der Klimaforschung?
Telepolis exklusiv: Bundesregierung hält Ausnahmeregel im Klimabereich für "nicht zielführend". Sämtliche Forschungskooperationen mit Arktis-Anrainer Russland gestoppt. Bisher wurden gemeinsame Projekte mit hohen Summen gefördert.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nannte die Klimakrise beim Petersberger Dialog im Juli "das größte Sicherheitsproblem für alle Menschen auf dieser Erde". Klimaforschung muss sich in der deutschen Praxis allerdings der Politik unterordnen: So sind sämtliche deutschen Kooperationen mit dem größten Arktis-Anrainer Russland gestoppt, zeigt die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke , über die Telepolis hier exklusiv berichtet. Für den Linken-Politiker Andrej Hunko hat die Bundesregierung damit "das Kind mit dem Bade ausgeschüttet."
Eine Karte mit Nordpol-Perspektive gibt Orientierung: Fast die Hälfte der arktischen Küstenlinie ist "Russland". 65 Prozent von Russland gehören außerdem zur Permafrostzone. Das Auftauen von Permafrostböden ist bekanntlich einer der Kipppunkte, die den Klimawandel noch entscheidend vorantreiben können. Kein Wunder also, dass deutsche Klimaforscher in der Vergangenheit viele Projekte in Russland und gemeinsam mit russischen Institutionen betrieben – zum Beispiel eine Forschungsstation auf der Insel Samoilow im Lena-Delta oder den Messturm Zotto (Zotino Tall Tower Observatory) mitten in Sibirien.
In den vergangenen Jahren, so zeigt die Antwort auf die Kleine Anfrage, hat die Bundesregierung mit hohen Summen deutsche Projekte gefördert, die in Kooperation mit russischen Institutionen stattfanden: 2019 gingen 2,26 Millionen Euro "an inländische Zahlungsempfänger", 2020 waren es noch 2,06 Millionen Euro, 2021 1,8 Millionen Euro. Mit keinem anderen Partnerland gab es derart umfangreiche Arktisforschung.
Mehrere Projekte mit Russland endeten planmäßig Ende Dezember 2021, doch drei neue hätten im Sommer starten sollen. Daraus wurde nichts, aus bekannten Gründen: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die Kontakte abgebrochen. "Mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich Russland als Partner diskreditiert. Eine Zäsur in allen Bereichen der Zusammenarbeit ist deshalb auch in den Bereichen erforderlich, in denen bisher Interesse an Austausch bestand", heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage.
Messgeräte können nicht mehr ausgetauscht werden
Das betrifft auch die beiden Langzeitprojekte Zotto und Samoilow. Die Max-Planck-Gesellschaft (beteiligt an Zotto) habe keine Wartungsarbeiten durchgeführt und keine Messergebnisse abgerufen. Ohnehin sei geplant gewesen, den Turm Ende 2022 an Russland zu übergeben. Auf der Insel Samoilow (Projekt mit Beteiligung des Alfred-Wegener-Instituts) laufen noch vom AWI installierte Langzeitmessgeräte.
Diese konnten allerdings nicht mehr ausgetauscht werden, da mit Kriegsbeginn das Versenden von Expeditions- und Gerätefracht vom AWI gestoppt worden sei. Es seien keine Reisen von technischem und wissenschaftlichem Personal erfolgt. Das AWI sei an der laufenden Datenerhebung nicht mehr beteiligt.
Für die Linken-Fraktion geht das zu weit: "Das Beispiel der Arktis demonstriert uns deutlich, wie undifferenziert eine Sanktionspolitik wirken kann. Im konkreten Fall wird wissenschaftliche Kooperation mit einem der größten Arktisstaaten, Russland, geopfert", so Andrej Hunko, und fürchtet, Russland werde damit für den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel zum "schwarzen Loch".
An welchen Forschungsprojekten in der Arktis sind sonst noch deutsche Institutionen beteiligt? Das staatlich finanzierte Alfred-Wegener-Institut gibt auf seiner Website zwei "Forschungsorte" in der Arktis an: das pausierte Samoilow und die gemeinsam mit französischen Wissenschaftlern betriebene Forschungsstation in Ny Ålesund auf Spitzbergen.
