Wird der Waffenstillstand in der Ostukraine halten?
Die Kämpfe sind erst einmal unterbrochen, jetzt müssen schwierige Fragen gelöst werden, die in der auch vom Westen betriebenen Eskalationsstrategie nicht angegangen wurden
Die Verhandlungen der trilateralen Kontaktgruppe in Minsk am gestrigen Nachmittag unter der Leitung von Heidi Tagliavini von der OSZE waren erst einmal erfolgreich. Der bereits zuvor zwischen Putin und Poroschenko weitestgehend ausgehandelte Waffenstillstand trat gestern Abend um 18 Uhr in Kraft, nachdem ein entsprechendes Protokoll unterzeichnet worden war. Unklar bleibt bislang, welche Angebote Moskau, Kiew und die Separatisten gemacht haben, um einen Kompromiss zu ermöglichen, auch wenn dieser noch höchst brüchig ist und jederzeit wieder einbrechen könnte. Allerdings ist nun der Einsatz für denjenigen hoch, der nachgewiesen den Waffenstillstand bricht, sobald die OSZE-Beobachter vor Ort sind. Das gegenseitige Misstrauen ist jedenfalls groß und auf jeder Seite gibt es Fraktionen, die eine diplomatische Lösung des Kriegs in der Ostukraine ablehnen. Sollte es eine friedliche Lösung unter Beteiligung Russlands geben, würden Nato, US-Regierung und die Scharfmacher in der EU düpiert dastehen, die, wie gestern demonstriert, unbeirrt am Eskalationskurs festhalten wollen.
Die Einzelheiten des Waffenstillstands mit einem 12-Punkte-Programm müssen erst noch ausgearbeitet werden. Offensichtlich hat man sich auf den Abzug schwerer Waffen, den Austausch von Gefangenen ("Alle gegen Alle") und die Leistung von humanitärer Hilfe geeinigt. Nach dem ukrainischen Ex-Präsidenten Kuchma, der für Kiew die Verhandlungen führte, sind bereits Listen mit Gefangenen ausgetauscht worden, heute soll bereits mit dem Austausch von Gefangenen begonnen werden. Ab Montag soll eine "Arbeitsgruppe" mit Vertretern beider Seiten das Abkommen festmachen und alle anfallenden Probleme lösen.
Igor Plotnitsky, der der "Volksrepublik Lugansk" vorsteht, erklärte, dass man während der Verhandlungen erkannt habe, dass sich auf beiden Seiten Menschen befinden. Um das Leiden zu beenden, sei es möglich, mit Kiew zu verhandeln, ungeklärt sei aber noch der Status von Donezk und Lugansk. Man strebe weiterhin die Unabhängigkeit an. Sowohl Putin als auch Poroschenko haben sich für die Integrität der Ukraine und einer Föderalisierung bzw. Dezentralisierung ausgesprochen. Zu klären wird sein, ob sich hier mit den Separatisten, unter denen Kräfte weiterhin eine Unabhängigkeit anstreben werden, ein Kompromiss finden lässt.
Pavel Gubarev, der erste "Volksgouverneur" der "Volksrepublik Donezk", fordert allerdings, dass in der Ostukraine, einschließlich Mariupol, eine Volksabstimmung stattfinden müsse, in der die Menschen über die Unabhängigkeit entscheiden können. "Neurussland" meldet jedenfalls, dass die Sepratisten das Protokoll zum Waffenstillstand ab 18 Uhr am Freitag unterzeichnet haben.
Die bewaffneten Kräfte haben sich nicht zurückgezogen, angeblich kamen, wie der Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat (NSDC), dem man allerdings nur bedingt Glauben schenken kann, noch am Nachmittag berichtete, weiterhin Militäreinheiten in die Ukraine. Aus "Geheimdienstquellen" gehe hervor, so meldete der NSDC ebenfalls gestern, dass 2000 russische Soldaten in der Ostukraine getötet worden seien. Trotz der Verhandlungen spricht man im NSDC weiterhin von "Terroristen", was eine geringe Bereitschaft zur Deeskalation erkennen lässt. Rechtsnationalistische Kräfte wie die Swoboda-Partei fordern die Einführung des Kriegsrechts.
Zwist im ukrainischen Regierungslager
Poroschenko hatte mitgeteilt, er habe den Waffenstillstand im Vertrauen auf Putins Aufforderung an die Separatisten angeordnet, den Waffenstillstand und die Vereinbarungen wie den Gefangenenaustausch einzuhalten. Der Präsident bezeichnet die Separatisten nun schon, womit er ein deutliches Zeichen setzt, nicht mehr als Terroristen, sondern "illegal bewaffnete Gruppen". Alle würden nach Frieden verlangen, auch die Menschen im Donbass. Er verspricht wie schon in seinem Friedensplan eine Dezentralisierung der Ukraine, neu könnte ein wirtschaftlicher Sonderstatus für Donezk und Lugansk sein, der möglicherweise eine größere Nähe zu Russland ermöglicht.
