Wird der Ukraine-Krieg der EU zum Verhängnis?

Seite 2: Skelette im Flussbett des Dnjepr sollten nachdenklich stimmen

Die nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im ausgetrockneten Flussbett des Dnjepr gefundenen sterblichen Überreste deutscher Wehrmachtssoldaten sind Zeugnisse dieser schrecklichen kriegerischen Auseinandersetzungen in diesem Gebiet einst und heute. Die EU hätte sich besser bemühen sollen, die Fehler der deutschen Kaiser- und Nazi-Reiches zu vermeiden.

Damals wie heute hatte jede Seite sich die inneren Spaltungen unter der dortigen Bevölkerung zunutze gemacht. Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 zeugten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen regelmäßig von der tiefen Spaltung des Landes in zwei etwa gleich große proukrainische und prorussische Bevölkerungsteile, eine Spaltung, die auch das Land geographisch zwischen der West- und Zentralukraine einerseits und der Ost- und Südukraine anderseits teilt.

Bei den letzten gesamtukrainischen Wahlen 2010 und 2012, an der noch die Krim und der Donbass teilnahmen, gab es sogar eine knappe Mehrheit für einen prorussischen Präsidenten und prorussische Parlamentsabgeordnete.

Wäre es der EU wirklich um den Erhalt und Stärkung der Ukraine gegangen, hätte sie den Zusammenhalt und das Harmoniebestreben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen unterstützen müssen. Die EU hätte die Fortsetzung des Projekts einer binationalen und föderalen Ukraine, wie es 1991 proklamiert wurde, mit aller Kraft fördern sollen.

Sie hat das Gegenteil getan und sich auf die Seite einer von einem monoethnisch ukrainischen Nationalismus geprägten Politik gestellt. Bei den Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU im Jahr 2013, stellte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Ukraine vor die Alternative, sich entweder der EU anzunähern und mit Russland zu brechen oder auf jede enge Kooperation mit der EU zu verzichten.

Beides, so argumentierte er, ließe sich nicht vereinbaren. Warum eigentlich nicht? Eine Brückenfunktion zwischen Russland und Zentralasien einerseits und der EU anderseits wäre von großem politischem und wirtschaftlichem Vorteil für die Ukraine wie auch der EU gewesen. So wurde aber die spaltende Haltung der EU zum Auslöser des gewaltsamen Sturzes eines gewählten Präsenten, was eine Entwicklung in Gang setzte, die letztlich zum Krieg führte.

Unter ständigen Beteuerungen der Ukraine helfen zu wollen, trägt die EU nun dazu bei, dieses europäische Land zu zerstören. Die von der EU gelieferten Waffen verlängern nicht nur den Krieg, sondern führen ebenso wie russische Waffen zu Tod und Zerstörung auf ukrainischem Territorium bei.

Heute dürfte die Ukraine nicht nur das am gründlichsten zerstörte, sondern auch das politisch am tiefsten gespaltene Land Europas sein. Nach anderthalb Jahren Krieg ist die Ukraine, die schon vor dem Krieg das ärmste Land Europas war, noch tiefer in die Armut und Verschuldung getrieben und zugleich zum am höchsten militarisierte Land Europas geworden.

Die ukrainische Wirtschaft ist am Boden und ist von Korruption geplagt. Hinzu kommt, dass die Ukraine das Land in Europa mit einer am stärksten schrumpfenden Bevölkerung ist. Die Ukraine könnte nun bis zu 20 Prozent ihres Territoriums sowie den freien Zugang zum Asowschen und Schwarzen Meer verlieren. Wie kann unter solchen Bedingungen die Ukraine als Staat überleben?

Die EU trägt nicht nur eine Mitverantwortung an der sukzessiven Zerstörung der Ukraine. Sie verfolgt zudem auch eine geradezu selbst-zerstörerische Außenpolitik, die dazu führen wird, dass die EU über viele Jahre, vielleicht sogar über Jahrzehnte hinweg den Zugang zu den wirtschaftlich attraktiven Rohstoffen und Energiequellen Russlands und Zentralasiens verliert und vom Landzugang zu den großen Wachstumsregionen Asiens abschnitten wird.

Die EU amputiert sich also selbst. Um sich von einer Abhängigkeit zu befreien, scheint die EU nun in eine viel teurere und ungünstigere Abhängigkeit geraten zu sein. Das wird sich nachteilig auf den EU-Wirtschaftsstandort auswirken.