Nach der Antwort auf die Kleine Anfrage gibt es außerdem ein Projekt mit Kanada, das 2022 mit 168.588 Euro gefördert wurde, sowie eins mit Dänemark (Grönland), Beteiligung 53.621 Euro, als Ersatz für ein geplatztes Permafrostprojekt in Russland. Eine mehrjährige Kooperation zum Thema arktischer Ozean gibt es mit Großbritannien (jährliche Summen 700.000 bis 200.000 Euro) und ein Projekt gab es mit China, das inzwischen abgeschlossen ist (2021 noch 32.000 Euro).
In der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken werden die in der EU beschlossenen Sanktionen zur Forschungszusammenarbeit zusammengefasst: Es gebe zwar kein grundsätzliches Verbot zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit im Klima- und Umweltbereich. Untersagt ist aber die direkte oder indirekte Unterstützung von russischen Einrichtungen, die sich zu mindestens 50 Prozent in öffentlicher Hand oder unter öffentlicher Kontrolle befinden.
Eine Ausnahmeregelung "erscheint aus Sicht der Bundesregierung vor diesem Hintergrund nicht zielführend". Damit werde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, so Hunko: "Der Wunsch der Bundesregierung, die russische Staatsführung durch Russlands Isolation zu bestrafen, unter anderem auch auf dem Gebiet der Forschung, scheint größer zu sein als der Wunsch, konsequent den Klimawandel zu bekämpfen." Die Linke fordert, dass die Zusammenarbeit mit Russland zum Klimawandel wieder aufgenommen wird.
Klimaforschung in der Arktis nach dem Angriff auf die Ukraine
Wird Russland durch die abgebrochenen Beziehungen nun tatsächlich zu einem schwarzen Loch der Klimaforschung, wie Hunko meint?
Dazu ein Beispiel: Ende Oktober sind Ergebnisse der Langzeit-Messreihe deutscher Forscher zum Methanausstoß von der Insel Samoilow im Fachjournal Nature Climate Change veröffentlicht worden. Darin ist unter anderem zu lesen, dass die Freisetzung des Gases Methan im Sommer dort seit 2004 um jährlich zwei Prozent zunimmt. Ursache ist (noch) nicht auftauender Boden, sondern es sind biochemische Prozesse in der Erde durch früheres und verändertes Pflanzenwachstum.
Die Pflanzen wiederum scheinen den Boden vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen. Denn obwohl die Luft wärmer wurde, blieb die Bodentemperatur bisher konstant. Das sind wichtige Erkenntnisse zu den konkreten Mechanismen. Wie es weitergeht, können die deutschen Forscher nun nicht mehr beobachten – und Ergebnisse russischer Forscher werden von westlichen Medien meist nicht mehr publiziert.
Der Arktische Rat war in seinem alten Format ein Zentrum wissenschaftlichen Austauschs über Blockgrenzen hinweg. Doch er sieht aktuell ziemlich tot aus. Die sieben westlichen Länder haben sich nach Russlands Angriff auf die Ukraine aus ihm zurückgezogen. Eigentlich sollte 2023 der Vorsitz von Russland an Norwegen übergeben werden, wie das vor sich gehen soll, ist noch völlig unklar.
Es gibt inzwischen Bestrebungen, Projekte weiterzubetreiben, die ohne Russland geplant waren und ohne Russland möglich sind. Laut der Antwort auf die Kleine Anfrage ist Deutschland als Beobachter des Arktischen Rates darin eingebunden, über diese Schiene lief das Ersatzprojekt mit Dänemark.
"Was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis"
Aber, wie der Blick auf die Karte zeigt: Es ist eben nur die halbe Arktis, die dort repräsentiert ist. Und es fehlen die Foren, um Erkenntnisse über die Blockgrenzen hinweg auszutauschen. Die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis werden sich aber nicht an die Blockgrenzen halten. Und: "Was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis" ist auch keine neue Erkenntnis.
Die Arktis wird nicht in Vergessenheit geraten, im Gegenteil: Sie ist für militärische Aktivitäten interessanter als je zuvor, für alle Seiten. Nur fördert das eben nicht den Austausch von Wissen über Blockgrenzen hinweg. Mit dem Nato-Beitritt von Schweden und Finnland werden diese Blockgrenzen härter zementiert sein als zuvor. Ob und in welcher Form der Arktische Rat jemals wieder auferstehen kann, lässt sich aktuell nicht sagen.
Klimaforschung ist natürlich nur der erste Schritt, um dieses "größte Sicherheitsproblem für alle Menschen auf dieser Erde" anzugehen. Ein schnellstmöglicher Waffenstillstand in der Ukraine wäre aktuell vermutlich eine der wirkungsvollsten Klimaschutzmaßnahmen überhaupt.