Wird das "Estonia"-Unglück nun endlich aufgeklärt?

Geflutetes Rettungsboot nach der "Estonia"-Katastrophe 1994. Bild: Accident Investigation Board Finland, Public Domain

Regierung von Schweden will einen weiteren Tauchgang zur 1994 gesunkenen Personenfähre prinzipiell ermöglichen

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Fast zwei Jahrzehnte nach dem verheerenden Untergang der Personenfähre "Estonia" scheinen die schwedischen Behörden ihre Blockade gegen eine Untersuchung aufzugeben. "Wir müssen äußere Untersuchungen des Schiffskörpers durchführen, der Schäden so wie der zwei Löcher", so John Ahlberk, der Generaldirektor der staatlichen Unfallkommission am Freitag in Stockholm. Innenminister Mikael Damberg versprach, dass das Gesetz zur Wahrung der Totenruhe aufgehoben werde. Bislang drohten schwedischen Staatsbürgern Gefängnisstrafen, wenn sie sich dem Wrack näherten.

Doch nun ist der öffentliche Druck auf die rot-grüne Minderheitsregierung in Stockholm zu groß geworden. Schweden will bei der Untersuchung mit Estland und Finnland zusammenarbeiten.

Der Untergang der "Estonia" markiert die größte Katastrophe der zivilen Schifffahrt in Europa nach 1945. Die Fähre unter estnischer Flagge war am 28. September 1994 in einer stürmischen Nacht innerhalb von einer halben Stunde auf ihrer Route von Tallin nach Stockholm gesunken.

Dabei starben 852 Personen, da viele es gar nicht schafften, dass Schiff zu verlassen. Andere ertranken in dem 13 Grad kalten Wasser, nur 137 Personen überlebten. Die meisten Passagiere waren schwedische Staatsbürger.

Anlass für einen kommenden Tauchgang, der 2021 stattfinden soll, gab der Dokumentarfilm "Estonia. Der Fund, der alles verändert" von des Senders "Discovery", der Ende September in Schweden ausgestrahlt wurde. In dem Streifen zeigen Unterwasseraufnahmen einen vier Meter und rund einen Meter breiten Riss, der nach Ansicht eines norwegischen Marine-Experten vom Rammstoß eines U-Bootes stammen könnte.

Später berichteten die Filmemacher von einem weiteren Loch, das nicht gezeigt wurde. Die Löcher sollen durch die abgerissene Bugklappe entstanden sein, vermeldete im November ein finnisches Mitglied der Untersuchungskommission aus den 1990er Jahren..

Auf der anderen Seite behauptete Margus Kurm, der Vorsitzende der estnischen Untersuchungskommission 2004 bis 2009, dass die Bugklappe beim Sinken nicht abgebrochen sei, sondern schon von den Rändern in die Vorderseite eingedrückt worden sei.

Die Öffnungen in der Schiffswand wurden bei der offiziellen Untersuchung unter Wasser in den 1990er Jahren jedenfalls nicht bemerkt oder bekannt gemacht. Daher bezeichnet der 1997 publizierte Untersuchungsbericht von Schweden, Estland und Finnland die zu schwach befestigte Bugklappe als Hauptgrund für die Katastrophe. Die Klappe sei abgebrochen und Wasser sei in das Schiffsinnere gelangt.

Dem schwedischen Staat, der die meisten Opfer zu beklagen hat, wurde von Wissenschaftlern wie Hinterbliebenen vorgeworfen, bislang wenig an einer Aufklärung interessiert gewesen zu sein. Ursprünglich sollte sogar ein Betonsarkophag um das Schiff gelegt werden. Diese Pläne, die jede weitere Untersuchung verhindert hätten, wurden durch Proteste gestoppt.

In den Nullerjahren gaben schwedische Behörden erstmals zu, dass es in den neunziger Jahren Waffentransporte mit zivilen Wasserfahrzeugen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland nach Schweden gegeben hatte. Dies räumte auch Trivimi Velliste ein, zur Zeit der Katastrophe Außenminister Estlands. Auch der damalige Premierminister Mart Laar soll in die Deals involviert gewesen sein.

Zur Estonia gab es neben dem Waffenhandel auch die Theorie eines Heroin-Deals sowie Geheimdienst- und Mafia-Verstrickungen. Die damalige Spiegel-Journalistin Jutta Rabe geht von Explosionen aus, die das Schiff zum Sinken gebracht haben.

Bereits im November hat Schwedens Verteidigungsminister Peter Hultqvist zugesagt, bislang geheime Dokumente zur Estonia-Katastrophe offen zu legen. Diese würden den möglichen Transport von militärischem Gerät aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland betreffen.

Die estnische Regierung drängte schon seit längerem auf weitere Aufklärung und hatte bereits am ersten Oktober dieses Jahres einer neuen Untersuchung zugestimmt. Zugleich schlug die dortige Regierung Schweden und Finnland ein gemeinsames Vorgehen vor.

Dabei sollte die Untersuchung "unabhängig, transparent, glaubwürdig und mit den Angehörigen abgesprochen sein", hiße es aus Estland. Das baltische Land beansprucht, da die Fähre unter estnischer Flagge gefahren war, die Leitung der Untersuchung. Diese Forderung könnte als Ausdruck eines gewissen Misstrauens gegenüber Schweden gedeutet werden.

Nach jüngsten Umfragen verlangen zwei Drittel sowohl der Esten wie auch der Schweden eine weitere Untersuchung des Wracks auf dem Ostseeboden.

Bei der Untersuchung wollen Schwedens, Estlands und Finnlands Unfallskommissionen zusammenarbeiten, auch die Bergung von Schiffsteilen seien nicht ausgeschlossen.

"Die moderne Technik bietet heutzutage größere Möglichkeiten, als im Jahr 1994. Neue Tauchgänge sind eine Voraussetzung, dass wir weiterkommen", so Jonas Bäckstrand von der Staatliche Unfallkommission.

Die Christdemokraten fordern zudem, dass die Überlebenden befragt werden. Bei der ersten Untersuchung sind solche Befragungen nach deren Angaben offenbar ausgeblieben.

Kent Härstedt und andere Überlebenden würden "seit 26 Jahren an die Tür der schwedischen Unfallkommission klopfen, doch keine Antwort erhalten", so die Zeitung Expressen. Härstedt und andere wollen nun ihre Beobachtungen in die Untersuchung einfließen lassen. Die Partei der Schwedendemokraten verlangen eine Untersuchung der Überlebenden.

Doch nicht überall herrscht Enthusiasmus. Dass die "Estonia"-Dokumentation einen Journalistenpreis bekam, löste Protest bei zehn selbst preisbekrönten Medienschaffenden aus, die "Verschwörungstheorien" belohnt sahen.