Auch mit ihrer Sanktionspolitik scheint die EU die globalen Veränderungen zu ignorieren. Der Anteil der EU an der Weltbevölkerung liegt unter fünf Prozent und ist abnehmend. Auch der EU-Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung beträgt heute nur noch 15 Prozent, Tendenz ebenfalls abnehmend. Der Anteil der BRICS-Staaten allein an der Weltbevölkerung liegt bei 40 Prozent und steigt, der an der globalen Wirtschaftsleistung bei 32 Prozent und auch dieser wächst.

Und nicht nur das; im Zuge des Ukraine-Krieges haben die Staaten des Globalen Südens eine erheblich selbstbewusstere Haltung eingenommen, die die Vormachtstellung des Westens, und damit auch der EU, in Frage stellt. Dass heute China, Indien, Indonesien und andere asiatische Staaten in der Ukraine-Frage zusammenrücken, ist nicht, weil sie sich plötzlich lieben, sondern weil sie eine Ausweitung der Nato in Richtung Zentralasien verhindern wollen.

Unberührt von den globalen Veränderungen, schnürt die EU-Kommission gerade ihr elftes Sanktionspaket und will nun auch Drittländer und deren Unternehmen dafür bestrafen, mit Russland Handelsbeziehungen zu haben. Und als sei das nicht genug, glaubt die EU auch China ins Visier nehmen zu können. Welche Arroganz!

Denn die EU hat längst die politische und wirtschaftliche Macht verloren, um solche wirtschaftlichen Drohungen auch durchsetzen zu können. Die Sanktionen werden daher vornehmlich die eigene Wirtschaft treffen.

Die USA dürften sich bald vom Ukraine-Abenteuer verabschieden

Der nächste Präsident der USA muss nicht unbedingt Trump heißen, aber wir können davon ausgehen, dass die USA, wie bei so vielen anderen Kriegen, in die sie mutwillig verwickelt waren, sich spätestens nach der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr vom teuren Ukraine-Abenteuer verabschieden werden.

Dann wird die Europäische Union die ganze Wucht ihrer fehlgeleiteten Außenpolitik treffen. Die EU wird dann Teil eines Europas sein, das erneut durch einen Eisernen Vorhang geteilt ist, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht und durch Sanktionen undurchlässiger sein könnte als alles, was wir noch aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen.

Die EU wird auf diesen Kontinent mit einer zerstörten Ukraine, die ein enormes langfristiges Finanzloch darstellt, und vielleicht auch mit einem destabilisierten Russland, das durch seine 6,000 Nuklearsprengköpfe eine permanente Gefahr bedeutet, zusammenleben müssen.

Während die Wirtschaft der EU-Staaten von diesen Veränderungen schwer angeschlagen sein könnte, wird es die EU sein, die für die enormen Folgekosten dieses Krieges aufkommen muss. Das wird zu sozialen Problemen innerhalb von EU-Mitgliedsstaaten führen, die sich erhöht in politische und soziale Gewalt entladen können.

Und das alles nur, weil wir unbedingt die Nato ausweiten und eine neutrale Ukraine nicht akzeptieren wollten? Ist das nicht ein zu hoher Preis – und dazu ein Preis für einen Konflikt, der auch friedlich hätte gelöst werden können?

Um eine derartige Entwicklung zu verhindern, muss die Europäische Union aus einem ureigensten Selbstinteresse heraus, ihr bisheriges selbstgerechtes und moralisch überhebliches Kriegsnarrative abgelegen, sich von der Militarisierung ihrer Außenpolitik verabschieden und aufhören, in einer Nato-Erweiterung ihre Sicherheit finden zu wollen.

Die Europäische Union muss zu einer Sprache des Friedens zurückfinden und einen Friedensplan für Europa entwickelt, der Russland und Ukraine mit einschließt, und an der Charta von Paris für ein neues Europa anknüpft.

Damit würde sie nicht nur ein weiteres Blutvergießen in Europa verhindern, der Gefahr der inneren Auflösung der Europäischen Gemeinschaft vorbeugen und ihren wirtschaftlichen Niedergang vermeiden, sondern auch ihre Stellung in der Welt als europäisches Friedensprojekt, als das es nach dem Zweiten Weltkrieg einmal konzipiert war, enorm verbessern. Dazu wird sie Mut brauchen – Frieden braucht sehr viel Mut!

Michael von der Schulenburg, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen, arbeitete über 34 Jahre für die UNO und die OSZE. Dazu gehörten langfristige Einsätze in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, auf dem Balkan, in Somalia, in der Sahelzone und in Zentralasien. 2017 veröffentlichte er das Buch "On Building Peace: Rescuing the Nation-state and Saving the United Nations".