Poroschenko scheint im Gegensatz zu dem von der US-Regierung gestützten Regierungschef Jazenjuk zu stehen, den er möglicherweise auf Druck der US-Regierung im Amt gelassen hatte. Der hatte sich am Donnerstag noch mit dem republikanischen Senator John McCain getroffen, der von Anfang an die Maidan-Bewegung gegen Russland unterstützt hatte. Jazenjuk hatte noch von Putins "so genannten" Friedensplan gesprochen, der nur die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit ablenken und die Beteiligung von russischen Truppen verdecken wollte.
Nachdem der Waffenstillstand aber doch vereinbart wurde, erklärte er gestern, wohl auch im Blick auf die rechtsnationalistischen Kräfte, dass ein Friedensplan nur nach den Vorgaben von Kiew gemacht werden dürfe, die von den USA und der EU unterstützt werden sollen. Anders als Poroschenko setzt Jazenjuk weiter verbal auf Provokation. Frieden dürfe es nicht um jeden Preis geben, die Ukraine verlange drei entscheidende Punkte: "Der erste ist Waffenstillstand, der zweite der Abzug der russischen Armee, der russischen Banditen und Terroristen. Und der dritte ist die Wiederherstellung der Grenzkontrolle." Dazu gehört für ihn der Bau einer Grenzmauer, was er schon in den letzten Tagen vorgeschlagen hatte. Das sei nicht nur für die Sicherheit der Ukraine, sondern auch für die der EU wichtig. Er hofft auf ausländische Gelder für das Projekt, das er auch als Förderung von Arbeitsplätzen und der heimischen Wirtschaft verstanden wissen will.
Der "Westen" weiter aus Eskaltionskurs?
Trotz der weiterhin geübten kritiklosen Unterstützung der ukrainischen Regierung war für Kiew ebenso wie für Russland das Waffenstillstandsabkommen ein wichtiger Schritt. Russland leidet nicht nur unter den Sanktionen, es bestand auch die Gefahr, jeden Einfluss in der Ostukraine zu verlieren und in ein Wettrüsten zurückzufallen. Nachdem die Separatisten, wohl mit direkter oder indirekter Unterstützung Russlands, in den letzten Tagen ukrainische Streitkräfte zurücktreiben und einkesseln konnten, sowie versuchten, auch einen Korridor zur Hafenstadt Mariupol zu eröffnen, ist ein Waffenstillstand für Kiew eine Reißlinie, nicht doch größere Teile der Ostukraine ganz oder in einem gefrorenen Konflikt zu verlieren. Zudem sind viele Menschen in der Ostukraine kriegsmüde, zumal die Verschuldung des bankrotten Lands mit dem Krieg weiter anwächst. Eine weitere Zerstörung der Infrastruktur der Ostukraine kommt auch dem ganzen Land zunehmend teuer. Zudem ist zwar Poroschenko vom Volk gewählt worden, aber Parlament und Regierung sind umstritten. Eine Wahl ist dringend notwendig, Poroschenko will sie im Oktober durchführen. Im Krieg wird dies aber kaum möglich sein und für die notwendige Legitimation sorgen.
Ohne eine diplomatische Lösung mit der Bevölkerung in der Ostukraine würde auch bei einem militärischen Sieg, der in den letzten Tagen in weite Ferne gerückt war, keine Ruhe einkehren, sondern womöglich ein Guerilla- oder Terrorkrieg beginnen. Die große Frage wird überdies sein, wie Kiew die zahlreichen rechtsnationalistischen Milizen kontrollieren will, die man in der Verzweiflung über die mangelnde Kampfkraft der Armee gegen die Separatisten aufgestellt hat oder gewähren ließ.
Nato, EU und vor allem die USA setzen weiter auf Eskalation. Man will weitere Sanktionen beschließen, was Russland leisten soll, um das Spiel zu unterbrechen, bleibt im Ungefähren. US-Präsident Obama will jedenfalls das Waffenstillstandsabkommen als Erfolg der Sanktionspolitik sehen, was aber wiederum eine sehr einseitige, wenn auch mittlerweile gewohnte Sichtweise ist. Das erhält auch die notwendige Stimmung für das von der US-Regierung anvisierte Ziel, dass die Nato-Mitgliedsländer die Rüstungsausgaben erhöhen und mehr militärische Aufgaben übernehmen sollen. Man darf freilich gespannt sein, welche europäischen Staaten den nicht neuen Forderungen wirklich nachkommen werden. Containment von Russland ist zwar ein Ziel, was auch über die Ukraine erreicht werden soll, es geht aber eigentlich gar nicht wirklich um die Ukraine, sondern um eine Entlastung der USA als militärische Supermacht, die auch sparen muss und sich mehr auf Asien konzentrieren will. Europa, Afrika und der Nahe Osten sollen mehr in die Regie der aber weiterhin von der US-Regierung gelenkten Nato rücken.